The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
#4 in our series by Johanna Spyri

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Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre

Author: Johanna Spyri

Release Date: February, 2005 [EBook #7511]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on May 12, 2003]

Edition: 10

Language: German

Character set encoding: ASCII

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***




Produced by Gunther Olesch





This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - DE"
(http://www.gutenberg2000.de/spyri/heidi/heidi.htm), prepared by Gerd
Bouillon.




Johanna Spyri

Heidis Lehr- und Wanderjahre




Inhalt

Zum Alm-Oehi hinauf

Beim Grossvater

Auf der Weide

Bei der Grossmutter

Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat

Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge

Fraeulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag

Im Hause Sesemann geht's unruhig zu

Der Hausherr hoert allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehoert
hat

Eine Grossmama

Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

Im Hause Sesemann spukt's

Am Sommerabend die Alm hinan

Am Sonntag, wenn's laeutet



Zum Alm-Oehi hinauf

Vom freundlichen Dorfe Maienfeld fuehrt ein Fussweg durch gruene,
baumreiche Fluren bis zum Fusse der Hoehen, die von dieser Seite gross
und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fussweg anfaengt,
beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kraeftigen
Bergkraeutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fussweg geht
steil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein
grosses, kraeftig aussehendes Maedchen dieses Berglandes hinan, ein
Kind an der Hand fuehrend, dessen Wangen so gluehend waren, dass sie
selbst die sonnverbrannte, voellig braune Haut des Kindes flammend
rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der
heissen Junisonne so verpackt, als haette es sich eines bitteren
Frostes zu erwehren. Das kleine Maedchen mochte kaum fuenf Jahre
zaehlen; was aber seine natuerliche Gestalt war, konnte man nicht
ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider
uebereinander angezogen und drueberhin ein grosses, rotes Baumwolltuch
um und um gebunden, so dass die kleine Person eine voellig formlose
Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Naegeln beschlagene
Bergschuhe gesteckt, sich heiss und muehsam den Berg hinaufarbeitete.
Eine Stunde vom Tal aufwaerts mochten die beiden gestiegen sein, als
sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Hoehe der Alm liegt und 'im
Doerfli' heisst. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus
angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Haustuer und einmal
vom Wege her, denn das Maedchen war in seinem Heimatort angelangt. Es
machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Gruesse
und Fragen im Vorbeigehen, ohne still zu stehen, bis es am Ende des
Weilers bei dem letzten der zerstreuten Haeuschen angelangt war. Hier
rief es aus einer Tuer: "Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit,
wenn du weiter hinaufgehst."

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand
los und setzte sich auf den Boden.

"Bist du muede, Heidi?", fragte die Begleiterin.

"Nein, es ist mir heiss", entgegnete das Kind.

"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
anstrengen und grosse Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
oben", ermunterte die Gefaehrtin.

Jetzt trat eine breite gutmuetig aussehende Frau aus der Tuer und
gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte
nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes
Gespraech gerieten ueber allerlei Bewohner des 'Doerfli' und vieler
umherliegender Behausungen.

"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte jetzt
die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das
hinterlassene."

"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Oehi, es
muss dort bleiben."

"Was, beim Alm-Oehi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird
dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"

"Das kann er nicht, er ist der Grossvater, er muss etwas tun, ich habe
das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel,
dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten
lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Grossvater das Seinige
tun."

"Ja, wenn der waere wie andere Leute, dann schon", bestaetigte die
kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit einem
Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das haelt's nicht aus
bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"

"Nach Frankfurt", erklaerte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich
habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon
damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen,
und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will
auch gehen, da kannst du sicher sein."

"Ich moechte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
Gebaerde aus. "Es weiss ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist!
Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt
er keinen Fuss in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock
im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich
vor ihm fuerchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem
furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer,
dass man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet."

"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Grossvater und muss
fuer das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
verantworten, nicht ich."

"Ich moechte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der
Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
blicken laesst. Man sagt allerhand von ihm; du weisst doch gewiss auch
etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"

"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hoerte, so kaeme ich schoen
an!"

Aber die Barbel haette schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
Alm-Oehi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
redeten, als fuerchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch
nicht fuer ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte
von allen Leuten im Doerfli der Alm-Oehi genannt wurde, er konnte doch
nicht der wirkliche Oheim von den saemtlichen Bewohnern sein; da aber
alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders
als Oehi, was die Aussprache der Gegend fuer Oheim ist. Die Barbel
hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Doerfli hinauf verheiratet,
vorher hatte sie unten im Praettigau gewohnt, und so war sie
noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen
Persoenlichkeiten aller Zeiten vom Doerfli und der Umgegend. Die Dete,
ihre gute Bekannte, war dagegen vom Doerfli gebuertig und hatte da
gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese gestorben,
und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinuebergezogen, wo sie im
grossen Hotel als Zimmermaedchen einen guten Verdienst fand. Sie
war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis
Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren koennen, auf dem ein
Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. - Die Barbel
wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht
unbenutzt vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm
und sagte: "Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was
die Leute darueber hinaus sagen; du weisst, denk ich, die ganze
Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der
immer so gefuerchtet und ein solcher Menschenhasser war."

"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht praezis wissen, ich bin
jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab ich ihn
nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich
aber wuesste, dass es nachher nicht im ganzen Praettigau herumkaeme,
so koennte ich dir schon allerhand erzaehlen von ihm; meine Mutter war
aus dem Domleschg und er auch."

"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
zurueck; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Praettigau,
und dann kann ich schon etwas fuer mich behalten, wenn es sein muss.
Erzaehl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."

"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah sie
sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhoere, was sie
sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon
seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein,
diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete
stand still und schaute sich ueberall um. Der Fussweg machte einige
Kruemmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Doerfli hinunter
uebersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.

"Jetzt seh ich's", erklaerte die Barbel; "siehst du dort?", und
sie wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
Abhaenge hinauf mit dem Geissenpeter und seinen Geissen. Warum der
heut so spaet hinauffaehrt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser
erzaehlen."

"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm fuer seine fuenf Jahre, es tut
seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an
ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar nichts
mehr als seine zwei Geissen und die Almhuette."

"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.

"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat", entgegnete
eifrig die Dete; "eins der schoensten Bauerngueter im Domleschg hat er
gehabt. Er war der aeltere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der
war still und ordentlich. Aber der Aeltere wollte nichts tun, als den
Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit boesem Volk zu tun
haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und
verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter
hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch
am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weiss kein
Mensch wohin, und der Oehi selber, als er nichts mehr hatte als einen
boesen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann
vernahm man, er sei unter das Militaer gegangen nach Neapel, und dann
hoerte man nichts mehr von ihm zwoelf oder fuenfzehn Jahre lang. Dann
auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen
Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen.
Aber es schlossen sich alle Tueren vor ihm, und keiner wollte mehr
etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg
setze er keinen Fuss mehr, und dann kam er hierher ins Doerfli und
lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine Buendnerin gewesen sein,
die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
musste noch etwas Geld haben, denn er liess den Buben, den Tobias, ein
Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch
und wohlgelitten bei allen Leuten im Doerfli. Aber dem Alten traute
keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es waere ihm
sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, natuerlich
nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten
aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Grossmutter mit seiner
Grossmutter Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Oehi, und
da wir fast mit allen Leuten im Doerfli wieder verwandt sind vom Vater
her, so nannten ihn diese alle auch Oehi, und seit er dann auf die Alm
hinaufgezogen war, hiess er eben nur noch der 'Alm-Oehi'."

"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt die
Barbel.

"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
erklaerte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draussen in Mels,
und sowie er fertig war, kam er heim ins Doerfli und nahm meine
Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher,
wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und
schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte,
da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber
und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kraeftig
und hatte manchmal so eigene Zustaende gehabt, dass man nicht recht
wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem
der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle
Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise
und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Oehi verdient habe
fuer sein gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt und auch der
Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Busse tun,
aber er wurde nur immer grimmiger und verstockter und redete mit
niemandem mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hiess
es, der Oehi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr
herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im
Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter
und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter
starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit
und gab es der alten Ursel oben im Pfaefferserdorf in die Kost. Ich
konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
ich zu naehen und flicken verstehe, und frueh im Fruehling kam die
Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
und die mich mitnehmen will; uebermorgen reisen wir ab, und der Dienst
ist gut, das kann ich dir sagen."

"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind uebergeben? Es nimmt
mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel vorwurfsvoll.

"Was meinst du denn?", gab Dete zurueck. "Ich habe das Meinige an dem
Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich
kann eines, das erst fuenf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt
nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon
halbwegs auf der Alm?"

"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel; "ich
habe mit der Geissenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb
wohl, Dete, mit Glueck!"

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, waehrend diese
der kleinen, dunkelbraunen Almhuette zuging, die einige Schritte
seitwaerts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind
ziemlich geschuetzt war. Die Huette stand auf der halben Hoehe
der Alm, vom Doerfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen
Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so baufaellig und
verfallen aus, dass es auch so noch ein gefaehrliches Darinwohnen sein
musste, wenn der Foehnwind so maechtig ueber die Berge strich, dass
alles an der Huette klapperte, Tueren und Fenster, und alle die
morschen Balken zitterten und krachten. Haette die Huette an solchen
Tagen oben auf der Alm gestanden, sie waere unverzueglich ins Tal
hinabgeweht worden.

Hier wohnte der Geissenpeter, der elfjaehrige Bube, der jeden
Morgen unten im Doerfli die Geissen holte, um sie hoch auf die Alm
hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kraeftigen Kraeuter fressen zu
lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfuessigen
Tierchen wieder herunter, tat, im Doerfli angekommen, einen schrillen
Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiss auf dem
Platz. Meistens kamen kleine Buben und Maedchen, denn die friedlichen
Geissen waren nicht zu fuerchten, und das war denn den ganzen Sommer
durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen
verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geissen. Er hatte zwar daheim
seine Mutter und die blinde Grossmutter; aber da er immer am Morgen
sehr frueh fortmusste und am Abend vom Doerfli spaet heimkam, weil er
sich da noch so lange als moeglich mit den Kindern unterhalten musste,
so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine
Milch und Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann
sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon
der Geissenpeter genannt worden war, weil er in frueheren Jahren
in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim
Holzfaellen verunglueckt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hiess, wurde
von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geissenpeterin genannt,
und die blinde Grossmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur
unter dem Namen Grossmutter.

Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten
umgesehen, ob die Kinder mit den Geissen noch nirgends zu sehen seien;
als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig hoeher,
wo sie besser die ganze Alm bis hinunter uebersehen konnte, und guckte
nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen grosser Ungeduld
auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rueckten die Kinder
auf einem grossen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen,
wo allerhand Gutes an Straeuchern und Gebueschen fuer seine Geissen zu
nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf
dem Wege. Erst war das Kind muehsam nachgeklettert, in seiner schweren
Ruestung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kraefte
anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den
Peter, der mit seinen nackten Fuessen und leichten Hoeschen ohne alle
Muehe hin und her sprang, bald auf die Geissen, die mit den duennen,
schlanken Beinchen noch leichter ueber Busch und Stein und steile
Abhaenge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den
Boden nieder, zog mit grosser Schnelligkeit Schuhe und Struempfe
aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte
sein Roeckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
auszuhaekeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen ueber
das Alltagszeug angezogen, um der Kuerze willen, damit niemand es
tragen muesse. Blitzschnell war auch das Alltagsroecklein weg, und nun
stand das Kind im leichten Unterroeckchen, die blossen Arme aus den
kurzen Hemdaermelchen vergnueglich in die Luft hinausstreckend. Dann
legte es schoen alles auf ein Haeufchen, und nun sprang und kletterte
es hinter den Geissen und neben dem Peter her, so leicht als nur eines
aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was
das Kind mache, als es zurueckgeblieben war. Wie es nun in der neuen
Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze
Gesicht auseinander und schaute zurueck, und wie er unten das
Haeuflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er
sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fuehlte,
fing es ein Gespraech mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden
und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte wissen, wie
viele Geissen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue,
wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geissen oben
bei der Huette an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber
hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut
aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen
Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich
dir gekauft auf den Berg und dir neue Struempfe gemacht, und alles
fort! Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?"

Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
roter Punkt, das musste das Halstuch sein.

"Du Unglueckstropf!", rief die Base in grosser Aufregung. "Was kommt
dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
sein?"

"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus
ueber seine Tat.

"Ach du unglueckseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer sollte
nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf
du mir schnell zurueck und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht
dort und glotze mich an, als waerst du am Boden festgenagelt."

"Ich bin schon zu spaet", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu
ruehren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Haende in
die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehoert hatte.

"Du stehst ja doch nur und reissest deine Augen auf und kommst, denk
ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm her,
du musst etwas Schoenes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein neues
Fuenferchen hin, das glaenzte ihm in die Augen. Ploetzlich sprang
er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in
ungeheuren Saetzen in kurzer Zeit bei dem Haeuflein Kleider an, packte
sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base ruehmen
musste und ihm sogleich sein Fuenfrappenstueck ueberreichte. Peter
steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glaenzte und
lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft
zuteil.

"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Oehi hinauf, du gehst ja
auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Huette des
Geissenpeter emporragte. Willig uebernahm dieser den Auftrag und
folgte der Voranschreitenden auf dem Fusse nach, den linken Arm um
sein Buendel geschlungen, in der Rechten die Geissenrute schwingend.
Das Heidi und die Geissen huepften und sprangen froehlich neben ihm
her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhoehe,
wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Huette des alten Oehi stand,
allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugaenglich und
mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Huette standen
drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Aesten. Weiter
hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen
Felsen, erst noch ueber schoene, kraeuterreiche Hoehen, dann in
steiniges Gestruepp und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan.

An die Huette festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Oehi eine
Bank gezimmert. Hier sass er, eine Pfeife im Mund, beide Haende auf
seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geissen
und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
nach von den anderen ueberholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging
geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte:
"Guten Abend, Grossvater!"

"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem Kinde
kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick
an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen
Blick ausdauernd zurueck, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern,
denn der Grossvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen
Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie
eine Art Gestraeuch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn
recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base herangekommen
samt dem Peter, der eine Welle stille stand und zusah, was sich da
ereigne.

"Ich wuensche Euch guten Tag, Oehi", sagte die Dete hinzutretend, "und
hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet
es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jaehrig war, habt Ihr es nie
mehr gesehen."

"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du dort",
rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geissen, du bist
nicht zu frueh; nimm meine mit!"

Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Oehi hatte ihn
angeschaut, dass er schon genug davon hatte.

"Es muss eben bei Euch bleiben, Oehi", gab die Dete auf seine Frage
zurueck. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre
durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu
tun."

"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
"Und wenn nun das Kind anfaengt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie
kleine Unvernuenftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"

"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurueck, "ich meine fast,
es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
anzufangen habe, als es mir auf den Haenden lag, ein einziges
Jaehrchen alt, und ich schon fuer mich und die Mutter genug zu tun
hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Naechste
am Kind; wenn Ihr's nicht haben koennt, so macht mit ihm, was Ihr
wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr
werdet wohl nicht noetig haben, noch etwas aufzuladen."

Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt
hatte. Bei ihren letzten Worten war der Oehi aufgestanden; er schaute
sie so an, dass sie einige Schritte zurueckwich; dann streckte er den
Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du hinunterkommst, wo du
heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!" Das liess
sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt wohl, und du auch, Heidi",
sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins
Doerfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwaerts wie eine
wirksame Dampfkraft. Im Doerfli wurde sie diesmal noch viel mehr
angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja
alle die Dete genau und wussten, wem das Kind gehoerte und alles, was
mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Tueren und Fenstern
toente: "Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?",
rief sie immer unwilliger zurueck: "Droben beim Alm-Oehi! Nun, beim
Alm-Oehi, ihr hoert's ja!"

Sie wurde aber so massleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Troepfli!",
und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder und
wieder: "Das arme Troepfli!" Die Dete lief, so schnell sie konnte,
weiter und war froh, als sie nichts mehr hoerte, denn es war ihr nicht
wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch
uebergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie koenne dann ja
eher wieder etwas fuer das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene,
und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr
dreinredeten, weg- und zu einem schoenen Verdienst kommen konnte.



Beim Grossvater

Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Oehi sich wieder auf die
Bank hingesetzt und blies nun grosse Wolken aus seiner Pfeife; dabei
starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das
Heidi vergnueglich um sich, entdeckte den Geissenstall, der an die
Huette angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts drin. Das Kind
setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die Huette zu den
alten Tannen. Da blies der Wind durch die Aeste so stark, dass es
sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hoerte
zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke
der Huette herum und kam vorn wieder zum Grossvater zurueck. Als es
diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen
hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Haende auf den Ruecken
und betrachtete ihn. Der Grossvater schaute auf. "Was willst du jetzt
tun?", fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.

"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Huette", sagte Heidi.

"So komm!", und der Grossvater stand auf und ging voran in die Huette
hinein.

"Nimm dort dein Buendel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.

"Das brauch ich nicht mehr", erklaerte Heidi.

Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen
schwarze Augen gluehten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein
konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen", sagte er halblaut.
"Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er laut hinzu.

"Ich will am liebsten gehen wie die Geissen, die haben ganz leichte
Beinchen."

"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Grossvater, "es
kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tuer
auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich grossen Raum ein,
es war der Umfang der ganzen Huette. Da stand ein Tisch und ein Stuhl
daran; in einer Ecke war des Grossvaters Schlaflager, in einer anderen
hing der grosse Kessel ueber dem Herd; auf der anderen Seite war eine
grosse Tuer in der Wand, die machte der Grossvater auf, es war der
Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem Gestell lagen ein
paar Hemden, Struempfe und Tuecher und auf einem anderen einige Teller
und Tassen und Glaeser und auf dem obersten ein rundes Brot und
geraeuchertes Fleisch und Kaese, denn in dem Kasten war alles
enthalten, was der Alm-Oehi besass und zu seinem Lebensunterhalt
gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi
schnell heran und stiess sein Zeug hinein, so weit hinter des
Grossvaters Kleider als moeglich, damit es nicht so leicht wieder zu
finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann:
"Wo muss ich schlafen, Grossvater?"

"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.

Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und
schaute jedes Plaetzchen aus, wo am schoensten zu schlafen waere. In
der Ecke vorueber des Grossvaters Lagerstaette war eine kleine Leiter
aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an.
Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und durch eine runde
Luke sah man weit ins Tal hinab.

"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schoen!
Komm und sieh einmal, wie schoen es hier ist, Grossvater!"

"Weiss schon", toente es von unten herauf.

"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
geschaeftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir ein
Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und
darauf liegt man."

"So, so", sagte unten der Grossvater, und nach einer Weile ging er an
den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen
Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas sein wie
ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden
ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der Kopf liegen
musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu
liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch traf.

"Das ist recht gemacht", sagte der Grossvater, "jetzt wird das Tuch
kommen, aber wart noch" - damit nahm er einen guten Wisch Heu von dem
Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte Boden
nicht durchgefuehlt werden konnte -; "so, jetzt komm her damit." Heidi
hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte es aber fast
nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut, denn durch das
feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen. Jetzt
breiteten die beiden miteinander das Tuch ueber das Heu, und wo es zu
breit und zu lang war, stopfte Heidi die Enden eilfertig unter das
Lager. Nun sah es recht gut und reinlich aus, und Heidi stellte sich
davor und betrachtete es nachdenklich.

"Wir haben noch etwas vergessen, Grossvater", sagte es dann.

"Was denn?", fragte er.

"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
Leintuch und die Decke hinein."

"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.

"Oh, dann ist's gleich, Grossvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt man
wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an den
Heustock gehen, aber der Grossvater wehrte es ihm.

"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging an
sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen grossen, schweren,
leinenen Sack auf den Boden.

"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
Leibeskraeften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
aber die kleinen Haende konnten das schwere Zeug nicht bewaeltigen.
Der Grossvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine praechtige Decke und das
ganze Bett! Jetzt wollt ich, es waere schon Nacht, so koennte ich
hineinliegen."

"Ich meine, wir koennten erst einmal etwas essen", sagte der
Grossvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte ueber dem Eifer des
Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
kam, stieg ein grosser Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
noch gar nichts bekommen als frueh am Morgen sein Stueck Brot und ein
paar Schlucke duennen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."

"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und folgte
dem Kind auf dem Fuss nach. Dann ging er zum Kessel hin, schob den
grossen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing,
setzte sich auf den hoelzernen Dreifuss mit dem runden Sitz davor hin
und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu sieden, und
unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein grosses Stueck
Kaese ueber das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen
Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit
zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn gekommen sein; auf
einmal sprang es weg und an den Schrank und von da hin und her. Jetzt
kam der Grossvater mit einem Topf und dem Kaesebraten an der Gabel zum
Tisch heran; da lag schon das runde Brot darauf und zwei Teller und
zwei Messer, alles schoen geordnet, denn das Heidi hatte alles im
Schrank gut wahrgenommen und wusste, dass man das alles nun gleich zum
Essen brauchen werde.

"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
Grossvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
fehlt noch etwas auf dem Tisch."

Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
Schuesselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
standen zwei Glaeser; augenblicklich kam das Kind zurueck und stellte
Schuesselchen und Glas auf den Tisch.

"Recht so; du weisst dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf dem
einzigen Stuhl sass der Grossvater selbst. Heidi schoss pfeilschnell
zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuss zurueck und setzte sich
drauf.

"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
unten", sagte der Grossvater; "aber von meinem Stuhl waerst auch zu
kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
so komm!" Damit stand er auf, fuellte das Schuesselchen mit Milch,
stellte es auf den Stuhl und rueckte den ganz nah an den Dreifuss hin,
so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Grossvater legte
ein grosses Stueck Brot und ein Stueck von dem goldenen Kaese darauf
und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die Ecke des
Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein Schuesselchen
und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durst seiner
langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat es einen langen
Atemzug - denn im Eifer des Trinkens hatte es lange den Atem nicht
holen koennen - und stellte sein Schuesselchen hin.

"Gefaellt dir die Milch?", fragte der Grossvater.

"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.

"So musst du mehr haben", und der Grossvater fuellte das Schuesselchen
noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnueglich
in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Kaese darauf gestrichen,
denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und das schmeckte ganz
kraeftig zusammen, und zwischendurch trank es seine Milch und sah sehr
vergnueglich aus. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Grossvater
in den Geissenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu
bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen
saeuberte, dann frische Streu legte, dass die Tierchen darauf schlafen
konnten; wie er dann nach dem Schoepfchen ging nebenan und hier runde
Stoecke zurechtschnitt und an einem Brett herumhackte und Loecher
hineinbohrte und dann die runden Stoecke hineinsteckte und aufstellte;
da war es auf einmal ein Stuhl, wie der vom Grossvater, nur viel
hoeher, und Heidi staunte das Werk an, sprachlos vor Verwunderung.

"Was ist das, Heidi?", fragte der Grossvater.

"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.

"Es weiss, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
der Grossvater vor sich hin, als er nun um die Huette herumging und
hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tuer etwas
zu befestigen hatte und so mit Hammer und Naegeln und Holzstuecken
von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
wegschlug, je nach dem Beduerfnis. Heidi ging Schritt fuer Schritt
hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der groessten
Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr kurzweilig
anzusehen.

So kam der Abend heran. Es fing staerker an zu rauschen in den alten
Tannen, ein maechtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch
die dichten Wipfel. Das toente dem Heidi so schoen in die Ohren und
ins Herz hinein, dass es ganz froehlich darueber wurde und huepfte und
sprang unter den Tannen umher, als haette es eine unerhoerte Freude
erlebt. Der Grossvater stand unter der Schopftuer und schaute dem
Kind zu. Jetzt ertoente ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen
Spruengen, der Grossvater trat heraus. Von oben herunter kam es
gesprungen, Geiss um Geiss, wie eine Jagd, und mittendrin der Peter.
Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in das Rudel hinein und
begruesste die alten Freunde von heute Morgen einen um den anderen.
Bei der Huette angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus
kamen zwei schoene, schlanke Geissen, eine weisse und eine braune, auf
den Grossvater zu und leckten seine Haende, denn er hielt ein wenig
Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein tat.
Der Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zaertlich die
eine und dann die andere von den Geissen und sprang um sie herum, um
sie von der anderen Seite auch zu streicheln, und war ganz Glueck und
Freude ueber die Tierchen. "Sind sie unser, Grossvater? Sind sie beide
unser? Kommen sie in den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte
Heidi hintereinander in seinem Vergnuegen, und der Grossvater konnte
kaum sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
hineinbringen. Als die Geissen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte der
Alte: "Geh und hol dein Schuesselchen heraus und das Brot."

Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Grossvater
gleich von der Weissen das Schuesselchen voll und schnitt ein Stueck
Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die Base
Dete hat noch ein Buendelchen abgelegt fuer dich, da seien Hemdlein
und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's brauchst; ich
muss nun mit den Geissen hinein, so schlaf wohl!"

"Gut Nacht, Grossvater! Gut Nacht - wie heissen sie, Grossvater, wie
heissen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
den Geissen nach.

"Die Weisse heisst Schwaenli und die Braune Baerli", gab der
Grossvater zurueck.

"Gut Nacht, Schwaenli, gut Nacht, Baerli!", rief nun Heidi noch mit
Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte
sich Heidi noch auf die Bank und ass sein Brot und trank seine Milch;
aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz herunter; so machte
es schnell fertig, ging dann hinein und stieg zu seinem Bett hinauf,
in dem es auch gleich nachher so fest und herrlich schlief, als nur
einer im schoensten Fuerstenbett schlafen konnte. Nicht lange nachher,
noch eh es voellig dunkel war, legte auch der Grossvater sich auf
sein Lager, denn am Morgen war er immer schon mit der Sonne wieder
draussen, und die kam sehr frueh ueber die Berge hereingestiegen
in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind so gewaltig, dass
bei seinen Stoessen die ganze Huette erzitterte und es in allen
Balken krachte; durch den Schornstein heulte und aechzte es wie
Jammerstimmen, und in den alten Tannen draussen tobte es mit solcher
Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten in der Nacht stand
der Grossvater auf und sagte halblaut vor sich hin: "Es wird sich wohl
fuerchten." Er stieg die Leiter hinauf und trat an Heidis Lager heran.
Der Mond draussen stand einmal hell leuchtend am Himmel, dann fuhren
wieder die jagenden Wolken darueber hin und alles wurde dunkel. Jetzt
kam der Mondschein eben leuchtend durch die runde Oeffnung herein
und fiel gerade auf Heidis Lager. Es hatte sich feuerrote Backen
erschlafen unter seiner schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es
auf seinem runden Aermchen und traeumte von etwas Erfreulichem, denn
sein Gesichtchen sah ganz wohlgemut aus. Der Grossvater schaute so
lange auf das friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter
die Wolken trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager
zurueck.



Auf der Weide

Heidi erwachte am fruehen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wusste
durchaus nicht, wo es war. Aber nun hoerte es draussen des Grossvaters
tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher es gekommen
war und dass es nun auf der Alm beim Grossvater sei, nicht mehr bei
der alten Ursel, die fast nichts mehr hoerte und meistens fror, so
dass sie immer am Kuechenfenster oder am Stubenofen gesessen hatte, wo
dann auch Heidi hatte verweilen muessen oder doch ganz in der Naehe,
damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hoeren
konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es waere
lieber hinausgelaufen. So war es sehr froh, als es in der neuen
Behausung erwachte und sich erinnerte, wie viel Neues es gestern
gesehen hatte und was es heute wieder alles sehen koennte, vor allem
das Schwaenli und das Baerli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und
hatte in wenig Minuten alles wieder angelegt, was es gestern getragen
hatte, denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und
sprang vor die Huette hinaus. Da stand schon der Geissenpeter mit
seiner Schar, und der Grossvater brachte eben Schwaenli und Baerli aus
dem Stall herbei, dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi
lief ihm entgegen, um ihm und den Geissen guten Tag zu sagen.

"Willst mit auf die Weide?", fragte der Grossvater. Das war dem Heidi
eben recht, es huepfte hoch auf vor Freude.

"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
wenn sie so schoen glaenzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
sieh, dort ist's fuer dich gerichtet." Der Grossvater zeigte auf
einen grossen Zuber voll Wasser, der vor der Tuer in der Sonne stand.
Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glaenzend war.
Unterdessen ging der Grossvater in die Huette hinein und rief dem
Peter zu: "Komm hierher, Geissengeneral, und bring deinen Habersack
mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Saecklein hin,
in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.

"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein grosses Stueck Brot
und ein ebenso grosses Stueck Kaese hinein. Der Peter machte vor
Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur moeglich, denn die
beiden Stuecke waren wohl doppelt so gross wie die zwei, die er als
eignes Mittagsmahl drinnen hatte.

"So, nun kommt noch das Schuesselchen hinein", fuhr der Oehi fort,
"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiss weg,
es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schuesselchen voll zu Mittag,
denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
herunterkommst; gib Acht, dass es nicht ueber die Felsen
hinunterfaellt, hoerst du?" -

Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
auslachen, Grossvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit
dem groben Tuch, das der Grossvater neben dem Wasserzuber aufgehaengt
hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so
erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem Grossvater stand. Er
lachte ein wenig.

"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestaetigte er. "Aber weisst
was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den
Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geissen, da bekommt
man schwarze Fuesse. Jetzt koennt ihr ausziehen."

Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
letzte Woelkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen
Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne und
schimmerte auf die gruene Alp, und alle die blauen und gelben
Bluemchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr froehlich
entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
denn da waren ganze Trueppchen feiner, roter Himmelsschluesselchen
beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schoenen
Enzianen, und ueberall lachten und nickten die zartblaetterigen,
goldenen Cystusroeschen in der Sonne. Vor Entzuecken ueber all die
flimmernden winkenden Bluemchen vergass Heidi sogar die Geissen und
auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite,
denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf alle
Seiten. Und ueberall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen und
packte sie in sein Schuerzchen ein, denn es wollte sie alle mit
heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
werde wie hier draussen. - So hatte der Peter heut nach allen Seiten
zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders schnell
hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut bewaeltigen
konnte, denn die Geissen machten es wie das Heidi: Sie liefen auch
dahin und dorthin, und er musste ueberallhin pfeifen und rufen
und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
zusammenzutreiben.

"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
grimmiger Stimme.

"Da", toente es von irgendwoher zurueck. Sehen konnte Peter niemand,
denn Heidi sass am Boden hinter einem Huegelchen, das dicht mit
duftenden Pruenellen besaet war; da war die ganze Luft umher so mit
Wohlgeruch erfuellt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen
Zuegen ein.

"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht ueber die Felsen
hinunterfallen, der Oehi hat's verboten."

"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurueck, bewegte sich aber nicht
von der Stelle, denn der suesse Duft stroemte mit jedem Windhauch dem
Kinde lieblicher entgegen.

"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben
am hoechsten sitzt der alte Raubvogel und kraechzt."

Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Hoehe und rannte mit
seiner Schuerze voller Blumen dem Peter zu.

"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
ein, und dann hatte es die Schuerze schon so angefuellt, dass da wenig
Platz mehr gewesen waere, und morgen mussten auch noch da sein. So
zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geissen gingen nun alle
geregelter, denn sie rochen die guten Kraeuter von dem hohen
Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin. Der
Weideplatz, wo Peter gewoehnlich Halt machte mit seinen Geissen und
sein Quartier fuer den Tag aufschlug, lag am Fusse der hohen Felsen,
die, erst noch von Gebuesch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und
schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp ziehen sich
Felsenkluefte weit hinunter und der Grossvater hatte Recht, davor zu
warnen. Als nun dieser Punkt der Hoehe erreicht war, nahm Peter seinen
Sack ab und legte ihn sorgfaeltig in eine kleine Vertiefung des Bodens
hinein, denn der Wind kam manchmal in starken Stoessen dahergefahren,
und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg
hinunterrollen sehen; dann streckte er sich lang und breit auf den
sonnigen Weideboden hin, denn er musste sich nun von der Anstrengung
des Steigens erholen.

Heidi hatte unterdessen sein Schuerzchen losgemacht und schoen
fest zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in
die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein grosses, weites
Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und
links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite
derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die Blaeue
hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder.
Das Kind sass maeuschenstill da und schaute ringsum, und weit umher
war eine grosse, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind
ueber die zarten, blauen Glockenbluemchen und die goldnen, strahlenden
Cystusroeschen, die ueberall herumstanden auf ihren duennen
Staengelchen und leise und froehlich hin und her nickten. Der Peter
war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geissen kletterten
oben an den Bueschen umher. Dem Heidi war es so schoen zumute, wie in
seinem Leben noch nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen
Luefte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts
mehr, als so dazubleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und
Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstoecken drueben
aufgeschaut, dass es nun war, als haetten sie alle auch Gesichter
bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute
Freunde.

Jetzt hoerte Heidi ueber sich ein lautes, scharfes Geschrei und
Kraechzen ertoenen, und wie es aufschaute, kreiste ueber ihm ein so
grosser Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in grossen Bogen
kehrte er immer wieder zurueck und kraechzte laut und durchdringend
ueber Heidis Kopf.

"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel ist
da, sieh! Sieh!"

Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der
sich nun hoeher und hoeher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich
ueber grauen Felsen verschwand.

"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.

"Heim ins Nest", war Peters Antwort.

"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schoen so hoch oben! Warum schreit
er so?", fragte Heidi weiter.

"Weil er muss", erklaerte Peter.

"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
schlug Heidi vor.

"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstaerkter
Missbilligung hervorstossend; "wenn keine Geiss mehr dorthin
kann und der Oehi gesagt hat, du duerfest nicht ueber die Felsen
hinunterfallen."

Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
aber die Geissen mussten die Toene verstehen, denn eine nach der
anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
gruenen Halde versammelt, die einen fortnagend an den wuerzigen
Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
gegeneinander stossend mit ihren Hoernern zum Zeitvertreib. Heidi war
aufgesprungen und rannte mitten unter den Geissen umher, denn das
war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnueglicher Anblick, wie die
Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und Heidi
sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz persoenliche
Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere Erscheinung fuer
sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen hatte Peter den
Sack herbeigeholt und alle vier Stuecke, die drin waren, schoen auf
den Boden hingelegt in ein Viereck, die grossen Stuecke auf Heidis
Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn er wusste genau, wie
er sie erhalten hatte. Dann nahm er das Schuesselchen und melkte
schoene, frische Milch hinein vom Schwaenli und stellte das
Schuesselchen mitten ins Viereck. Dann rief er Heidi herbei, musste
aber laenger rufen als nach den Geissen, denn das Kind war so in Eifer
und Freude ueber die mannigfaltigen Spruenge und Erlustigungen seiner
neuen Spielkameraden, dass es nichts sah und nichts hoerte ausser
diesen. Aber Peter wusste sich verstaendlich zu machen, er rief, dass
es bis in die Felsen hinaufdroehnte, und nun erschien Heidi und die
gedeckte Tafel sah so einladend aus, dass es um sie herumhuepfte vor
Wohlgefallen.

"Hoer auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt sitz
und fang an."

Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
das schoene Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
betrachtend.

"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei grossen Stuecke zum Essen sind
auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
Schuesselchen vom Schwaenli und dann komm ich."

"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.

"Von meiner Geiss, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an", mahnte
Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es sein leeres
Schuesselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites
herbei. Dazu brach Heidi ein Stueck von seinem Brot ab, und das ganze
uebrige Stueck, das immer noch groesser war, als Peters eigenes Stueck
gewesen, das nun schon samt Zubehoer fast zu Ende war, reichte es
diesem hinueber mit dem ganzen grossen Brocken Kaese und sagte: "Das
kannst du haben, ich habe nun genug."

Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
nie in seinem Leben haette er so sagen und etwas weggeben koennen. Er
zoegerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass es
dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stuecke hin,
und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun sah er,
dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk, nickte in Dank
und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch
nie in seinem Leben als Geissbub. Heidi schaute derweilen nach den
Geissen aus. "Wie heissen sie alle, Peter?", fragte es.

Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in seinem
Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing
also an und nannte ohne Anstoss eine nach der anderen, immer je mit
dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hoerte mit gespannter
Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es waehrte gar nicht lange, so
konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen
nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die einem gleich
im Sinne bleiben mussten; man musste nur allen genau zusehen, und
das tat Heidi. Da war der grosse Tuerk mit den starken Hoernern, der
wollte mit diesen immer gegen alle anderen stossen, und die meisten
liefen davon, wenn er kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden
wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behaende Geisschen,
wich ihm nicht aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-,
viermal hintereinander so rasch und tuechtig gegen ihn an, dass der
grosse Tuerk oefters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff,
denn der Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
Hoernchen. Da war das kleine, weisse Schneehoeppli, das immer so
eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
ihm hingelaufen war und es troestend beim Kopf genommen hatte. Auch
jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
den Hals des Geissleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
Schneehoeppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geisslein schmiegte
sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn er
hatte immer noch zu beissen und zu schlucken: "Es tut so, weil die
Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."

"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurueck.

"Pah, seine Mutter", war die Antwort.

"Wo ist die Grossmutter?", rief Heidi wieder.

"Hat keine."

"Und der Grossvater?"

"Hat keinen."

"Du armes Schneehoeppli du", sagte Heidi und drueckte das Tierlein
zaertlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen,
und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."

Das Schneehoeppli rieb ganz vergnuegt seinen Kopf an Heidis Schulter
und meckerte nicht mehr klaeglich. Unterdessen hatte Peter sein
Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.

Weitaus die zwei schoensten und saubersten Geissen der ganzen
Schar waren Schwaenli und Baerli, die sich auch mit einer gewissen
Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders
dem zudringlichen Tuerk abweisend und veraechtlich begegneten. -

Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Bueschen
hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die einen
leichtfertig ueber alles weg huepfend, die anderen bedaechtlich die
guten Kraeutlein suchend unterwegs, der Tuerk hier und da seine
Angriffe probierend. Schwaenli und Baerli kletterten huebsch und
leicht hinan und fanden oben sogleich die schoensten Buesche, stellten
sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab. Heidi stand mit
den Haenden auf dem Ruecken und schaute dem allen mit der groessten
Aufmerksamkeit zu.

"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden, "die
schoensten von allen sind das Schwaenli und das Baerli."

"Weiss schon", war die Antwort. "Der Alm-Oehi putzt und waescht sie
und gibt ihnen Salz und hat den schoensten Stall."

Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in grossen Spruengen den
Geissen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas begegnet
sein, es konnte da nicht zurueckbleiben. Der Peter sprang durch den
Geissenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und
kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geisslein, wenn es dorthin
ging, leicht hinunterstuerzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte
gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehuepft
war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geisslein dem
Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben packen, da stuerzte er
auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins
erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn
und Ueberraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen
seines froehlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig
vorwaerts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn
er konnte nicht aufstehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus.
Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden.
Es riss schnell einige wohlduftende Kraeuter aus dem Boden und hielt
sie dem Distelfink unter die Nase und sagte beguetigend:

"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernuenftig sein! Sieh, da
kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
weh."

Das Geisslein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnueglich
die Kraeuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine
Fuesse gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an
welcher sein Gloeckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfasste
diese von der anderen Seite, und so fuehrten die beiden den Ausreisser
zu der friedlich weidenden Herde zurueck. Als ihn aber Peter hier
in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe
tuechtig durchpruegeln, und der Distelfink wich scheu zurueck, denn er
merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: "Nein, Peter,
nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh, wie er sich fuerchtet!"

"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
fiel ihm in den Arm und rief ganz entruestet: "Du darfst ihm nichts
tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"

Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen
ihn so anfunkelten, dass er unwillkuerlich seine Rute niederhielt.
"So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Kaese gibst",
sagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entschaedigung wollte er
haben fuer den Schrecken.

"Allen kannst du haben, das ganze Stueck morgen und alle Tage, ich
brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich dir
auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar
nie schlagen und auch das Schneehoeppli nie und gar keine Geiss."

"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
eine Zusage. Jetzt liess er den Schuldigen los, und der froehliche
Distelfink sprang in hohen Spruengen auf und davon in die Herde
hinein. -

So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
Begriff, weit drueben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi sass
wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blaugloeckchen und die
Cystusroeschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles
Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen an zu
schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie:
"Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der
grosse Schnee drueben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh! Der hohe
Felsenberg ist ganz gluehend! Oh, der schoene, feurige Schnee! Peter,
sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die
Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"

"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemuetlich und schaelte an
seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."

"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass es
ueberallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schoen
war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?", rief Heidi
wieder.

"Es kommt von selbst so", erklaerte Peter.

"O sieh, sieh", rief Heidi in grosser Aufregung, "auf einmal werden
sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen
Felsen! Wie heissen sie, Peter?"

"Berge heissen nicht", erwiderte dieser.

"O wie schoen, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen oben
sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist
alles ausgeloescht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi setzte sich
auf den Boden und sah so verstoert aus, als ginge wirklich alles zu
Ende.

"Es ist morgen wieder so", erklaerte Peter. "Steh auf, nun muessen wir
heim."

Die Geissen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt
angetreten.

"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?",
fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend,
als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.

"Meistens", gab dieser zur Antwort.

"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.

"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.

Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindruecke in sich
aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es nun
ganz stillschwieg, bis es bei der Almhuette ankam und den Grossvater
unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und
am Abend seine Geissen erwartete, die von dieser Seite herunterkaemen.
Heidi sprang gleich auf ihn zu und Schwaenli und Baerli hinter ihm
drein, denn die Geissen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter
rief dem Heidi nach: "Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es
war ihm sehr daran gelegen, dass das Heidi wiederkomme.

Da rannte das Heidi schnell wieder zurueck und gab dem Peter die Hand
und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang es
mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
das Schneehoeppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
Schneehoeppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass du
nie mehr so jaemmerlich meckern musst."

Das Schneehoeppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und
sprang dann froehlich der Herde nach.

Heidi kam unter die Tannen zurueck.

"O Grossvater, das war so schoen!", rief es, noch bevor es bei ihm
war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schuettete Heidi
seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schuerzchen vor den
Grossvater hin. Aber wie sahen die armen Bluemchen aus! Heidi erkannte
sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein
stand mehr offen.

"O Grossvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus. "So
waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"

"Die wollen draussen stehen in der Sonne und nicht ins Schuerzchen
hinein", sagte der Grossvater.

"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Grossvater, warum hat
der Raubvogel so gekraechzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.

"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
nachher kommen wir hinein zusammen in die Huette und essen zu Nacht,
dann sag ich dir's."

So wurde getan, und wie nun spaeter Heidi auf seinem hohen Stuhl sass
vor seinem Milchschuesselchen und der Grossvater neben ihm, da kam das
Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum kraechzt der Raubvogel so
und schreit immer so herunter, Grossvater?"

"Der hoehnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele zusammensitzen
in den Doerfern und einander boes machen. Da hoehnt er hinunter:
'Wuerdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg und auf eine Hoehe
steigen wie ich, so waer's euch wohler!'" Der Grossvater sagte diese
Worte fast wild, so dass dem Heidi das Gekraechz des Raubvogels
dadurch noch eindruecklicher wurde in der Erinnerung.

"Warum haben die Berge keinen Namen, Grossvater?", fragte Heidi
wieder.

"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
heisst."

Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Tuermen genau
so, wie es ihn gesehen hatte, und der Grossvater sagte wohlgefaellig:
"Recht so, den kenn ich, der heisst Falknis. Hast du noch einen
gesehen?"

Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem grossen Schneefeld, auf dem der
ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war
und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.

"Den erkenn ich auch", sagte der Grossvater, "das ist die Schesaplana;
so hat es dir gefallen auf der Weide?"

Nun erzaehlte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schoen es gewesen, und
besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Grossvater auch
sagen, woher es gekommen war, denn der Peter haette nichts davon
gewusst.

"Siehst du", erklaerte der Grossvater, "das macht die Sonne, wenn sie
den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schoensten
Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen
wiederkommt."

Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
seinem Heulager, und traeumte von lauter schimmernden Bergen und
roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehoeppli in froehlichen
Spruengen.



Bei der Grossmutter

Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
und die Geissen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide
hinauf, und so ging es Tag fuer Tag, und Heidi wurde bei diesem
Weideleben ganz gebraeunt und so kraeftig und gesund, dass ihm gar nie
etwas fehlte, und so froh und gluecklich lebte Heidi von einem Tag zum
anderen, wie nur die lustigen Voegelein leben auf allen Baeumen im
gruenen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen
anfing ueber die Berge hin, dann sagte etwa der Grossvater: "Heut
bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit
einem Ruck ueber alle Felsen ins Tal hinabwehen."

Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr ungluecklich
aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren
die Geissen so stoerrig an diesen Tagen, dass er die doppelte Muehe
mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis Gesellschaft
gewoehnt, dass sie nicht vorwaerts wollten, wenn es nicht dabei war,
und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals ungluecklich, denn es
sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich. Am liebsten ging es schon
mit Hirt und Geissen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel
hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu erleben waren mit all den
verschieden gearteten Geissen; aber auch das Haemmern und Saegen und
Zimmern des Grossvaters war sehr unterhaltend fuer Heidi; und traf es
sich, dass er gerade die schoenen runden Geisskaeschen zubereitete,
wenn es daheim bleiben musste, so war das ein ganz besonderes
Vergnuegen, dieser merkwuerdigen Taetigkeit zuzuschauen, wobei der
Grossvater beide Arme bloss machte und damit in dem grossen Kessel
herumruehrte. Aber vor allem anziehend war fuer das Heidi an solchen
Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei alten Tannen hinter
der Huette. Da musste es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem
anderen weg, was es auch sein mochte, denn so schoen und wunderbar war
gar nichts wie dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da
droben; da stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals
genug bekommen, zu sehen und zu hoeren, wie das wehte und wogte und
rauschte in den Baeumen mit grosser Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
mehr heiss wie im Sommer, und Heidi suchte seine Struempfe und Schuhe
hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und wenn
das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein duennes
Blaettlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte nicht in der
Huette bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.

Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Haende, wenn er frueh
am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel ueber
Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm schneeweiss
und kein einziges gruenes Blaettlein mehr zu sehen ringsum und um. Da
kam der Geissenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi schaute
ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun fing es wieder zu
schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der
Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster hinaufreichte, und dann
noch hoeher, dass man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und
man ganz verpackt war in dem Haeuschen. Das kam dem Heidi so lustig
vor, dass es immer von einem Fenster zum anderen rannte, um zu sehen,
wie es denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Huette
zudecken wollte, dass man muesste ein Licht anzuenden am hellen Tag.
Es kam aber nicht so weit, und am anderen Tag ging der Grossvater
hinaus - denn nun schneite es nicht mehr - und schaufelte ums ganze
Haus herum und warf grosse, grosse Schneehaufen aufeinander, dass
es war wie hier ein Berg und dort ein Berg und dort ein Berg um die
Huette herum; aber nun waren die Fenster wieder frei und auch die
Tuer, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Grossvater
am Feuer sassen, jedes auf seinem Dreifuss - denn der Grossvater hatte
laengst auch einen fuer das Kind gezimmert -, da polterte auf einmal
etwas heran und schlug immerzu gegen die Holzschwelle und machte
endlich die Tuer auf. Es war der Geissenpeter; er hatte aber nicht aus
Unart so gegen die Tuer gepoltert, sondern um seinen Schnee von den
Schuhen abzuschlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich
der ganze Peter war von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die
hohen Schichten so durchkaempfen muessen, dass ganze Massen an ihm
haengen geblieben und auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr
kalt. Aber er hatte nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf,
er hatte es jetzt acht Tage lang nicht gesehen.

"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah als
moeglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
ganzes Gesicht lachte vor Vergnuegen, dass er da war. Heidi schaute
ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
ueberall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war wie
ein gelinder Wasserfall.

"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Grossvater. "Nun bist du
ohne Armee und musst am Griffel nagen."

"Warum muss er am Griffel nagen, Grossvater?", fragte Heidi sogleich
mit Wissbegierde.

"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklaerte der Grossvater;
"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
General?"

"Ja, 's ist wahr", bestaetigte Peter.

Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
sehr viele Fragen ueber die Schule und alles, was da begegnete und zu
hoeren und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel
Zeit verfloss ueber einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
musste, so konnte er derweilen schoen trocknen von oben bis unten. Es
war immer eine grosse Anstrengung fuer ihn, seine Vorstellungen in die
Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte
er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort zustande
gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete
Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als
Antwort erforderten.

Der Grossvater hatte sich ganz still verhalten waehrend dieser
Unterhaltung, aber es hatte ihm oefter ganz lustig um die Mundwinkel
gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhoerte.

"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Staerkung, komm, halt
mit!" Damit stand der Grossvater auf und holte das Abendessen aus dem
Schrank hervor, und Heidi rueckte die Stuehle zum Tisch. Unterdessen
war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom Grossvater; nun er
nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze zu zweien
eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, dass es sich ueberall nah zum
Grossvater hielt, wo er ging und stand und sass. So hatten sie alle
drei gut Platz zum Sitzen und der Peter tat seine runden Augen ganz
weit auf, als er sah, welch ein maechtiges Stueck von dem schoenen
getrockneten Fleisch der Alm-Oehi ihm auf seine dicke Brotschnitte
legte. So gut hatte es der Peter lange nicht gehabt. Als nun das
vergnuegte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln, und Peter schickte
sich zur Heimkehr an. Als er nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott"
gesagt hatte und schon unter der Tuer war, kehrte er sich noch einmal
um und sagte: "Am Sonntag komm ich wieder, heut ueber acht Tag, und du
solltest auch einmal zur Grossmutter kommen, hat sie gesagt."

Das war ein ganz neuer Gedanke fuer Heidi, dass es zu jemandem gehen
sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklaerte: "Grossvater,
jetzt muss ich gewiss zu der Grossmutter hinunter, sie erwartet mich."

"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Grossvater abwehrend.

Aber das Vorhaben sass fest in Heidis Sinn, denn die Grossmutter hatte
es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag mehr, an
dem das Kind nicht fuenf- und sechsmal sagte: "Grossvater, jetzt muss
ich gewiss gehen, die Grossmutter wartet ja immer auf mich."

Am vierten Tag, als es draussen knisterte und knarrte vor Kaelte bei
jedem Schritt und die ganze grosse Schneedecke ringsum hart gefroren
war, aber eine schoene Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl sass, da begann es wieder
sein Spruechlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Grossmutter gehen,
es waehrt ihr sonst zu lange." Da stand der Grossvater auf vom
Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack
herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In grosser
Freude huepfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus.
In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen Aesten lag
der weisse Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und funkelte es
ueberall von den Baeumen in solcher Pracht, dass Heidi hoch aufsprang
vor Entzuecken und ein Mal uebers andere ausrief: "Komm heraus,
Grossvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und Gold an den Tannen!"
Denn der Grossvater war in den Schopf hineingegangen und kam nun
heraus mit einem breiten Stossschlitten: Da war vorn eine Stange
angebracht, und von dem flachen Sitz konnte man die Fuesse nach vorn
hinunterhalten und gegen den Schneeboden stemmen und der Fahrt die
Weisung geben. Hier setzte sich der Grossvater hin, nachdem er erst
die Tannen ringsum mit Heidi hatte beschauen muessen, nahm das Kind
auf seinen Schoss, wickelte es um und um in den Sack ein, damit es
huebsch warm bleibe, und drueckte es fest mit dem linken Arm an sich,
denn das war noetig bei der kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit
der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Fuessen.
Da schoss der Schlitten davon die Alm hinab mit einer solchen
Schnelligkeit, dass das Heidi meinte, es fliege in der Luft wie ein
Vogel, und laut aufjauchzte. Auf einmal stand der Schlitten still,
gerade bei der Huette vom Geissenpeter. Der Grossvater stellte das
Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:

"So, nun geh hinein, und wenn es anfaengt dunkel zu werden, dann komm
wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um mit seinem
Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.

Heidi machte die Tuer auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da sah
es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schuesselchen auf einem
Gestell, das war die kleine Kueche; dann kam gleich wieder eine Tuer,
die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn
das Ganze war nicht eine Sennhuette, wie beim Grossvater, wo ein
einziger, grosser Raum war und oben ein Heuboden, sondern es war ein
kleines, uraltes Haeuschen, wo alles eng war und schmal und duerftig.
Als Heidi in das Stuebchen trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran
sass eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses erkannte Heidi
sogleich. In der Ecke sass ein altes, gekruemmtes Muetterchen und
spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging geradaus auf das
Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Grossmutter, jetzt komme ich zu
dir; hast du gedacht, es waehre lang, bis ich komme?"

Die Grossmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befuehlte sie
dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie:
"Bist du das Kind droben beim Alm-Oehi, bist du das Heidi?"

"Ja, ja", bestaetigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
Grossvater im Schlitten heruntergefahren."

"Wie ist das moeglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag, Brigitte,
ist der Alm-Oehi selber mit dem Kind heruntergekommen?"

Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis
unten; dann sagte sie: "Ich weiss nicht, Mutter, ob der Oehi selber
heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das Kind wird's
nicht recht wissen."

Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiss ganz gut, wer mich in die
Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das ist
der Grossvater."

"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den Sommer
durch vom Alm-Oehi, wenn wir dachten, er wisse es nicht recht", sagte
die Grossmutter; "wer haette freilich auch glauben koennen, dass so
etwas moeglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen
da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte das Kind
unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun wohl berichten
konnte, wie es aussah.

"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es
der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den
zweien gleich."

Unterdessen war Heidi muessig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
Grossmutter, dort schlaegt es einen Laden immer hin und her, und der
Grossvater wuerde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
wieder fest haelt, sonst schlaegt er auch einmal eine Scheibe ein;
sieh, sieh, wie er tut!"

"Ach, du gutes Kind", sagte die Grossmutter, "sehen kann ich es nicht,
aber hoeren kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden;
da kracht und klappert es ueberall, wenn der Wind kommt, und er kann
ueberall hereinblasen; es haelt nichts mehr zusammen, und in der
Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang,
es falle alles ueber uns zusammen und schlage uns alle drei tot; ach,
und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern koennte an der Huette,
der Peter versteht's nicht."

"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
Grossmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi zeigte
die Stelle deutlich mit dem Finger.

"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
Laden nicht", klagte die Grossmutter.

"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es recht
hell wird, kannst du dann sehen, Grossmutter?"

"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."

"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weissen Schnee, dann wird es dir
gewiss hell; komm nur mit mir, Grossmutter, ich will dir's zeigen."
Heidi nahm die Grossmutter bei der Hand und wollte sie fortziehen,
denn es fing an, ihm ganz aengstlich zumute zu werden, dass es ihr
nirgends hell wurde.

"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
Augen."

"Aber dann doch im Sommer, Grossmutter", sagte Heidi, immer
aengstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weisst, wenn dann
wieder die Sonne ganz heiss herunterbrennt und dann 'gute Nacht'
sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle gelben Bluemlein
glitzern, dann wird es dir wieder schoen hell?"

"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
goldenen Bluemlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
mehr."

Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es
fortwaehrend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es niemand?
Kann es gar niemand?"

Die Grossmutter suchte nun das Kind zu troesten, aber es gelang ihr
nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betruebnis herauskommen.
Die Grossmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jaemmerlich
schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm hier
heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts sehen
kann, dann hoert man so gern ein freundliches Wort, und ich hoere es
gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und erzaehl mir
etwas, was du machst da droben und was der Grossvater macht, ich habe
ihn frueher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit manchem Jahr nichts
mehr gehoert von ihm als durch den Peter, aber der sagt nicht viel."

Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Traenen
weg und sagte troestlich: "Wart nur, Grossmutter, ich will alles dem
Grossvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht, dass die
Huette nicht zusammenfaellt, er kann alles wieder in Ordnung machen."

Die Grossmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit grosser
Lebendigkeit zu erzaehlen von seinem Leben mit dem Grossvater und
von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem
Grossvater, was er alles aus Holz machen koenne, Baenke und Stuehle
und schoene Krippen, wo man fuer das Schwaenli und Baerli das Heu
hineinlegen koennte, und einen neuen grossen Wassertrog zum Baden im
Sommer, und ein neues Milchschuesselchen und Loeffel, und Heidi wurde
immer eifriger im Beschreiben all der schoenen Sachen, die so auf
einmal aus einem Stueck Holz herauskommen, und wie es dann neben dem
Grossvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch einmal
machen wolle. Die Grossmutter hoerte mit grosser Aufmerksamkeit
zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen: "Hoerst du's auch,
Brigitte? Hoerst du, was es vom Oehi sagt?"

Mit einem Mal wurde die Erzaehlung unterbrochen durch ein grosses
Gepolter an der Tuer, und herein stampfte der Peter, blieb aber
sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten Abend,
Peter!"

"Ist denn das moeglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief die
Grossmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit manchem
Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit
dem Lesen?"

"Gleich", gab der Peter zur Antwort.

"So, so", sagte die Grossmutter ein wenig seufzend, "ich habe gedacht,
es gaebe vielleicht eine Aenderung auf die Zeit, wenn du dann zwoelf
Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."

"Warum muss es eine Aenderung geben, Grossmutter?", fragte Heidi
gleich mit Interesse.

"Ich meine nur, dass er es etwa noch haette lernen koennen", sagte die
Grossmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem Gestell
ein altes Gebetbuch, da sind schoene Lieder drin, die habe ich so
lange nicht mehr gehoert, und im Gedaechtnis habe ich sie auch nicht
mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so koenne
er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht lernen, es ist
ihm zu schwer."

"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte;
"der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's merkte."

Nun sprang Heidi von seinem Stuehlchen auf, streckte eilig seine Hand
aus und sagte: "Gut Nacht, Grossmutter, ich muss auf der Stelle heim,
wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und seiner
Mutter die Hand und ging der Tuer zu. Aber die Grossmutter rief
besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort, der Peter
muss mit dir, hoerst du? Und gib Acht auf das Kind, Peterli, dass es
nicht umfaellt, und steh nicht still mit ihm, dass es nicht friert,
hoerst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"

"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurueck, "aber ich will
schon nicht frieren"; damit war es zur Tuer hinaus und huschte so
behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Grossmutter rief
jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja erfrieren,
so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!" Die Brigitte
gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg
hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Grossvater kommen, und
mit wenigen ruestigen Schritten stand er vor ihnen.

"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das Kind
wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rueckweg angetreten
hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Huette ein und erzaehlte
der Grossmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte. Auch diese
musste sich sehr verwundern und ein Mal ueber das andere sagen: "Gott
Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn er
es nur auch wieder zu mir laesst, das Kind hat mir so wohl gemacht!
Was hat es fuer ein gutes Herz und wie kann es so kurzweilig
erzaehlen!" Und immer wieder freute sich die Grossmutter, und bis sie
ins Bett ging, sagte sie immer wieder: "Wenn es nur auch wiederkommt!
Jetzt habe ich doch noch etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen
kann!" Und die Brigitte stimmte jedes Mal ein, wenn die Grossmutter
wieder dasselbe sagte, und auch der Peter nickte jedes Mal zustimmend
mit dem Kopf und zog seinen Mund weit auseinander vor Vergnueglichkeit
und sagte: "Hab's schon gewusst."

Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
Grossvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."

Sobald er nun, oben angekommen, in seine Huette eingetreten war und
Heidi aus seiner Huelle herausgeschaelt hatte, sagte es: "Grossvater,
morgen muessen wir den Hammer und die grossen Naegel mitnehmen und den
Laden festschlagen bei der Grossmutter und sonst noch viele Naegel
einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."

"Muessen wir? So, das muessen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
der Grossvater.

"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiss es sonst", entgegnete
Heidi, "denn es haelt alles nicht mehr fest und es ist der Grossmutter
angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so tut, und sie
denkt: 'Jetzt faellt alles ein und gerade auf unsere Koepfe'; und der
Grossmutter kann man gar nicht mehr hell machen, sie weiss gar nicht,
wie man es koennte, aber du kannst es schon, Grossvater; denk nur, wie
traurig es ist, wenn sie immer im Dunkeln ist und es ihr dann noch
angst und bang ist und es kann ihr kein Mensch helfen als du! Morgen
wollen wir gehen und ihr helfen; gelt, Grossvater, wir wollen?"

Heidi hatte sich an den Grossvater angeklammert und schaute mit
zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Welle
auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen machen,
dass es nicht mehr so klappert bei der Grossmutter, das koennen wir;
morgen tun wir's."

Nun huepfte das Kind vor Freude im ganzen Huettenraum herum und rief
ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"

Der Grossvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
Schlittenfahrt ausgefuehrt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte
das Kind vor der Tuer der Geissenpeter-Huette nieder und sagte: "Nun
geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er den
Sack auf den Schlitten und ging um das Haeuschen herum.

Kaum hatte Heidi die Tuer aufgemacht und war in die Stube
hineingesprungen, so rief schon die Grossmutter aus der Ecke: "Da
kommt das Kind! Das ist das Kind!", und liess vor Freude den Faden los
und das Raedchen stehen und streckte beide Haende nach dem Kinde aus.
Heidi lief zu ihr, rueckte gleich das niedere Stuehlchen ganz nahe an
sie heran, setzte sich darauf und hatte der Grossmutter schon wieder
eine grosse Menge von Dingen zu erzaehlen und von ihr zu erfragen.
Aber auf einmal ertoenten so gewaltige Schlaege an das Haus, dass die
Grossmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie fast das Spinnrad
umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es
faellt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest um den Arm und sagte
troestend: "Nein, nein, Grossmutter, erschrick du nur nicht, das ist
der Grossvater mit dem Hammer, jetzt macht er alles fest, dass es dir
nicht mehr angst und bang wird."

"Ach, ist auch das moeglich! Ist auch so etwas moeglich! So hat uns
doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Grossmutter aus.
"Hast du's gehoert, Brigitte, was es ist, hoerst du's? Wahrhaftig, es
ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Oehi ist, so
sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen, dass
ich ihm auch danken kann."

Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Oehi mit grosser Gewalt
neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und sagte: "Ich
wuensche Euch guten Abend, Oehi, und die Mutter auch, und wir haben
Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut, und die Mutter
moechte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher, es haette uns
das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran denken, denn
sicher -"

"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Oehi
haltet, weiss ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find ich
selber."

Brigitte gehorchte sogleich, denn der Oehi hatte eine Art, der man
sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und haemmerte um das ganze
Haeuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis unter
das Dach, haemmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel
eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon
die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und
hatte seinen Schlitten hinter dem Geissenstall hervorgezogen, als auch
schon Heidi aus der Tuer trat und vom Grossvater wie gestern verpackt
auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein
da drauf sitzend, waere die ganze Umhuellung vom Heidi abgefallen, und
es waere fast oder ganz erfroren. Das wusste der Grossvater wohl und
hielt das Kind ganz warm in seinem Arm.

So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
Grossmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage
waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn nun
hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen konnte. Vom
fruehen Morgen an lauschte sie auch schon auf den trippelnden Schritt,
und ging dann die Tuer auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen,
dann rief sie jedes Mal in lauter Freude: "Gottlob! Da kommt's
wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzaehlte so
lustig von allem, was es wusste, dass es der Grossmutter ganz wohl
machte und ihr die Stunden dahingingen, sie merkte es nicht, und kein
einziges Mal fragte sie mehr so wie frueher: "Brigitte, ist der Tag
noch nicht um?", sondern jedes Mal, wenn Heidi die Tuer hinter sich
schloss, sagte sie: "Wie war doch der Nachmittag so kurz; ist es nicht
wahr, Brigitte?" Und diese sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben
erst die Teller vom Essen weggestellt." Und die Grossmutter sagte
wieder: "Wenn mir nur der Herrgott das Kind erhaelt und dem Alm-Oehi
den guten Willen! Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal
erwiderte diese: "Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."

Heidi hatte auch eine grosse Anhaenglichkeit an die alte Grossmutter,
und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch der
Grossvater nicht mehr hell machen konnte, ueberkam es immer wieder
eine grosse Betruebnis; aber die Grossmutter sagte ihm immer wieder,
dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und Heidi
kam auch an jedem schoenen Wintertag heruntergefahren auf seinem
Schlitten. Der Grossvater hatte, ohne weitere Worte, so fortgefahren,
hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen
und manchen Nachmittag durch an dem Geissenpeter-Haeuschen
herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es krachte und
klapperte nicht mehr die ganzen Naechte durch, und die Grossmutter
sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen koennen,
das wolle sie auch dem Oehi nie vergessen.



Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat

Schnell war der Winter und noch schneller der froehliche Sommer darauf
vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu.
Heidi war gluecklich und froh wie die Voeglein des Himmels und freute
sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Fruehlingstage, da der warme
Foehn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen wuerde und dann
die helle Sonne die blauen und gelben Bluemlein hervorlocken und die
Tage der Weide kommen wuerden, die fuer Heidi das Schoenste mit sich
brachten, was es auf Erden geben konnte. Heidi stand nun in seinem
achten Jahre; es hatte vom Grossvater allerlei Kunstgriffe erlernt:
Mit den Geissen wusste es so gut umzugehen als nur einer, und
Schwaenli und Baerli liefen ihm nach wie treue Huendlein und meckerten
gleich laut vor Freude, wenn sie nur seine Stimme hoerten. In diesem
Winter hatte Peter schon zweimal vom Schullehrer im Doerfli den
Bericht gebracht, der Alm-Oehi solle das Kind, das bei ihm sei, nun
in die Schule schicken, es habe schon mehr als das Alter und haette
schon im letzten Winter kommen sollen. Der Oehi hatte beide Male dem
Schullehrer sagen lassen, wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er
daheim, das Kind schicke er nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte
der Peter richtig ueberbracht.

Als die Maerzsonne den Schnee an den Abhaengen geschmolzen hatte und
ueberall die weissen Schneegloeckchen hervorguckten im Tal und auf der
Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschuettelt hatten und die Aeste
wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her von
der Haustuer zum Geissenstall und von da unter die Tannen und dann
wieder hinein zum Grossvater, um ihm zu berichten, wie viel groesser
das Stueck gruener Boden unter den Baeumen wieder geworden sei,
und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
erwarten, dass alles wieder gruen wurde und der ganze schoene Sommer
mit Gruen und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.

Als Heidi so am sonnigen Maerzmorgen hin und her rannte und jetzt wohl
zum zehnten Mal ueber die Tuerschwelle sprang, waere es vor Schrecken
fast rueckwaerts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor
einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Als
er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich: "Du musst nicht
erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir die Hand! Du
wirst das Heidi sein; wo ist der Grossvater?"

"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Loeffel von Holz", erklaerte
Heidi und machte nun die Tuer wieder auf.

Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Doerfli, der den Oehi vor Jahren
gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war. Er
trat in die Huette ein, ging auf den Alten zu, der sich ueber sein
Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."

Verwundert schaute dieser in die Hoehe, stand dann auf und entgegnete:
"Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er seinen Stuhl vor den
Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr Pfarrer einen Holzsitz nicht
scheut, hier ist einer."

Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
Nachbar", sagte er dann.

"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.

"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr koennt schon wissen, was meine
Angelegenheit ist, worueber ich mich mit Euch verstaendigen und hoeren
will, was Ihr im Sinne habt."

Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tuer stand
und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.

"Heidi, geh zu den Geissen", sagte der Grossvater. "Kannst ein wenig
Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."

Heidi verschwand sofort.

"Das Kind haette schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der Lehrer
hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was
habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"

"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
Antwort.

Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten
Armen auf seiner Bank sass und gar nicht nachgiebig aussah.

"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr Pfarrer.

"Nichts, es waechst und gedeiht mit den Geissen und den Voegeln; bei
denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Boeses von ihnen."

"Aber das Kind ist keine Geiss und kein Vogel, es ist ein
Menschenkind. Wenn es nichts Boeses lernt von diesen seinen Kameraden,
so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber etwas lernen,
und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch zeitig zu sagen,
Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten koennt den Sommer
durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen
Unterricht zugebracht hat; naechsten Winter kommt es zur Schule, und
zwar jeden Tag."

"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.

"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft
zu bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernuenftigen Tun
beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. "Ihr
seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und vieles
lernen koennen, ich haette Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar."

"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
Herr Pfarrer, ich werde wirklich im naechsten Winter am eisigen
Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen
lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner fast in Wind und
Schnee ersticken muesste, und dann ein Kind wie dieses? Und vielleicht
kann sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der
Adelheid; sie war mondsuechtig und hatte Zufaelle, soll das Kind auch
so etwas holen mit der Anstrengung? Es soll mir einer kommen und mich
zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen
wir sehen, wer mich zwingt!"

"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
Freundlichkeit; "es waere nicht moeglich, das Kind von hier aus zur
Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb; tut
um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange haettet tun sollen, kommt
wieder ins Doerfli herunter und lebt wieder mit den Menschen. Was ist
das fuer ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und
Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustossen wuerde hier oben, wer
wuerde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass Ihr den
Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Huette, und wie das zarte
Kind es nur aushalten kann!"

"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das moechte ich dem
Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiss, wo es Holz gibt,
und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer darf
in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner Huette
geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit
dem Herunterkommen meint, ist nicht fuer mich; die Menschen da unten
verachten mich und ich sie auch, wir bleiben voneinander, so ist's
beiden wohl."

"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiss, was Euch fehlt", sagte
der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der Menschen
dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar: Sucht Frieden
mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung, wo Ihr sie
noetig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die Menschen
ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."

Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zaehle darauf, Nachbar, im
naechsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die alten,
guten Nachbarn. Es wuerde mir grossen Kummer machen, wenn ein Zwang
gegen Euch muesste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf,
dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgesoehnt
mit Gott und den Menschen."

Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."

"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Tuer
hinaus und den Berg hinunter.

Der Alm-Oehi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
wollen wir zur Grossmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
fragte: "Gehen wir heut zur Grossmutter?", war er noch gleich kurz von
Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch bevor die
Schuesselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein
Besuch zur Tuer herein, es war die Base Dete. Sie hatte einen schoenen
Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein Kleid, das alles
mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhuette lag da allerlei,
das nicht an ein Kleid gehoerte. Der Oehi schaute sie an von oben bis
unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete hatte im Sinn, ein sehr
freundliches Gespraech zu fuehren, denn sie fing an zu ruehmen und
sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr gekannt
und man koenne schon sehen, dass es ihm nicht schlecht gegangen sei
beim Grossvater. Sie habe aber gewiss auch immer darauf gedacht, es
ihm wieder abzunehmen, denn sie habe ja schon begreifen koennen, dass
ihm das Kleine im Weg sein muesse, aber in jenem Augenblick habe sie
es ja nirgends sonst hintun koennen; seitdem aber habe sie Tag und
Nacht nachgesonnen, wo sie das Kind etwa unterbringen koennte,
und deswegen komme sie auch heute, denn auf einmal habe sie etwas
vernommen, da koenne das Heidi zu einem solchen Glueck kommen, dass
sie es gar nicht habe glauben wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle
der Sache nachgegangen, und nun koenne sie sagen, es sei alles so
gut wie in Richtigkeit, das Heidi komme zu einem Glueck wie unter
Hunderttausenden nicht eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer
Herrschaft, die fast im schoensten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die
haben ein einziges Toechterlein, das muesse immer im Rollstuhl sitzen,
denn es sei auf einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es
fast immer allein und muesse auch allen Unterricht allein nehmen bei
einem Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst haette es
gern eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei
ihrer Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden koennte, wie
die Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft fuehrte, denn ihre
Herrschaft habe viel Mitgefuehl und moechte dem kranken Toechterlein
eine gute Gespielin goennen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt, sie
wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das nicht sei
wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst denn auf der
Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen und habe der
Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem Charakter, und
die Dame habe sogleich zugesagt. Nun koenne gar kein Mensch wissen,
was dem Heidi alles an Glueck und Wohlfahrt bevorstehe, denn wenn es
dann einmal dort sei und die Leute es gern moegen und es etwa mit dem
eigenen Toechterchen etwas geben sollte - man koenne ja nie wissen, es
sei doch so schwaechlich -, und wenn eben die Leute doch nicht ohne
ein Kind bleiben wollten, so koennte ja das unerhoerteste Glueck -

"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Oehi, der bis dahin kein
Wort dazwischengeredet hatte.

"Pah", gab die Dete zurueck und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
wie wenn ich Euch das ordinaerste Zeug gesagt haette, und ist doch
durchs ganze Praettigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht braechte, die ich Euch
gebracht habe."

"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Oehi
trocken.

Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn Ihr
es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich es
meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und weiss
nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in keine
Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten
im Doerfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab es
zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glueck
erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wuenscht.
Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe ich
alle fuer mich, es ist kein Einziger unten im Doerfli, der nicht mir
hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen
lassen, so besinnt Euch wohl, Oehi; es gibt noch Sachen, die Euch dann
koennten aufgewaermt werden, die Ihr nicht gern hoertet, denn wenn
man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch manches
aufgespuert, an das keiner mehr denkt."

"Schweig!", donnerte der Oehi heraus, und seine Augen flammten wie
Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich
will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im Mund wie
dich heut!"

Der Oehi ging mit grossen Schritten zur Tuer hinaus.

"Du hast den Grossvater boes gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.

"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", draengte die Base; "wo sind
deine Kleider?"

"Ich komme nicht", sagte Heidi.

"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann aenderte sie den Ton ein
wenig und fuhr halb freundlich, halb aergerlich weiter: "Komm, komm,
du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
nicht weisst." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor
und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein Huetchen, es
sieht nicht schoen aus, aber es ist gleich fuer einmal, setz es auf
und mach, dass wir fortkommen."

"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.

"Sei doch nicht so dumm und stoerrig wie eine Geiss; denen hast du's
abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Grossvater boes, du hast's
ja gehoert, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor Augen
kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und jetzt musst
du ihn nicht noch boeser machen. Du weisst gar nicht, wie schoen
es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und gefaellt es
dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin ist der
Grossvater dann wieder gut."

"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
Heidi.

"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim, wann du
willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und morgen frueh
sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im Augenblick
wieder daheim, das geht wie geflogen."

Die Base Dete hatte das Buendelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.

Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
Doerfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nuetze nichts, dahin zu
gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
und grosse Ruten suchen nuetze etwas, denn diese koenne man brauchen.
So kam er eben in der Naehe seiner Huette von der Seite her mit
sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
ungeheures Buendel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er stand
still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei ihm
ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"

"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Grossmutter hinein, sie wartet
auf mich."

"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spaet", sagte die Base
eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du kannst
dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit zog die
Base das Heidi fest weiter und liess es nicht mehr los, denn sie
fuerchtete, es koenne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen, es
wolle nicht fort, und die Grossmutter koenne ihm helfen wollen. Der
Peter sprang in die Huette hinein und schlug mit seinem ganzen Buendel
Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte und die
Grossmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut aufjammerte.
Der Peter hatte sich Luft machen muessen.

"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Grossmutter, und
die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen war bei
dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli; warum
tust so wuest?"

"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklaerte Peter.

"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Grossmutter jetzt mit
neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
gesehen zum Alm-Oehi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
Grossmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"

Die beiden Laufenden hoerten die Stimme, und die Dete mochte wohl
ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Grossmutter hat
gerufen, ich will zu ihr."

Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind, es
solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spaet kaemen,
sondern dass sie morgen weiterreisen koennten, es koennte ja dann
sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie mehr
fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so koenne es ja gleich
gehen und dann erst noch der Grossmutter etwas mit heimbringen, was
sie freue. Das war eine Aussicht fuer Heidi, die ihm gefiel. Es fing
an zu laufen ohne Widerstreben.

"Was kann ich der Grossmutter heimbringen?", fragte es nach einer
Welle.

"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schoene, weiche Weissbroetchen, da
wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze Brot
fast nicht mehr essen."

"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir zu
hart'; das habe ich selbst gesehen", bestaetigte das Heidi. "So wollen
wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir vielleicht heut noch
nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin mit den Broetchen."

Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Buendel auf
dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es so
rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Haeusern vom
Doerfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief sie
stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer Hand,
dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes willen so
pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und Anrufungen, die
ihr aus allen Fenstern und Tueren entgegentoenten, nur immer zurueck:
"Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen, das Kind pressiert
und wir haben noch weit."

"Nimmst's mit?" - "Laeuft's dem Alm-Oehi fort?" - "Es ist nur ein
Wunder, dass es noch am Leben ist!" - "Und dazu noch so rotbackig!"
So toente es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi kein
Wort sagte, sondern nur immer vorwaerts strebte in grossem Eifer. -

Von dem Tage an machte der Alm-Oehi, wenn er herunterkam und durchs
Doerfli ging, ein boeseres Gesicht als je zuvor. Er gruesste keinen
Menschen und sah mit seinem Kaesereff auf dem Ruecken, mit dem
ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken Brauen
so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: "Gib
Acht! Geh dem Alm-Oehi aus dem Weg, er koennte dir noch etwas tun!"

Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Doerfli, er ging nur durch
und weit ins Tal hinab, wo er seinen Kaese verhandelte und seine
Vorraete an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
im Doerfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trueppchen
zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Oehi
gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
Menschen mehr auch nur einen Gruss abnehme, und alle kamen darin
ueberein, dass es ein grosses Glueck sei, dass das Kind habe
entweichen koennen, und man habe auch wohl gesehen, wie es
fortgedraengt habe, so, als fuerchte es, der Alte sei schon hinter
ihm drein, um es zurueckzuholen. Nur die blinde Grossmutter hielt
unverrueckt zum Alm-Oehi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen
zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzaehlte sie es immer
wieder, wie gut und sorgfaeltig der Alm-Oehi mit dem Kind gewesen sei
und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie manchen Nachmittag
er an ihrem Haeuschen herumgeflickt, das ohne seine Hilfe gewiss schon
zusammengefallen waere. So kamen denn auch diese Berichte ins Doerfli
herunter; aber die meisten, die sie vernahmen, sagten dann, die
Grossmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl
nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut
hoeren, weil sie nichts mehr sehe.

Der Alm-Oehi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geissenpeters; es
war gut, dass er die Huette so fest zusammengenagelt hatte, denn
sie blieb fuer lange Zeit ganz unberuehrt. Jetzt begann die blinde
Grossmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute und
alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur
noch einmal das Heidi hoeren koennte, eh ich sterben muss!"



Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge

Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Toechterlein,
Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag sich
aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestossen wurde. Jetzt sass
es im so genannten Studierzimmer, das neben der grossen Essstube lag
und wo vielerlei Geraetschaften herumstanden und -lagen, die das
Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier gewoehnlich sich
aufhielt. An dem grossen, schoenen Buecherschrank mit den Glastueren
konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte und dass es wohl
der Raum war, wo dem lahmen Toechterchen der taegliche Unterricht
erteilt wurde.

Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die grosse
Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit
ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch nicht Zeit,
Fraeulein Rottenmeier?"

Die Letztere sass sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Huelle um sich, einen grossen
Kragen oder Halbmantel, welcher der Persoenlichkeit einen feierlichen
Anstrich verlieh, der noch erhoeht wurde durch eine Art von hoch
gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fraeulein Rottenmeier war
schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des Hauses gestorben war,
im Hause Sesemann, fuehrte die Wirtschaft und hatte die Oberaufsicht
ueber das ganze Dienstpersonal.

Herr Sesemann war meistens auf Reisen, ueberliess daher dem Fraeulein
Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
Toechterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen
Wunsch geschehen duerfe.

Waehrend oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fraeulein
Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da die Erwarteten
erscheinen konnten, stand unten vor der Haustuer die Dete mit Heidi an
der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben vom Wagen gestiegen
war, ob sie wohl Fraeulein Rottenmeier so spaet noch stoeren duerfe.

"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie den
Sebastian herunter, drinnen im Korridor."

Dete tat, wie ihr geheissen war, und der Bediente des Hauses kam die
Treppe herunter mit grossen, runden Knoepfen auf seinem Aufwaerterrock
und fast ebenso grossen runden Augen im Kopfe.

"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fraeulein Rottenmeier noch
stoeren duerfe", brachte die Dete wieder an.

"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurueck; "klingeln Sie
die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne weitere
Auskunft verschwand der Sebastian.

Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
Tinette mit einem blendend weissen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes
und einer spoettischen Miene auf dem Gesicht.

"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"

Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete hoeflich an
der Tuer stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie war
gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem so
fremden Boden.

Fraeulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
naeher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte
sein einfaches Baumwollroeckchen an und sein altes, zerdruecktes
Strohhuetchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter
hervor und betrachtete mit unverhehlter Verwunderung den Turmbau auf
dem Kopf der Dame.

"Wie heissest du?", fragte Fraeulein Rottenmeier, nachdem auch sie
einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein Auge
von ihr verwandte.

"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.

"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So bist
du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe
erhalten?", fragte Fraeulein Rottenmeier weiter.

"Das weiss ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.

"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschuetteln.
"Jungfer Dete, ist das Kind einfaeltig oder schnippisch?"

"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern reden
fuer das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete, nachdem
sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoss gegeben hatte fuer die
unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfaeltig und auch nicht
schnippisch, davon weiss es gar nichts; es meint alles so, wie es
redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und kennt
die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht ungelehrig, wenn
die Dame wollte guetige Nachsicht haben. Es ist Adelheid getauft
worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."

"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
Fraeulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch sagen,
dass mir das Kind fuer sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen
mitgeteilt, die Gespielin fuer Fraeulein Klara muesste in ihrem Alter
sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und ueberhaupt ihre
Beschaeftigungen zu teilen. Fraeulein Klara hat das zwoelfte Jahr
zurueckgelegt; wie alt ist das Kind?"

"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war mir
eben selber nicht mehr so ganz gegenwaertig, wie alt es sei; es ist
wirklich ein wenig juenger, viel trifft es nicht an, ich kann's so
ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so noch
etwas dazu sein, nehm ich an."

"Jetzt bin ich acht, der Grossvater hat's gesagt", erklaerte Heidi.
Die Base stiess es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
und wurde keineswegs verlegen.

"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fraeulein Rottenmeier mit einiger
Entruestung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und was
hast du denn gelernt? Was hast du fuer Buecher gehabt bei deinem
Unterricht?"

"Keine", sagte Heidi.

"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame weiter.

"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
Heidi.

"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
lesen!", rief Fraeulein Rottenmeier im hoechsten Schrecken aus. "Ist
es die Moeglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"

"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemaess.

"Jungfer Dete", sagte Fraeulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
konnten Sie mir dieses Wesen zufuehren?" Aber die Dete liess sich
nicht so bald einschuechtern; sie antwortete herzhaft: "Mit Erlaubnis
der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie haben wolle;
die Dame hat mir beschrieben, wie es sein muesse, so ganz apart und
nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine nehmen, denn die
Groesseren sind bei uns dann nicht mehr so apart, und ich dachte,
dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung. Jetzt muss ich aber
gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich will, wenn's meine
Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und nachsehen, wie es geht mit
ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur Tuer hinaus und die Treppe
hinunter mit schnellen Schritten. Fraeulein Rottenmeier stand einen
Augenblick noch da, dann lief sie der Dete nach; es war ihr wohl in
den Sinn gekommen, dass sie noch eine Menge von Dingen mit der Base
besprechen wollte, wenn das Kind wirklich dableiben sollte, und da war
es doch nun einmal und, wie sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn,
es dazulassen.

Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tuer, wo es von Anfang an
gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus schweigend
allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"

Heidi trat an den Rollstuhl heran.

"Willst du lieber Heidi heissen oder Adelheid?", fragte Klara.

"Ich heisse nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.

"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefaellt
mir fuer dich, ich habe ihn aber nie gehoert, ich habe aber auch nie
ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so kurzes,
krauses Haar gehabt?"

"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.

"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.

"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der Grossmutter
weisse Broetchen!", erklaerte Heidi.

"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat dich
ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir bleibest und
die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird nun ganz lustig,
weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas ganz Neues in den
Stunden vor. Sonst ist es manchmal so schrecklich langweilig und der
Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn siehst du, alle Morgen um
zehn Uhr kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und
dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch
manchmal das Buch ganz nahe ans Gesicht heran, so, als waere er auf
einmal ganz kurzsichtig geworden, aber er gaehnt nur furchtbar hinter
dem Buch, und Fraeulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr
grosses Taschentuch hervor und haelt es vor das ganze Gesicht hin, so,
als sei sie ganz ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiss
recht gut, dass sie nur ganz schrecklich gaehnt dahinter, und dann
sollte ich auch so stark gaehnen und muss es immer hinunterschlucken,
denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgaehne, so holt Fraeulein
Rottenmeier gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch lieber
Gaehnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann
zuhoeren, wie du lesen lernst."

Heidi schuettelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen
hoerte.

"Doch, doch, Heidi, natuerlich musst du lesen lernen, alle Menschen
muessen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals boese,
und er erklaert dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
erklaert, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
und gar nichts sagen, sonst erklaert er dir noch viel mehr und du
verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas gelernt
hast und es weisst, dann verstehst du schon, was er gemeint hat."

Jetzt kam Fraeulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurueck; sie hatte
Dete nicht mehr zurueckrufen koennen und war sichtlich aufgeregt
davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlaesslich sagen
koennen, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rueckgaengig zu
machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
hinueber, und von da wieder zurueck, und kehrte dann unmittelbar
wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen eben
nachdenklich ueber den gedeckten Tisch gleiten liess, um zu sehen, ob
sein Werk keinen Mangel habe.

"Denk Er morgen Seine grossen Gedanken fertig und mach Er, dass man
heut noch zu Tische komme."

Mit diesen Worten fuhr Fraeulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die Jungfer
Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte als sonst
gewoehnlich - und sich mit so spoettischem Gesicht hinstellte, dass
selbst Fraeulein Rottenmeier nicht wagte, sie anzufahren; umso mehr
schlug ihr die Aufregung nach innen.

"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
nehmen Sie noch den Staub von den Moebeln weg."

"Es ist der Muehe wert", spoettelte Tinette und ging.

Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltueren zum Studierzimmer mit
ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fraeulein
Rottenmeier gegenueber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
um den Rollstuhl hinueberzustossen. Waehrend er den Griff hinten am
Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf einmal
fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?", schnurrte er
Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan, haette er
Fraeulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der Schwelle
stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du siehst dem
Geissenpeter gleich."

Entsetzt schlug die Dame ihre Haende zusammen. "Ist es die
Moeglichkeit!", stoehnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"

Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.

Fraeulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi,
es sollte den Platz ihr gegenueber einnehmen. Sonst kam niemand
zu Tische, und es war viel Platz da; die drei sassen auch weit
auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schuessel zum Anbieten guten
Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schoenes, weisses Broetchen;
das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die Aehnlichkeit, die
Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen fuer den Sebastian
erweckt haben, denn es sass maeuschenstill und ruehrte sich nicht, bis
er mit der grossen Schuessel zu ihm herantrat und ihm die gebratenen
Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das Broetchen und fragte: "Kann
ich das haben?" Sebastian nickte und warf dabei einen Seitenblick auf
Fraeulein Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was die Frage fuer einen
Eindruck auf sie mache. Augenblicklich ergriff Heidi sein Broetchen
und steckte es in die Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das
Lachen kam ihn an; er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt
war. Stumm und unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn
reden durfte er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man
sich bedient hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu,
dann fragte es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte
wieder. "So gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller.
Sebastians Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schuessel in seinen
Haenden fing an gefaehrlich zu zittern.

"Er kann die Schuessel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen",
sagte jetzt Fraeulein Rottenmeier mit strengem Gesicht. Sebastian
verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich ueberall die ersten
Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr Fraeulein Rottenmeier mit
tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich dir zeigen, wie man sich am
Tische bedient", und nun machte die Dame deutlich und eingehend alles
vor, was Heidi zu tun hatte. "Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir
hauptsaechlich bemerken, dass du am Tisch nicht mit Sebastian zu
sprechen hast, auch sonst nur dann, wenn du einen Auftrag oder eine
notwendige Frage an ihn zu richten hast; dann aber nennst du ihn nie
mehr anders als _Sie_ oder _Er_, hoerst du? Dass ich dich niemals
mehr ihn anders nennen hoere. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer
Tinette. Mich nennst du so, wie du mich von allen nennen hoerst; wie
du Klara nennen sollst, wird sie selbst bestimmen."

"Natuerlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
von Verhaltungsmassregeln, ueber Aufstehen und Zubettegehen, ueber
Hereintreten und Hinausgehen, ueber Ordnunghalten, Tuerenschliessen,
und ueber alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute vor
fuenf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte
sich an den Sesselruecken und schlief ein. Als dann nach laengerer
Zeit Fraeulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
recht begriffen?"

"Heidi schlaeft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
Gesicht, denn das Abendessen war fuer sie seit langer Zeit nie so
kurzweilig verflossen.

"Es ist doch voellig unerhoert, was man mit diesem Kind erlebt!", rief
Fraeulein Rottenmeier in grossem Aerger und klingelte so heftig, dass
Tinette und Sebastian miteinander herbeigestuerzt kamen; aber trotz
allen Laerms erwachte Heidi nicht, und man hatte die groesste Muehe,
es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach gebracht
werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch Klaras
Schlafstube, dann durch die Stube von Fraeulein Rottenmeier zu dem
Eckzimmer, das nun fuer Heidi eingerichtet war.



Fraeulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag

Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug, konnte
es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz gewaltig
seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es sass auf
einem hohen, weissen Bett und vor sich sah es einen grossen, weiten
Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weisse Vorhaenge,
und dabei standen zwei Sessel mit grossen Blumen darauf, und dann kam
ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein runder Tisch davor,
und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie Heidi sie
noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn,
dass es in Frankfurt sei, und der ganze gestrige Tag kam ihm in
Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die Unterweisungen der Dame,
soweit es sie gehoert hatte. Heidi sprang nun von seinem Bett herunter
und machte sich fertig. Dann ging es an ein Fenster und dann an das
andere; es musste den Himmel sehen und die Erde draussen, es fuehlte
sich wie im Kaefig hinter den grossen Vorhaengen. Es konnte diese
nicht wegschieben; so kroch es dahinter, um an ein Fenster zu kommen.
Aber dieses war so hoch, dass Heidi nur gerade mit dem Kopf so weit
hinaufreichte, dass es durchsehen konnte. Aber Heidi fand nicht, was
es suchte. Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum
ersten zurueck; aber immer war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und
Fenster und wieder Mauern und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz
bange. Noch war es frueh am Morgen, denn Heidi war gewoehnt, frueh
aufzustehen auf der Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tuer
und zu sehen, wie's draussen sei, ob der Himmel blau und die Sonne
schon droben sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon
die Augen offen haben. Wie das Voegelein, das zum ersten Mal in seinem
schoen glaenzenden Gefaengnis sitzt, hin und her schiesst und bei
allen Staeben probiert, ob es nicht dazwischen durchschluepfen und in
die Freiheit hinausfliegen koenne, so lief Heidi immer von dem einen
Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
koenne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das gruene Gras und der
letzte schmelzende Schnee an den Abhaengen zum Vorschein kommen,
und Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
Kraft haette, sie aufzudruecken; es blieb alles eisenfest aufeinander
sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle Anstrengungen
nichts halfen, gab es seinen Plan auf und ueberdachte nun, wie es
waere, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf
den Grasboden kaeme, denn es erinnerte sich, dass es gestern Abend
vorn am Haus nur ueber Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an seiner
Tuer und unmittelbar darauf steckte Tinette den Kopf herein und sagte
kurz: "Fruehstueck bereit!"

Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf dem
spoettischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung, ihr
nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben,
und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und richtete sich danach.
Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch empor, stellte ihn in eine
Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen
wuerde. Nach einiger Zeit kam etwas mit ziemlichem Geraeusch, es war
Fraeulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung geraten war und
in Heidis Stube hineinrief: "Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du
nicht, was ein Fruehstueck ist? Komm herueber!"

Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer sass
Klara schon lang an ihrem Platz und begruesste Heidi freundlich,
machte auch ein viel vergnuegteres Gesicht als sonst gewoehnlich, denn
sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen wuerde. Das
Fruehstueck ging nun ohne Stoerung vor sich; Heidi ass ganz anstaendig
sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara wieder
ins Studierzimmer hinuebergerollt und Heidi wurde von Fraeulein
Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu bleiben, bis der
Herr Kandidat kommen wuerde, um die Unterrichtsstunden zu beginnen.
Als die beiden Kinder allein waren, sagte Heidi sogleich: "Wie kann
man hinaussehen hier und ganz hinunter auf den Boden?"

"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
belustigt.

"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.

"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann dir
auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so macht
er dir schon eines auf."

Das war eine grosse Erleichterung fuer Heidi zu wissen, dass man doch
die Fenster oeffnen und hinausschauen koenne, denn noch war es ganz
unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara fing
nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und Heidi
erzaehlte mit Freuden von der Alm und den Geissen und der Weide und
allem, was ihm lieb war.

Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fraeulein
Rottenmeier fuehrte ihn nicht, wie gewoehnlich, ins Studierzimmer,
denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in grosser
Aufregung ihre bedraengte Lage schilderte und wie sie in diese
hineingekommen war.

Sie hatte naemlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe laengst
gewuenscht, es moechte eine Gespielin fuer sie ins Haus aufgenommen
werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
Unterrichtsstunden ein Sporn, in der uebrigen Zeit eine anregende
Gesellschaft fuer Klara sein wuerde. Eigentlich war die Sache fuer
Fraeulein Rottenmeier selbst sehr wuenschbar, denn sie wollte gern,
dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
abnehme, wenn es ihr zu viel war, was oefters geschah. Herr Sesemann
hatte geantwortet, er erfuelle gern den Wunsch seiner Tochter, doch
mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in allem ganz gehalten
werde wie jene, er wolle keine Kinderquaelerei in seinem Hause - "was
freilich eine sehr unnuetze Bemerkung von dem Herrn war", setzte
Fraeulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte Kinder quaelen!" Nun
aber erzaehlte sie weiter, wie ganz erschrecklich sie hineingefallen
sei mit dem Kinde, und fuehrte alle Beispiele von seinem voellig
begriffslosen Dasein an, die es bis jetzt geliefert hatte, dass
nicht nur der Unterricht des Herrn Kandidaten buchstaeblich beim
Abc anfangen muesse, sondern dass auch sie auf jedem Punkte der
menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu beginnen haette. Aus dieser
unheilvollen Lage sehe sie nur ein Rettungsmittel: Wenn der Herr
Kandidat erklaeren werde, zwei so verschiedene Wesen koennten
nicht miteinander unterrichtet werden ohne grossen Schaden des
vorgerueckteren Teiles; das waere fuer Herrn Sesemann ein triftiger
Grund, die Sache rueckgaengig zu machen, und so wuerde er zugeben,
dass das Kind gleich wieder dahin zurueckgeschickt wuerde, woher
es gekommen war; ohne seine Zustimmung aber duerfte sie das nicht
unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass das Kind angekommen sei.
Aber der Herr Kandidat war behutsam und niemals einseitig im Urteilen.
Er troestete Fraeulein Rottenmeier mit vielen Worten und der Ansicht,
wenn die junge Tochter auf der einen Seite so zurueck sei, so moechte
sie auf der anderen umso gefoerderter sein, was bei einem geregelten
Unterricht bald ins Gleichgewicht kommen werde. Als Fraeulein
Rottenmeier sah, dass der Herr Kandidat sie nicht unterstuetzen,
sondern seinen Abc-Unterricht uebernehmen wollte, machte sie ihm die
Tuer zum Studierzimmer auf, und nachdem er hereingetreten war, schloss
sie schnell hinter ihm zu und blieb auf der anderen Seite, denn
vor dem Abc hatte sie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit grossen
Schritten im Zimmer auf und nieder, denn sie hatte zu ueberlegen, wie
die Dienstboten Adelheid zu benennen haetten. Herr Sesemann hatte ja
geschrieben, sie muesste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses
Wort musste sich hauptsaechlich auf das Verhaeltnis zu den Dienstboten
beziehen, dachte Fraeulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht
lange ungestoert ueberlegen, denn auf einmal ertoente drinnen im
Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstaende und
dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stuerzte hinein. Da lag auf
dem Boden alles uebereinander, die saemtlichen Studien-Hilfsmittel,
Buecher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der Tischteppich, unter dem
ein schwarzes Tintenbaechlein hervorfloss, die ganze Stube entlang.
Heidi war verschwunden.

"Da haben wir's", rief Fraeulein Rottenmeier haenderingend aus.
"Teppich, Buecher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch nie
geschehen! Das ist das Unglueckswesen, da ist kein Zweifel!"

Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
Verwuestung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
bestuerzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnuegtem Gesicht
die ungewoehnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
erklaerend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht,
es muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich
eilig, fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
eine Kutsche gesehen."

"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhoeren und still zu sitzen
hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen
waere! Was wuerde mir Herr Sesemann -"

Fraeulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter
der geoeffneten Haustuer, stand Heidi und guckte ganz verbluefft die
Strasse auf und ab.

"Was ist denn? Was faellt dir denn ein? Wie kannst du so
davonlaufen!", fuhr Fraeulein Rottenmeier das Kind an.

"Ich habe die Tannen rauschen gehoert, aber ich weiss nicht, wo sie
stehen, und hoere sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
enttaeuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt
war, das in Heidis Ohren dem Tosen des Foehns in den Tannen aehnlich
geklungen hatte, so dass es in hoechster Freude dem Ton nachgerannt
war.

"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das fuer Einfaelle! Komm herauf
und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fraeulein Rottenmeier
wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun sehr
verwundert vor der grossen Verheerung, denn es hatte nicht gemerkt,
was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu hoeren.

"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
sagte Fraeulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen sitzt
man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das nicht selbst
fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl festbinden. Kannst du
das verstehen?"

"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn jetzt
hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer Unterrichtsstunde
still zu sitzen.

Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der weitere
Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gaehnen war heute gar
keine Zeit gewesen.

Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte
alsdann seine Beschaeftigung selbst zu waehlen; so hatte Fraeulein
Rottenmeier ihm am Morgen erklaert. Als nun nach Tisch Klara sich in
ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fraeulein Rottenmeier nach
ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da war, da es seine
Beschaeftigung selbst waehlen konnte. Das war dem Heidi sehr
erwuenscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu unternehmen;
es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum vor das
Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persoenlichkeit, die es
zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen koenne. Richtig, nach kurzer
Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem grossen Teebrett auf den
Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der Kueche herauf, um es im
Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der
Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und sagte mit grosser
Deutlichkeit: "Sie oder Er!"

Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur moeglich war, und
sagte ziemlich barsch: "Was soll das heissen, Mamsell?"

"Ich moechte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Boeses
wie heute Morgen", fuegte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es merkte,
dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von
der Tinte am Boden her.

"So, und warum muss es denn heissen Sie oder Er, das moecht ich zuerst
wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurueck.

"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fraeulein
Rottenmeier hat es befohlen."

Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber Sebastian
hatte auf einmal begriffen, was Fraeulein Rottenmeier befohlen hatte,
und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so fahre die Mamsell nur
zu."

"Ich heisse gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein wenig
geaergert; "ich heisse Heidi."

"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich Mamsell
sage", erklaerte Sebastian.

"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heissen", sagte Heidi mit
Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen musste,
wie Fraeulein Rottenmeier befahl.

"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer hinzu.

"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian jetzt,
indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im Schrank
zurechtlegte.

"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"

"So, gerade so", und er machte den grossen Fensterfluegel auf.

Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu koennen; es
langte nur bis zum Gesims hinauf.

"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hoelzernen Schemel
herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und
konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem
Ausdruck der groessten Enttaeuschung zog es sogleich den Kopf wieder
zurueck.

"Man sieht nur die steinerne Strasse hier, sonst gar nichts", sagte
das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht, was
sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"

"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.

"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
kann ueber das ganze Tal hinab?"

"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so
einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt
man von oben herunter und sieht weit ueber alles weg."

Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tuer
hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Strasse hinaus. Aber die
Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus dem
Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es koenne nur ueber
die Strasse gehen, so muesste er gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi
die ganze Strasse hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn
auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Strasse hinein
und weiter und weiter, aber immer noch sah es den Turm nicht. Es
gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass
Heidi dachte, sie haetten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah
es an der naechsten Strassenecke einen Jungen stehen, der eine kleine
Drehorgel auf dem Ruecken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme
trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: "Wo ist der Turm mit der
goldenen Kugel zuoberst?"

"Weiss nicht", war die Antwort.

"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.

"Weiss nicht."

"Weisst du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"

"Freilich weiss ich eine."

"So komm und zeige mir sie."

"Zeig du zuerst, was du mir dafuer gibst." Der Junge hielt seine Hand
hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen
hervor, darauf ein schoenes Kraenzchen von roten Rosen gemalt war;
erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi
ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber
hinuntersehen ins Tal, ueber die gruenen Abhaenge! "Da", sagte Heidi
und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"

Der Junge zog die Hand zurueck und schuettelte den Kopf.

"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnuegt sein
Bildchen wieder ein.

"Geld."

"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
willst du?"

"Zwanzig Pfennige."

"So komm jetzt."

Nun wanderten die beiden eine lange Strasse hin, und auf dem Wege
fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Ruecken trage, und er
erklaerte ihm, es sei eine schoene Orgel unter dem Tuch, die mache
eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.

Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
Junge stand still und sagte: "Da."

"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
verschlossenen Tueren sah.

"Weiss nicht", war wieder die Antwort.

"Glaubst du, man koenne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"

"Weiss nicht."

Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen
Kraeften daran.

"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiss
jetzt den Weg nicht mehr zurueck, du musst mir ihn dann zeigen."

"Was gibst du mir dann?"

"Was muss ich dir dann wieder geben?"

"Wieder zwanzig Pfennige."

Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tuer
geoeffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert,
dann ziemlich erzuernt auf die Kinder und fuhr sie an: "Was untersteht
ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Koennt ihr nicht lesen, was
ueber der Klingel steht: 'Fuer solche, die den Turm besteigen
wollen'?"

Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."

"Was hast du droben zu tun?", fragte der Tuermer; "hat dich jemand
geschickt?"

"Nein", entgegnete Heidi, "ich moechte nur hinaufgehen, dass ich
hinuntersehen kann."

"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spass nicht wieder,
oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich der
Tuermer um und wollte die Tuer zumachen.

Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoss und sagte bittend: "Nur
ein einziges Mal!"

Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und sagte
freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit mir!"

Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tuer nieder
und zeigte, dass er nicht mitwollte.

Heidi stieg an der Hand des Tuermers viele, viele Treppen hinauf; dann
wurden diese immer schmaeler, und endlich ging es noch ein ganz enges
Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Tuermer hob Heidi vom
Boden auf und hielt es an das offene Fenster.

"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.

Heidi sah auf ein Meer von Daechern, Tuermen und Schornsteinen nieder;
es zog bald seinen Kopf zurueck und sagte niedergeschlagen: "Es ist
gar nicht, wie ich gemeint habe."

"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So, komm
nun wieder herunter und laeute nie mehr an einem Turm!"

Der Tuermer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran die
schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tuer,
die in des Tuermers Stuebchen fuehrte, und nebenan ging der Boden bis
unter das schraege Dach hin. Dort hinten stand ein grosser Korb und
davor sass eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte
ihre Familie und sie wollte jeden Voruebergehenden davor warnen, sich
in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi stand still und
schaute verwundert hinueber, eine so maechtige Katze hatte es noch
nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze Herden von Maeusen,
so holte sich die Katze ohne Muehe jeden Tag ein halbes Dutzend
Maeusebraten. Der Tuermer sah Heidis Bewunderung und sagte: "Komm, sie
tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die Jungen ansehen."

Heidi trat an den Korb heran und brach in ein grosses Entzuecken aus.

"Oh, die netten Tierlein! Die schoenen Kaetzchen!", rief es ein Mal
ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
alle komischen Gebaerden und Spruenge zu sehen, welche die sieben
oder acht jungen Kaetzchen vollfuehrten, die in dem Korb rastlos
uebereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.

"Willst du eins haben?", fragte der Tuermer, der Heidis
Freudenspruengen vergnuegt zuschaute.

"Selbst fuer mich? Fuer immer?", fragte Heidi gespannt und konnte das
grosse Glueck fast nicht glauben.

"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
Leid antun musste.

Heidi war im hoechsten Glueck. In dem grossen Hause hatten ja die
Kaetzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!

"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
schnell einige fangen mit seinen Haenden, aber die dicke Katze sprang
ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr erschrocken
zurueckfuhr.

"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Tuermer, der
die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn sie
war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem Turm
gelebt.

"Zum Herrn Sesemann in dem grossen Haus, wo an der Haustuer ein
goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklaerte
Heidi.

Es haette nicht einmal so viel gebraucht fuer den Tuermer, der schon
seit langen Jahren auf dem Turm sass und jedes Haus weithin kannte,
und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.

"Ich weiss schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger bringen,
bei wem muss ich nachfragen, du gehoerst doch nicht Herrn Sesemann?"

"Nein, aber die Klara, sie hat eine so grosse Freude, wenn die
Kaetzchen kommen!"

Der Tuermer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.

"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen koennte! Eins fuer mich
und eins fuer Klara, kann ich nicht?"

"So wart ein wenig", sagte der Tuermer, trug dann die alte
Katze behutsam in sein Stuebchen hinein und stellte sie an das
Essschuesselchen hin, schloss die Tuer vor ihr zu und kam zurueck:
"So, nun nimm zwei!"

Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weisses und dann ein
gelb und weiss gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und eins
in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.

Der Junge sass noch auf den Stufen draussen, und als nun der Tuermer
hinter Heidi die Tuer zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
Weg muessen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"

"Weiss nicht", war die Antwort.

Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustuer und die
Fenster und die Treppen, aber der Junge schuettelte zu allem den Kopf,
es war ihm alles unbekannt.

"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem Fenster
sieht man ein grosses, grosses, graues Haus und das Dach geht so" -
Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger grosse Zacken in die Luft
hinaus.

Jetzt sprang der Junge auf, er mochte aehnliche Merkmale haben, seine
Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi hinter ihm
drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustuer mit
dem grossen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien
Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er draengend: "Schnell!
Schnell!"

Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tuer zu; den
Jungen, der verbluefft draussen stand, hatte er gar nicht bemerkt.

"Schnell, Mamsellchen", draengte Sebastian weiter, "gleich ins
Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fraeulein Rottenmeier
sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
Mamsell an, so fortzulaufen?"

Heidi war ins Zimmer getreten. Fraeulein Rottenmeier blickte nicht
auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
Sebastian rueckte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf seinem
Stuhl sass, begann Fraeulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und
einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher mit dir
sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen, wirklich
strafbar benommen, dass du das Haus verlaesst, ohne zu fragen, ohne
dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst bis zum spaeten
Abend; es ist eine voellig beispiellose Auffuehrung."

"Miau", toente es wie als Antwort zurueck.

Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in immer
hoeheren Toenen, "du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit
einen schlechten Spass zu machen? Huete dich wohl, sag ich dir!"

"Ich mache", fing Heidi an - "Miau! Miau!"

Sebastian warf fast seine Schuessel auf den Tisch und stuerzte hinaus.

"Es ist genug", wollte Fraeulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung
toente ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass das Zimmer."

Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch einmal
erklaeren: "Ich mache gewiss" - "Miau! Miau! Miau!"

"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
Fraeulein Rottenmeier so boese machst, warum machst du immer wieder
'miau'?"

"Ich mache nicht, die Kaetzlein machen", konnte Heidi endlich
ungestoert hervorbringen.

"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fraeulein Rottenmeier auf.
"Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft sie fort!"
Damit stuerzte die Dame ins Studierzimmer hinein und riegelte die
Tueren zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren fuer Fraeulein
Rottenmeier das Schrecklichste in der Schoepfung. Sebastian stand
draussen vor der Tuer und musste erst fertig lachen, eh er wieder
eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen
Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und sah dem
Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich nicht mehr
halten, kaum noch seine Schuessel auf den Tisch setzen. Endlich trat
er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die Hilferufe der
geaengsteten Dame schon laengere Zeit verklungen waren. Jetzt sah es
ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Kaetzchen auf
ihrem Schoss, Heidi kniete neben ihr und beide spielten mit grosser
Wonne mit den zwei winzigen, grazioesen Tierchen.

"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie muessen uns
helfen; Sie muessen ein Nest finden fuer die Kaetzchen, wo Fraeulein
Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fuerchtet sich vor ihnen und
will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen behalten
und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo kann man sie
hintun?"

"Das will ich schon besorgen, Fraeulein Klara", entgegnete Sebastian
bereitwillig; "ich mache ein schoenes Bettchen in einem Korb und
stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
Arbeit und kicherte bestaendig vor sich hin, denn er dachte: "Das
wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern, wenn
Fraeulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.

Nach laengerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens nahte,
machte Fraeulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tuer auf und
rief durch das Spaeltchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
fortgeschafft?"

"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurueck, der sich im Zimmer zu
schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und leise
fasste er die beiden Kaetzchen auf Klaras Schoss und verschwand damit.

Die besondere Strafrede, die Fraeulein Rottenmeier Heidi noch zu
halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
fuehlte sie sich zu erschoepft nach all den vorhergegangenen
Gemuetsbewegungen von Aerger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich schweigend
zurueck, und Klara und Heidi folgten vergnuegt nach, denn sie wussten
ihre Kaetzchen in einem guten Bett.



Im Hause Sesemann geht's unruhig zu

Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustuer
geoeffnet und ihn zum Studierzimmer gefuehrt hatte, zog schon wieder
jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian die
Treppe voellig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur der
Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen sein." Er
riss die Tuer auf - ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem
Ruecken stand vor ihm.

"Was soll das heissen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich lehren,
Glocken herunterzureissen! Was hast du hier zu tun?"

"Ich muss zur Klara", war die Antwort.

"Du ungewaschener Strassenkaefer du; kannst du nicht sagen 'Fraeulein
Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fraeulein Klara zu tun?",
fragte Sebastian barsch.

"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklaerte der Junge.

"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weisst du ueberhaupt,
dass ein Fraeulein Klara hier ist?"

"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder
zurueck den Weg gezeigt, macht vierzig."

"Da siehst du, was fuer Zeug du zusammenflunkerst; Fraeulein Klara
geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst, wo
du hingehoerst, bevor ich dir dazu verhelfe!"

Aber der Junge liess sich nicht einschuechtern; er blieb unbeweglich
stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Strasse,
ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
kann nicht reden wie wir."

"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach und
warte vor der Tuer, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann
einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fraeulein hoert es
gern."

Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.

"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fraeulein Klara selbst etwas zu
bestellen hat", berichtete Sebastian.

Klara war sehr erfreut ueber das aussergewoehnliche Ereignis.

"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."

Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
seine Orgel zu drehen an. Fraeulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
einmal horchte sie auf. - Kamen die Toene von der Strasse her? Aber so
nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertoenen? Und
dennoch - wahrhaftig - sie stuerzte durch das lange Esszimmer und riss
die Tuer auf. Da - unglaublich - da stand mitten im Studierzimmer
ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit groesster
Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen,
aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hoerten mit ganz
erfreuten Gesichtern der Musik zu.

"Aufhoeren! Sofort aufhoeren!", rief Fraeulein Rottenmeier ins Zimmer
hinein. Ihre Stimme wurde uebertoent von der Musik. Jetzt lief sie auf
den Jungen zu - aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Fuessen,
sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr
zwischen den Fuessen durch - eine Schildkroete. Jetzt tat Fraeulein
Rottenmeier einen Sprung in die Hoehe, wie sie seit vielen Jahren
keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskraeften: "Sebastian!
Sebastian!"

Ploetzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme
die Musik uebertoent. Sebastian stand draussen vor der halb offenen
Tuer und kruemmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der
Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fraeulein Rottenmeier war
auf einen Stuhl niedergesunken.

"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkroete erfasst hatte,
drueckte ihm draussen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig fuer
Fraeulein Klara, und vierzig fuers Spielen, das hast du gut gemacht";
damit schloss er hinter ihm die Haustuer. Im Studierzimmer war es
wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
Fraeulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
um durch ihre Gegenwart aehnliche Graeuel zu verhueten. Den Vorfall
wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen
so bestrafen, dass er daran denken wuerde.

Schon wieder klopfte es an die Tuer, und herein trat abermals
Sebastian mit der Nachricht, es sei ein grosser Korb gebracht worden,
der sogleich an Fraeulein Klara selbst abzugeben sei.

"An mich?", fragte Klara erstaunt und aeusserst neugierig, was das
sein moechte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."

Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann
eilig wieder.

"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
ausgepackt", bemerkte Fraeulein Rottenmeier.

Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
schaute sehr verlangend nach dem Korb.

"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
unterbrechend, "koennte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"

"In einer Hinsicht koennte man dafuer, in einer anderen dawider sein",
entgegnete der Herr Kandidat; "_dafuer_ spraeche der Grund, dass, wenn
nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist -";
die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes sass nur
lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder
zwei und immer noch mehr junge Kaetzchen darunter hervor und ins
Zimmer hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren
sie ueberall herum, dass es war, als waere das ganze Zimmer voll
solcher Tierchen. Sie sprangen ueber die Stiefel des Herrn Kandidaten,
bissen an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fraeulein
Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Fuesse herum, sprangen an
Klaras Sessel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges
Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzuecken: "Oh, die niedlichen
Tierchen! Die lustigen Spruenge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh
dieses!" Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
den andern Fuss in die Hoehe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
entziehen. Fraeulein Rottenmeier sass erst sprachlos vor Entsetzen
in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskraeften zu schreien:
"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel aufzustehen
konnte sie unmoeglich wagen, da konnten ja mit einem Mal alle die
kleinen Scheusale an ihr emporspringen.

Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
Geschoepfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
Katzenlager, das er fuer die zwei von gestern bereitet hatte.

Auch am heutigen Tage hatte kein Gaehnen waehrend der
Unterrichtsstunden stattgefunden. Am spaeten Abend, als Fraeulein
Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlaenglich
erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
herauf, um hier eine gruendliche Untersuchung ueber die strafwuerdigen
Vorgaenge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
seinem gestrigen Ausflug die saemtlichen Ereignisse vorbereitet und
herbeigefuehrt hatte. Fraeulein Rottenmeier sass weiss vor Entruestung
da und konnte erst keine Worte fuer ihre Empfindungen finden. Sie
winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel stand
und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.

"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiss nur _eine_ Strafe,
die dir empfindlich sein koennte, denn du bist eine Barbarin; aber wir
wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten
nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr einfallen
laesst."

Heidi hoerte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstossende Raum in
der Almhuette, den der Grossvater Keller nannte, wo immer die fertigen
Kaese lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmutiger und
einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen.

Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fraeulein
Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzaehlen,
und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."

Gegen diesen Oberrichter durfte Fraeulein Rottenmeier nichts
einwenden, umso weniger, da er wirklich in Baelde zu erwarten war. Sie
stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich werde
ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verliess sie das Zimmer.

Es verflossen nun ein paar ungestoerte Tage, aber Fraeulein
Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stuendlich trat
ihr die Taeuschung vor Augen, die sie in Heidis Persoenlichkeit erlebt
hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im Hause
Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein.
Klara war sehr vergnuegt; sie langweilte sich nie mehr, denn in
den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten Sachen; die
Buchstaben machte es immer alle durcheinander und konnte sie nie
kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im Erklaeren und
Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher zu machen und
als Vergleichung etwa von einem Hoernchen oder einem Schnabel sprach
dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es ist eine Geiss!",
oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die Beschreibungen weckten in
seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben. In den
spaeteren Nachmittagsstunden sass Heidi wieder bei Klara und erzaehlte
ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange,
bis das Verlangen darnach in ihm so brennend wurde, dass es immer zum
Schluss versicherte: "Nun muss ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich
gewiss gehen!" Aber Klara beschwichtigte immer wieder diese Anfaelle
und bewies Heidi, dass es doch sicher dableiben muesse, bis der Papa
komme; dann werde man schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi
alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half
ihm eine froehliche Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit
jedem Tage, den es noch dablieb, sein Haeuflein Broetchen fuer die
Grossmutter wieder um zwei groesser wuerde, denn mittags und abends
lag immer ein schoenes Weissbroetchen bei seinem Teller; das steckte
es gleich ein, denn es haette das Broetchen nie essen koennen beim
Gedanken, dass die Grossmutter nie eines habe und das harte, schwarze
Brot fast nicht mehr essen konnte. Nach Tisch sass Heidi jeden Tag ein
paar Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht,
denn dass es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es
auf der Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
Sebastian drueben im Esszimmer ein Gespraech fuehren durfte es auch
nicht, das hatte Fraeulein Rottenmeier auch verboten, und mit Tinette
eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es ging ihr
immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in hoehnischem Ton mit
ihm und spoettelte es fortwaehrend an, und Heidi verstand ihre Art
ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete. So sass Heidi
taeglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie nun die
Alm wieder gruen war und wie die gelben Bluemchen im Sonnenschein
glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne, der Schnee und
die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte es manchmal fast
nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base
hatte ja auch gesagt, es koenne wieder heimgehen, wann es wolle. So
kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in
aller Eile seine Broetchen in das grosse rote Halstuch zusammen,
setzte sein Strohhuetchen auf und zog aus. Aber schon unter der
Haustuer traf es auf ein grosses Reisehindernis, auf Fraeulein
Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang zurueckkehrte. Sie
stand still und schaute in starrem Erstaunen Heidi von oben bis unten
an, und ihr Blick blieb vorzueglich auf dem gefuellten roten Halstuch
haften. Jetzt brach sie los.

"Was ist das fuer ein Aufzug? Was heisst das ueberhaupt? Habe ich dir
nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probierst du's
doch wieder und dazu noch voellig aussehend wie eine Landstreicherin."

"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
entgegnete Heidi erschrocken.

"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fraeulein Rottenmeier
schlug die Haende zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen! Wenn das Herr
Sesemann wuesste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach nicht, dass er das
je erfaehrt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst
du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an
irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung oder einen
Tisch oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? Sag!"

"Nein", entgegnete Heidi.

"Das weiss ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
lauter Wohlsein weisst du nicht, was du noch alles anstellen willst!"

Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
muss das Schneehoeppli immer klagen, und die Grossmutter erwartet
mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geissenpeter
keinen Kaese bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
obenueber fliegen wuerde, so wuerde er noch viel lauter kraechzen,
dass so viele Menschen beieinander sitzen und einander boes machen und
nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."

"Barmherzigkeit, das Kind ist uebergeschnappt!", rief Fraeulein
Rottenmeier aus und stuerzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
"Holen Sie auf der Stelle das unglueckliche Wesen herauf!", rief sie
ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestossen.

"Ja, ja, schon recht, danke schoen", gab Sebastian zurueck und rieb
sich den seinen, denn er war noch haerter angefahren.

Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
zitterte vor innerer Erregung am ganzen Koerper.

"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als
er aber Heidi, das sich nicht ruehrte, recht ansah, klopfte er ihm
freundlich auf die Schulter und sagte troestend: "Pah! Pah! Das muss
sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist
die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf
gerannt; aber nur nicht einschuechtern lassen! Na? Immer noch auf
demselben Fleck? Wir muessen hinauf, sie hat's befohlen."

Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu sehen;
er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu ihm: "Nur
nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer darauf zu!
Wir haben ja ein ganz vernuenftiges Mamsellchen, hat noch gar nie
geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja zwoelfmal im Tag in
dem Alter, das kennt man. Die Kaetzchen sind auch lustig droben, die
springen auf dem ganzen Estrich herum und tun wie naerrisch. Nachher
gehen wir mal zusammen hinauf und schauen ihnen zu, wenn die Dame
drinnen weg ist, ja?"

Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.

Am Abendessen heute sagte Fraeulein Rottenmeier kein Wort, aber
fortwaehrend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinueber,
so als erwartete sie, es koennte ploetzlich etwas Unerhoertes
unternehmen; aber Heidi sass maeuschenstill am Tisch und ruehrte sich
nicht, es ass nicht und trank nicht; nur sein Broetchen hatte es
schnell in die Tasche gesteckt.

Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
winkte ihn Fraeulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
und hier teilte sie ihm in grosser Aufregung ihre Besorgnis mit, die
Luftveraenderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindruecke
haetten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzaehlte ihm von
Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden,
was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besaenftigte und beruhigte
Fraeulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er die
Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings
eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand,
so dass sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung
das noetige Gleichgewicht einstellen koenne, was er im Auge habe; er
finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus nicht ueber das Abc
hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande
sei.

Fraeulein Rottenmeier fuehlte sich beruhigter und entliess den Herrn
Kandidaten zu seiner Arbeit. Am spaeteren Nachmittag stieg ihr die
Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf,
und sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
Kleidungsstuecke der Klara in den noetigen Stand zu setzen, bevor Herr
Sesemann erscheinen wuerde. Sie teilte ihre Gedanken darueber an Klara
mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge
Kleider und Tuecher und Huete schenken wollte, verfuegte sich die
Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu
untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt
werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zurueck mit
Gebaerden des Abscheus. "Was muss ich entdecken, Adelheid!", rief sie
aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank
fuer Kleider, Adelheid, im Fuss dieses Schrankes, was finde ich? Einen
Haufen kleiner Brote! Brot, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und
einen solchen Haufen aufspeichern!" - "Tinette", rief sie jetzt ins
Esszimmer hinaus, "schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank
der Adelheid und den zerdrueckten Strohhut auf dem Tisch!"

"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
Broetchen sind fuer die Grossmutter", und Heidi wollte der Tinette
nachstuerzen, aber es wurde von Fraeulein Rottenmeier festgehalten.

"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehoert",
sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurueck. Aber nun warf sich
Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal ums
andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Grossmutter keine Broetchen
mehr. Sie waren fuer die Grossmutter, nun sind sie alle fort und die
Grossmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als wollte ihm das
Herz zerspringen. Fraeulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es
angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi, weine nur nicht so",
sagte sie bittend, "hoer mich nur! Jammere nur nicht so, sieh, ich
verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel Broetchen fuer die
Grossmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind
diese frisch und weich, und die deinen waeren ja ganz hart geworden
und waren es schon. Komm, Heidi, weine nur nicht mehr so!"

Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber
es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst haette es gar
nicht mehr zu weinen aufhoeren koennen. Es musste auch noch mehrere
Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die letzten
Anfaelle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir so viele,
viele, wie ich hatte, fuer die Grossmutter?"

Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
sei nur wieder froh!"

Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als es
sein Broetchen erblickte, musste es gleich noch einmal aufschluchzen.
Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, dass es sich
am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian machte heute jedes Mal die
merkwuerdigsten Gebaerden, wenn er in Heidis Naehe kam; er deutete
bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff
die Augen zu, so als wollte er sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon
gemerkt und besorgt."

Als Heidi spaeter in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
lag sein zerdruecktes Strohhuetchen unter der Decke versteckt.
Mit Entzuecken zog es den alten Hut hervor, zerdrueckte ihn vor
lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
Taschentuechlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
Schrankes. Das Huetchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt;
er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen, als diese
gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er
Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit
ihrer Brotlast und dem Huetchen oben darauf, hatte er schnell dieses
weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon forttun." Darauf
hatte er es in aller Freude fuer Heidi gerettet, was er ihm beim
Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.



Der Hausherr hoert allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehoert
hat

Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann grosse
Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
eben war der Hausherr von seiner Reise zurueckgekehrt, und aus dem
bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
schoener Sachen mit nach Hause.

Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
um sie zu begruessen. Heidi sass bei ihr, denn es war die Zeit des
spaeten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
begruesste ihren Vater mit grosser Zaertlichkeit, denn sie liebte
ihn sehr, und der gute Papa gruesste sein Klaerchen nicht weniger
liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das sich
leise in eine Ecke zurueckgezogen hatte, und sagte freundlich: "Und
das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine Hand! So
ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde zusammen,
Klara und du? Nicht zanken und boese werden, und dann weinen und dann
versoehnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"

"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.

"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf Klara
schnell ein.

"So ist's gut, das hoer ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
"Nun musst du aber erlauben, Klaerchen, dass ich etwas geniesse; heute
habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu dir und du
sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"

Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fraeulein Rottenmeier den
Tisch ueberschaute, der fuer sein Mittagsmahl geruestet war. Nachdem
Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenueber Platz
genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte sich
der Hausherr zu ihr: "Aber Fraeulein Rottenmeier, was muss ich denken?
Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes Gesicht
aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klaerchen ist ganz munter."

"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist mit
betroffen, wir sind fuerchterlich getaeuscht worden."

"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen Schluck
Wein.

"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
Gespielin fuer Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiss, wie sehr
Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte
ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermaedchen gerichtet, indem
ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen
ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft entsprossen,
sozusagen, ohne die Erde zu beruehren, durch das Leben gehen."

"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
Schweizerkinder den Erdboden beruehren, wenn sie vorwaerts kommen
wollen; sonst waeren ihnen wohl Fluegel gewachsen statt der Fuesse."

"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fraeulein
fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns
vorueberziehen."

"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
Fraeulein Rottenmeier?"

"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
getaeuscht worden."

"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich sieht
mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.

"Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_,
mit was fuer Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
Abwesenheit bevoelkert hat; davon koennte der Herr Kandidat
erzaehlen."

"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fraeulein Rottenmeier?"

"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Auffuehrung dieses Wesens
waere nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
Anfaelle von voelliger Verstandesgestoertheit hat."

Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht fuer wichtig gehalten;
aber Gestoertheit des Verstandes? Eine solche konnte ja fuer seine
Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann schaute
Fraeulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich erst
versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Stoerung zu bemerken
sei. In diesem Augenblick wurde die Tuer aufgetan und der Herr
Kandidat angemeldet.

"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee mit
mir, Fraeulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich - keine
Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist mit dem
Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen ist und das
Sie unterrichten. Was hat es fuer eine Bewandtnis mit den Tieren, die
es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem Verstand?"

Der Herr Kandidat musste erst seine Freude ueber Herrn Sesemanns
glueckliche Rueckkehr aussprechen und ihn willkommen heissen, weswegen
er ja gekommen war; aber Herr Sesemann draengte ihn, dass er ihm
Aufschluss gebe ueber die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr
Kandidat: "Wenn ich mich ueber das Wesen dieses jungen Maedchens
aussprechen soll, Herr Sesemann, so moechte ich vor allem darauf
aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein Mangel
der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachlaessigte
Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspaeteten Unterricht
verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht
in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil ihre guten
Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines laengeren
Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse Dauer
ueberschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite -"

"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie geben
sich wirklich zu viel Muehe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind
einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und was halten
Sie ueberhaupt von diesem Umgang fuer mein Toechterchen?"

"Ich moechte dem jungen Maedchen in keiner Art zu nahe treten", begann
der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen Seite in
einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr
oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das junge Maedchen bis
zu dem Augenblick seiner Versetzung nach Frankfurt sich bewegte,
welche Versetzung allerdings in die Entwicklung dieses, ich moechte
sagen noch voellig, wenigstens teilweise unentwickelten, aber
anderseits mit nicht zu verachtenden Anlagen begabten und wenn
allseitig umsichtig geleitet -"

"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
stoeren, ich werde - ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tuer hinaus und kam nicht wieder.
Drueben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Toechterchen hin;
Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kinde um:
"Hoer mal, Kleine, hol mir doch schnell - wart einmal - hol mir mal" -
(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er bedurfte, Heidi sollte aber
ein wenig ausgeschickt werden) - "hol mir doch mal ein Glas Wasser."

"Frisches?", fragte Heidi.

"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurueck. Heidi
verschwand.

"Nun, mein liebes Klaerchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
sein Toechterchen heranrueckte und dessen Hand in die seinige legte,
"sag du mir klar und fasslich: Was fuer Tiere hat diese deine
Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fraeulein Rottenmeier
denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir das
sagen?"

Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von Heidis
sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber fuer Klara alle einen
Sinn hatten. Sie erzaehlte erst dem Vater die Geschichten von der
Schildkroete und den jungen Katzen und erklaerte ihm dann Heidis
Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach Haus
schicke, Klaerchen, du bist seiner nicht muede?", fragte der Vater.

"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und Heidi
erzaehlt mir auch so viel."

"Schon gut, schon gut, Klaerchen, da kommt ja auch deine Freundin
schon wieder. Na, schoenes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.

"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.

"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte Klara.

"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Strasse ganz
hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging ich in
die andere Strasse hinein und dort nahm ich Wasser, und der Herr mit
den weissen Haaren laesst Herrn Sesemann freundlich gruessen."

"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist denn
der Herr?"

"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte: 'Weil
du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu trinken; wem bringst
du dein Glas Wasser?' Und ich sagte: 'Herrn Sesemann.' Da lachte er
sehr stark, und dann sagte er den Gruss und auch noch, Herr Sesemann
solle sich's schmecken lassen."

"So, und wer laesst mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah der
Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.

"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes
Ding haengt daran mit einem grossen roten Stein und auf seinem Stock
ist ein Rosskopf."

"Das ist der Herr Doktor" - "Das ist mein alter Doktor", sagten Klara
und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte noch
ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und dessen
Betrachtungen ueber diese neue Weise, seinen Wasserbedarf sich
zufuehren zu lassen.

Noch an demselben Abend erklaerte Herr Sesemann, als er allein mit
Fraeulein Rottenmeier im Esszimmer sass, um allerlei haeusliche
Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
angenehmer als jede andere. "Ich wuensche daher", setzte Herr Sesemann
sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus freundlich
behandelt und seine Eigentuemlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet
werden. Sollten Sie uebrigens mit dem Kinde nicht allein fertig
werden, Fraeulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe fuer Sie
in Aussicht, da in naechster Zeit meine Mutter zu ihrem laengeren
Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem
Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen Sie ja wohl,
Fraeulein Rottenmeier?"

"Jawohl, das weiss ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
angezeigte Hilfe. -

Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause, schon
nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschaefte wieder nach Paris,
und er troestete sein Toechterchen, das mit der nahen Abreise nicht
einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft der
Grossmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.

Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem alten
Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft auf den
folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geschickt
wuerde, um sie abzuholen.

Klara war voller Freude ueber die Nachricht und erzaehlte noch an
demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Grossmama, dass
Heidi auch anfing, von der 'Grossmama' zu reden, worauf Fraeulein
Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was aber das Kind auf
nichts Besonderes bezog, denn es fuehlte sich unter fortdauernder
Missbilligung der Dame. Als es sich dann spaeter entfernte, um in sein
Schlafzimmer zu gehen, berief Fraeulein Rottenmeier es erst in das
ihrige herein und erklaerte ihm hier, es habe niemals den Namen
'Grossmama' anzuwenden, sondern wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es
sie stets 'gnaedige Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die
Dame, als Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
abschliessenden Blick zurueck, dass Heidi sich keine Erklaerung mehr
erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.



Eine Grossmama

Am folgenden Abend waren grosse Erwartungen und lebhafte
Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
mitzusprechen hatte und dass jedermann grossen Respekt vor ihr
empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weisses Deckelchen auf den Kopf
gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen und
stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen
Schemel unter den Fuessen finde, wohin sie sich auch setzen moege.
Fraeulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge sehr aufrecht
durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite
Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erloeschen sei.

Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
stuerzten die Treppe hinunter; langsam und wuerdevoll folgte Fraeulein
Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der Frau
Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein
Zimmer zurueckzuziehen und da zu warten, bis es gerufen wuerde, denn
die Grossmutter wuerde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl
allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und repetierte
seine Anrede. Es waehrte gar nicht lange, so steckte die Tinette den
Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertuer und sagte kurz angebunden
wie immer: "Hinuebergehen ins Studierzimmer!"

Heidi hatte Fraeulein Rottenmeier nicht fragen duerfen, wie es mit der
Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn
es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehoert und nachher den
Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tuer
zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Grossmutter mit freundlicher
Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und
lass dich recht ansehen."

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich:
"Guten Tag, Frau Gnaedige."

"Warum nicht gar!", lachte die Grossmama. "Sagt man so bei euch? Hast
du das daheim auf der Alp gehoert?"

"Nein, bei uns heisst niemand so", erklaerte Heidi ernsthaft.

"So, bei uns auch nicht", lachte die Grossmama wieder und klopfte
Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der Kinderstube
bin ich die Grossmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl
behalten, wie?"

"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon immer
so gesagt."

"So, so, verstehe schon!", sagte die Grossmama und nickte ganz lustig
mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu
Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in
die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, dass es dem Heidi
ganz wohl machte, und die ganze Grossmama gefiel dem Heidi so, dass es
sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte so schoene weisse Haare,
und um den Kopf ging eine schoene Spitzenkrause, und zwei breite
Baender flatterten von der Haube weg und bewegten sich immer
irgendwie, so als ob stets ein leichter Wind um die Grossmama wehe,
was das Heidi ganz besonders anmutete.

"Und wie heisst du, Kind?", fragte jetzt die Grossmama.

"Ich heisse nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heissen, so will
ich schon Acht geben -"; Heidi stockte, denn es fuehlte sich ein
wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fraeulein
Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
nicht recht gegenwaertig war, dass dies sein Name sei, und Fraeulein
Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.

"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
Eingetretene ein, "dass ich einen Namen waehlen musste, den man doch
aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu muessen, schon um der
Dienstboten willen."

"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
einmal 'Heidi' heisst und an den Namen gewoehnt ist, so nenn ich ihn
so, und dabei bleibt's!"

Es war Fraeulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
bestaendig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da
war nichts zu machen; die Grossmama hatte einmal ihre eigenen Wege,
und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fuenf Sinne
hatte die Grossmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was
im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.

Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
Tisch niederlegte, setzte die Grossmama sich neben sie auf einen
Lehnstuhl und schloss ihre Augen fuer einige Minuten; dann stand sie
schon wieder auf - denn sie war gleich wieder munter - und trat ins
Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schlaeft", sagte sie vor sich
hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte
kraeftig an die Tuer. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr
erschrocken ein wenig zurueck bei dem unerwarteten Besuch.

"Wo haelt sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das wollte
ich wissen", sagte Frau Sesemann.

"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nuetzlich beschaeftigen
koennte, wenn es den leisesten Taetigkeitstrieb haette; aber Frau
Sesemann sollte nur wissen, was fuer verkehrtes Zeug sich dieses Wesen
oft ausdenkt und wirklich ausfuehrt, Dinge, die ich in gebildeter
Gesellschaft kaum erzaehlen koennte."

"Das wuerde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen saesse wie
dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie koennten zusehen, wie
Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzaehlen wollten! Jetzt
holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
ich will ihm einige huebsche Buecher geben, die ich mitgebracht habe."

"Das ist ja gerade das Unglueck, das ist es ja eben!", rief Fraeulein
Rottenmeier aus und schlug die Haende zusammen. "Was sollte das Kind
mit Buechern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das Abc
erlernt; es ist voellig unmoeglich, diesem Wesen auch nur _einen_
Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser
treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besaesse,
er haette diesen Unterricht laengst aufgegeben."

"So, das ist merkwuerdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das
Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen Sie mir's
herueber, es kann vorlaeufig die Bilder in den Buechern ansehen."

Fraeulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann
hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie musste
sich sehr verwundern ueber die Nachricht von Heidis Beschraenktheit
und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn
Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr
schaetzte; sie gruesste ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf,
ueberaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere
Seite, um nicht in ein Gespraech mit ihm verwickelt zu werden, denn
seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.

Heidi erschien im Zimmer der Grossmama und machte die Augen weit auf,
als es die praechtigen bunten Bilder in den grossen Buechern sah,
welche die Grossmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
laut auf, als die Grossmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
gluehendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stuerzten ihm
ploetzlich die hellen Traenen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
schluchzen an. Die Grossmama schaute das Bild an. Es war eine schoene,
gruene Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den gruenen
Gebueschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab
gestuetzt, der schaute den froehlichen Tierchen zu. Alles war wie in
Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im
Untergehen.

Die Grossmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte sie
in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich
wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schoene Geschichte
dazu, die erzaehl ich heut Abend. Und da sind noch so viele schoene
Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wieder erzaehlen.
Komm, nun muessen wir etwas besprechen zusammen, trockne schoen deine
Traenen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, dass ich dich recht
ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir wieder froehlich."

Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhoeren
konnte. Die Grossmama liess ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur
sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun sind
wir wieder froh zusammen."

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
was erzaehlen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"

"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass man
es nicht lernen kann."

"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"

"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."

"Das waere! Und woher weisst du denn diese Neuigkeit?"

"Der Peter hat es mir gesagt und er weiss es schon, der muss immer
wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."

"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muss
nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muss
selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen Gedanken
dem Herrn Kandidaten zugehoert und seine Buchstaben angesehen."

"Es nuetzt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung
in das Unabaenderliche.

"Heidi", sagte nun die Grossmama, "jetzt will ich dir etwas sagen: Du
hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun
aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, dass du
in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine grosse Menge von Kindern,
die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun musst du
wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst - du hast den
Hirten gesehen auf der schoenen, gruenen Weide -; sobald du nun lesen
kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte
vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzaehlte, alles, was er
macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm fuer merkwuerdige
Dinge begegnen. Das moechtest du schon wissen, Heidi, nicht?"

Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehoert, und mit
leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich nur
schon lesen koennte!"

"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's waehren, das kann
ich schon sehen, Heidi, und nun muessen wir mal nach der Klara sehen;
komm, die schoenen Buecher nehmen wir mit." Damit nahm die Grossmama
Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.

Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fraeulein
Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie
schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und
wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem
Kinde eine Veraenderung vorgegangen. Es hatte begriffen, dass es
nicht heimgehen koenne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte,
sondern dass es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht
fuer immer. Es hatte auch verstanden, dass Herr Sesemann es sehr
undankbar von ihm finden wuerde, wenn es heimgehen wollte, und es
dachte sich aus, dass die Grossmama und Klara auch so denken wuerden.
So durfte es keinem Menschen sagen, dass es heimgehen moechte, denn
dass die Grossmama, die so freundlich mit ihm war, auch boese wuerde,
wie Fraeulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht
verursachen. Aber in seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag,
immer schwerer; es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein
wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen,
denn sobald es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so
lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die
Blumen; und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die
roten Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der
Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller
Freude hinausspringen aus der Huette - da war es auf einmal in seinem
grossen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr
heim. Dann drueckte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte
lang, ganz leise, dass niemand es hoere.

Heidis freudloser Zustand entging der Grossmama nicht. Sie liess
einige Tage voruebergehen und sah zu, ob die Sache sich aendere und
das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren wuerde. Als es aber
gleich blieb und die Grossmama manchmal am fruehen Morgen schon sehen
konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das Kind
wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit grosser
Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast du einen
Kummer?"

Aber gerade dieser freundlichen Grossmama wollte Heidi nicht sich
so undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
freundlich waere; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."

"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Grossmama.

"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
ungluecklich aus, dass es die Grossmama erbarmte.

"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem
lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann
allem Leid abhelfen, das uns drueckt. Das verstehst du, nicht wahr? Du
betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankst ihm fuer
alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem Boesen behuete?"

"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.

"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weisst du nicht, was das ist?"

"Nur mit der ersten Grossmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
lang, und jetzt habe ich es vergessen."

"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar
niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das
tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drueckt und quaelt und
man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles
sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen
kann! Und er kann ueberall helfen und uns geben, was uns wieder froh
macht."

Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles, alles
sagen?"

"Alles, Heidi, alles."

Das Kind zog seine Hand aus den Haenden der Grossmama und sagte eilig:
"Kann ich gehen?"

"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
hinueber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
nieder und faltete seine Haende und sagte dem lieben Gott alles, was
in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
Grossvater. -

Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage,
als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu
machen, indem er eine Besprechung ueber einen merkwuerdigen Gegenstand
mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und
hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich
die Hand entgegen: "Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir
willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier" - sie rueckte ihm den
Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch
nichts Schlimmes, keine Klagen?"

"Im Gegenteil, gnaedige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist etwas
vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen
Blick in alles Vorhergegangene haette werfen koennen, denn nach allen
Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine voellige
Unmoeglichkeit sein muesse, was dennoch jetzt wirklich geschehen
ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im
Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden -"

"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
setzte hier Frau Sesemann ein.

In sprachlosem Erstaunen schaute der ueberraschte Herr die Dame an.

"Es ist ja wirklich voellig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
dass das junge Maedchen nach all meinen gruendlichen Erklaerungen, und
ungewoehnlichen Bemuehungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch
und besonders, dass es jetzt in kuerzester Zeit, nachdem ich mich
entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne
alle weiter greifenden Erlaeuterungen nur noch sozusagen die nackten
Buchstaben vor die Augen des jungen Maedchens zu bringen, sozusagen
ueber Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer
Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfaengern noch selten
vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass
die gnaedige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Moeglichkeit
vermutete."

"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestaetigte
Frau Sesemann und laechelte vergnueglich; "es koennen auch einmal zwei
Dinge gluecklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
neue Lehrmethode, und beide koennen nichts schaden, Herr Kandidat.
Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten
Fortgang hoffen."

Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tuer hinaus und ging
rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
Nachricht zu versichern. Richtig sass hier Heidi neben Klara und
las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem groessten
Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend,
die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen
Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu
herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich
zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das grosse Buch liegen
mit den schoenen Bildern, und als es fragend nach der Grossmama
blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja, nun gehoert es dir."

"Fuer immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
Freude.

"Gewiss, fuer immer!", versicherte die Grossmama; "morgen fangen wir
an zu lesen."

"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf Klara
hier ein; "wenn nun die Grossmama wieder fortgeht, dann musst du erst
recht bei mir bleiben."

Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schoenes
Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, ueber seinem
Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die
schoenen bunten Bilder gehoerten. Sagte am Abend die Grossmama: "Nun
liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr beglueckt, denn das Lesen
ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas,
so kamen sie ihm noch viel schoener und verstaendlicher vor, und die
Grossmama erklaerte dann noch so vieles und erzaehlte immer noch mehr
dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine gruene Weide und
den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnueglich, auf seinen
langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schoenen
Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schaefchen und Ziegen nach,
weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus
weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hueten musste
und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu
essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so
golden, da war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild
zu der Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus
dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen,
um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
Erklaerungen bekommen, welche die Grossmama den Kindern dazu machte.
Da waren aber noch so viele schoene Geschichten in dem Buch, und bei
dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell
dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Grossmama zu ihrer
Abreise bestimmt hatte.



Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

Die Grossmama hatte waehrend der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fraeulein Rottenmeier,
wahrscheinlich der Ruhe beduerftig, geheimnisvoll verschwand, sich
einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fuenf Minuten
war sie wieder auf den Fuessen und hatte dann immer Heidi auf ihre
Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise
beschaeftigt und unterhalten. Die Grossmama hatte huebsche kleine
Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und Schuerzchen
macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Naehen erlernt und machte
den kleinen Frauenzimmern die schoensten Roecke und Maentelchen, denn
die Grossmama hatte immer Zeugstuecke von den praechtigsten Farben.
Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer wieder der Grossmama
seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die groesste Freude, denn
je mehr es seine Geschichten las, desto lieber wurden sie ihm, denn
Heidi lebte alles ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben
hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein sehr nahes Verhaeltnis und
freute sich immer wieder, bei ihnen zu sein. Aber so recht froh sah
Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.

Es war die letzte Woche, welche die Grossmama in Frankfurt zubringen
wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit seinem
grossen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Grossmama, dass es ganz
nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun komm,
Kind, und sag mir, warum bist du nicht froehlich? Hast du immer noch
denselben Kummer im Herzen?"

"Ja", nickte Heidi.

"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"

"Ja."

"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
mache?"

"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."

"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hoeren? Warum betest du denn
nicht mehr?"

"Es nuetzt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehoert, und ich glaube
es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
gewiss gar nicht gehoert."

"So, wie weisst du denn das so sicher, Heidi?"

"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
liebe Gott hat es nie getan."

"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du,
der liebe Gott ist fuer uns alle ein guter Vater, der immer weiss,
was gut fuer uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber nun
etwas von ihm haben wollen, das nicht gut fuer uns ist, so gibt er uns
das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht
herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles
Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten
wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut fuer dich; der liebe
Gott hat dich schon gehoert, er kann alle Menschen auf einmal anhoeren
und uebersehen, siehst du, dafuer ist er der liebe Gott und nicht ein
Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl wusste, was fuer dich
gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das Heidi soll schon einmal haben,
wofuer es bittet, aber erst dann, wenn es ihm gut ist, und so wie es
darueber recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt tue, was es will,
und es merkt nachher, dass es doch besser gewesen waere, ich haette
ihm seinen Willen nicht getan, dann weint es nachher und sagt: Haette
mir doch der liebe Gott nur nicht gegeben, wofuer ich bat, es ist gar
nicht so gut, wie ich gemeint habe.' Und waehrend nun der liebe Gott
auf dich niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und taeglich zu
ihm kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas
fehlt, da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr
gebetet und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
einer es so macht und der liebe Gott hoert seine Stimme gar nie mehr
unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und laesst ihn gehen,
wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner Mitleiden mit
ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja selbst vom lieben Gott
weggelaufen, der dir helfen konnte!' Willst du's so haben, Heidi, oder
willst du gleich wieder zum lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung
bitten, dass du so von ihm weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm
beten und ihm vertrauen, dass er alles gut fuer dich machen werde, so
dass du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannst?"

Heidi hatte sehr aufmerksam zugehoert; jedes Wort der Grossmama fiel
in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.

"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte Heidi
reumuetig.

"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei
nur getrost!", ermunterte die Grossmama, und Heidi lief sofort in sein
Zimmer hinueber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und
bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm
niederschauen moege. -

Der Tag der Abreise war gekommen, es war fuer Klara und Heidi ein
trauriger Tag; aber die Grossmama wusste es so einzurichten, dass sie
gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein trauriger Tag
sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die gute Grossmama im
Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hause ein, als waere
alles vorueber, und solange noch der Tag waehrte, sassen Klara und
Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es nun weiter kommen
sollte.

Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
war, da die Kinder gewoehnlich zusammensassen, trat Heidi mit seinem
Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
vorlesen; willst du, Klara?"

Der Klara war der Vorschlag recht fuer einmal, und Heidi machte sich
mit Eifer an seine Taetigkeit. Aber es ging nicht lange, so hoerte
schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen
begonnen, die von einer sterbenden Grossmutter handelte, als es auf
einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Grossmutter tot!", und in ein
jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las, war dem Heidi
volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun sei die
Grossmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer lauterem
Weinen: "Nun ist die Grossmutter tot, und ich kann nie mehr zu ihr
gehen, und sie hat nicht ein einziges Broetchen mehr bekommen!"

Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklaeren, dass es ja nicht die
Grossmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war, dem
aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es sich
doch nicht beruhigen und weinte immer noch untroestlich weiter, denn
der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Grossmutter koenne ja
sterben, waehrend es so weit weg sei, und der Grossvater auch noch,
und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so sei alles
still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und koenne
niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.

Waehrenddessen war Fraeulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und hatte
noch Klaras Bemuehungen, Heidi ueber seinen Irrtum aufzuklaeren, mit
angehoert. Als das Kind aber immer noch nicht aufhoeren konnte zu
schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch ein
einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbruechen den
Lauf laesst, so nehme ich das Buch aus deinen Haenden und fuer immer!"

Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiss vor Schrecken, das Buch
war sein hoechster Schatz. Es trocknete in groesster Eile seine
Traenen und schluckte und wuergte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
so dass kein Toenchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal hatte
es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu ueberwinden und nicht
aufzuschreien, dass Klara oefter ganz erstaunt sagte: "Heidi, du
machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe." Aber
die Grimassen machten keinen Laerm und fielen der Dame Rottenmeier
nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller
Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles wieder ins Geleise fuer
einige Zeit und war tonlos voruebergegangen. Aber seinen Appetit
verlor Heidi so sehr und sah so mager und bleich aus, dass der
Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so mit anzusehen und Zeuge
sein zu muessen, wie Heidi bei Tisch die schoensten Gerichte an sich
voruebergehen liess und nichts essen wollte. Er fluesterte ihm auch
oefter ermunternd zu, wenn er ihm eine Schuessel hinhielt: "Nehmen von
dem, Mamsellchen, 's ist vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Loeffel
voll, noch einen!", und dergleichen vaeterlicher Raete mehr; aber es
half nichts: Heidi ass fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend
auf sein Kissen legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was
daheim war, und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein
Kissen hinein, so dass es gar niemand hoeren konnte.

So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer oder
Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen Fenstern des
Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und hinaus kam es
nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit
ihr gemacht werden konnte, die aber immer sehr kurz war, denn Klara
konnte nicht vertragen, lang zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern
und Steinstrassen heraus, sondern kehrte gewoehnlich vorher wieder
um und fuhr immerfort durch grosse, schoene Strassen, wo Haeuser und
Menschen in Fuelle zu sehen waren, aber nicht Gras und Blumen, keine
Tannen und keine Berge, und Heidis Verlangen nach dem Anblick der
schoenen gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass
es jetzt nur den Namen eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu
lesen brauchte, so war schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und
Heidi hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und
Winter vergangen, und schon blendete die Sonne wieder so stark auf
die weissen Mauern am Hause gegenueber, dass Heidi ahnte, nun sei die
Zeit nahe, da der Peter wieder zur Alm fuehre mit den Geissen, da
die goldenen Cystusroeschen glitzerten droben im Sonnenschein und
allabendlich ringsum alle Berge im Feuer staenden. Heidi setzte sich
in seinem einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden
Haenden die Augen zu, dass es den Sonnenschein drueben an der Mauer
nicht sehe; und so sass es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
niederkaempfend, bis Klara wieder nach ihm rief.



Im Hause Sesemann spukt's

Seit einigen Tagen wanderte Fraeulein Rottenmeier meistens schweigend
und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit der Daemmerung
von einem Zimmer ins andere oder ueber den langen Korridor ging,
schaute sie oefters um sich, gegen die Ecken hin und auch schnell
einmal hinter sich, so, als denke sie, es koennte jemand leise hinter
ihr herkommen und sie unversehens am Rock zupfen. So allein ging sie
aber nur noch in den bewohnten Raeumen herum. Hatte sie auf dem oberen
Boden, wo die feierlich aufgeruesteten Gastzimmer lagen, oder gar in
den unteren Raeumen etwas zu besorgen, wo der grosse geheimnisvolle
Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab
und die alten Ratsherren mit den grossen, weissen Kragen so ernsthaft
und unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmaessig
die Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall
etwas von dort herauf- oder von oben herunterzutragen waere. Tinette
ihrerseits machte es puenktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
irgendein Geschaeft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es moechte etwas herbeizubringen
sein, das sie nicht allein tragen koennte. Wunderbarerweise tat
auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in die abgelegenen Raeume
geschickt, so holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu
begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen koennte, was erforderlich
sei. Und jedes folgte immer ganz willig dem Ruf, obschon eigentlich
nie etwas herbeizutragen war, so dass jedes gut haette allein gehen
koennen; aber es war so, als denke der Herbeigerufene immer bei sich,
er koenne den anderen auch bald fuer denselben Dienst noetig haben.
Waehrend sich solches oben zutrug, stand unten die langjaehrige
Koechin tiefsinnig bei ihren Toepfen und schuettelte den Kopf und
seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"

Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames und
Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam,
stand die Haustuer weit offen; aber weit und breit war niemand zu
sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen konnte. In
den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich mit Schrecken
alle Zimmer und Raeume des Hauses durchsucht, um zu sehen, was alles
gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich im Hause verstecken
koennen und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen entflohen; aber da
war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hause nicht ein
einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tuer doppelt zugeriegelt,
sondern es wurde noch der hoelzerne Balken vorgeschoben - es half
nichts: Am Morgen stand die Tuer weit offen; und so frueh nun auch die
ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte
- die Tuer stand offen, wenn auch ringsum alles noch im tiefen Schlaf
lag und Fenster und Tueren an allen anderen Haeusern noch fest
verrammelt waren. Endlich fassten sich der Johann und der Sebastian
ein Herz und machten sich auf die dringenden Zureden der Dame
Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer, das an den grossen
Saal stiess, zuzubringen und zu erwarten, was geschehe. Fraeulein
Rottenmeier suchte mehrere Waffen des Herrn Sesemann hervor und
uebergab dem Sebastian eine grosse Liqueurflasche, damit Staerkung
vorausgehen und gute Wehr nachfolgen koenne, wo sie noetig sei.

Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
gleich an, sich Staerkung zuzutrinken, was sie erst sehr gespraechig
und dann ziemlich schlaefrig machte, worauf sie beide sich an die
Sesselruecken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drueben
zwoelf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war nun
wieder ganz munter geworden. Es war alles maeuschenstill, auch von
der Strasse war kein Laut mehr zu hoeren. Sebastian entschlief nicht
wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der grossen
Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedaempfter Stimme an und
ruettelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es droben schon
ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden und wieder zum
klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl sitze und nicht
in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und
rief: "Nun, Sebastian, wir muessen doch einmal hinaus und sehen, wie's
steht; du wirst dich ja nicht fuerchten. Nur mir nach."

Johann machte die leicht angelehnte Zimmertuer weit auf und trat
hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustuer ein
scharfer Luftzug her und loeschte das Licht aus, das der Johann in der
Hand hielt. Dieser stuerzte zurueck, warf den hinter ihm stehenden
Sebastian beinah ruecklings ins Zimmer hinein, riss ihn dann mit,
schlug die Tuer zu und drehte in fieberhafter Eile den Schluessel um,
solang er nur umging. Dann riss er seine Streichhoelzer hervor und
zuendete sein Licht wieder an. Sebastian wusste gar nicht recht, was
vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann stehend, hatte er den
Luftzug nicht so deutlich empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht
besah, tat er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiss
und zitterte wie Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draussen?",
fragte der Sebastian teilnehmend.

"Sperrangelweit offen die Tuer", keuchte Johann, "und auf der Treppe
eine weisse Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf -
husch und verschwunden."

Dem Sebastian gruselte es den ganzen Ruecken hinauf. Jetzt setzten
sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis dass
der neue Morgen da war und es auf der Strasse anfing, lebendig zu
werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
stehende Haustuer zu und stiegen dann hinauf, um Fraeulein Rottenmeier
Bericht zu erstatten ueber das Erlebte. Die Dame war auch schon zu
sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte sie nicht
mehr schlafen lassen. Sobald sie nun vernommen hatte, was vorgefallen
war, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an Herrn Sesemann,
wie er noch keinen erhalten hatte; er moege sich nur sogleich, ohne
Verzug, aufmachen und nach Hause zurueckkehren, denn da geschaehen
unerhoerte Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie
auch die Nachricht, dass fortgesetzt die Tuer jeden Morgen offen
stehe; dass also keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei bei
dergestalt allnaechtlich offen stehender Hauspforte und dass man
ueberhaupt nicht absehen koenne, was fuer dunkle Folgen dieser
unheimliche Vorgang noch nach sich ziehen koenne. Herr Sesemann
antwortete umgehend, es sei ihm unmoeglich, so ploetzlich alles liegen
zu lassen und nach Hause zu kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm
sehr befremdend, er hoffe auch, sie sei voruebergehend; sollte es
indessen keine Ruhe geben, so moege Fraeulein Rottenmeier an Frau
Sesemann schreiben und sie fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu
Hilfe kommen wollte; gewiss wuerde seine Mutter in kuerzester Zeit mit
den Gespenstern fertig, und diese trauten sich nachher sicher so bald
nicht wieder, sein Haus zu beunruhigen. Fraeulein Rottenmeier war
nicht zufrieden mit dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig
ernst aufgefasst. Sie schrieb unverzueglich an Frau Sesemann, aber von
dieser Seite her toente es nicht eben befriedigender, und die Antwort
enthielt einige ganz anzuegliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb,
sie gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Uebrigens sei niemals ein
Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
darin herumfahre, so koenne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
Rottenmeier sich sollte verstaendigen koennen; wo nicht, so solle sie
die Nachtwaechter zu Hilfe rufen.

Aber Fraeulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin hatte
sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung gesagt, denn
sie befuerchtete, die Kinder wuerden vor Furcht Tag und Nacht keinen
Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte sehr unbequeme
Folgen fuer sie haben. Jetzt ging sie stracks ins Studierzimmer
hinueber, wo die beiden zusammensassen, und erzaehlte mit gedaempfter
Stimme von den naechtlichen Erscheinungen eines Unbekannten. Sofort
schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick mehr allein, der Papa
muesse nach Hause kommen und Fraeulein Rottenmeier muesse zum Schlafen
in ihr Zimmer hinueberziehen, und Heidi duerfe auch nicht mehr allein
sein, sonst koenne das Gespenst einmal zu ihm kommen und ihm etwas
tun; sie wollten alle in _einem_ Zimmer schlafen und die ganze Nacht
das Licht brennen lassen, und Tinette muesste nebenan schlafen und
der Sebastian und der Johann muessten auch herunterkommen und auf
dem Korridor schlafen, dass sie gleich schreien und das Gespenst
erschrecken koennten, wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte.
Klara war sehr aufgeregt und Fraeulein Rottenmeier hatte nun die
groesste Muehe, sie etwas zu beschwichtigen. Sie versprach ihr,
sogleich an den Papa zu schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer
stellen und sie nie mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie
nicht in demselben Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch
fuerchten sollte, so muesste Tinette ihr Nachtlager bei ihr
aufschlagen. Aber Heidi fuerchtete sich mehr vor der Tinette als vor
Gespenstern, von denen das Kind noch gar nie etwas gehoert hatte, und
es erklaerte gleich, es fuerchte das Gespenst nicht und wolle schon
allein in seinem Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fraeulein Rottenmeier
an ihren Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
Vorgaenge im Hause, die allnaechtlich sich wiederholten, haetten die
zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschuettert, dass die
schlimmsten Folgen zu befuerchten seien; man habe Beispiele von
ploetzlich eintretenden epileptischen Zufaellen oder Veitstanz in
solchen Verhaeltnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.

Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tuer und
schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief und
einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als nun
lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften Stuecke
aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb geoeffneten
Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es noch einmal so
nachdruecklich, dass jeder unwillkuerlich eine Menschenhand hinter dem
tuechtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte die Hand erkannt, stuerzte
durchs Zimmer, kopfueber die Treppe hinunter, kam aber unten wieder
auf die Fuesse und riss die Haustuer auf. Herr Sesemann gruesste kurz
und stieg ohne weiteres nach dem Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara
empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf, und als er sie so munter
und voellig unveraendert sah, glaettete sich seine Stirn, die er
vorher sehr zusammengezogen hatte, und immer mehr, als er nun von ihr
selbst hoerte, sie sei so wohl wie immer und sie sei so froh, dass er
gekommen sei, dass es ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus
herumfahre, weil er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen
musste.

"Und wie fuehrt sich das Gespenst weiter auf, Fraeulein Rottenmeier?",
fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
Mundwinkeln.

"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein Scherz.
Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht mehr lachen
wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf Fuerchterliches, das
hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und verheimlicht worden
sein."

"So, davon weiss ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
bitten, meine voellig ehrenwerten Ahnen nicht verdaechtigen zu wollen.
Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will allein mit
ihm reden."

Herr Sesemann ging hinueber und Sebastian erschien. Es war Herrn
Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fraeulein Rottenmeier
sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
Gedanken.

"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und sag
Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig Gespenst
gespielt, so um Fraeulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?"

"Nein, meiner Treu, das muss der gnaedige Herr nicht glauben; es ist
mir selbst nicht ganz gemuetlich bei der Sache", entgegnete Sebastian
mit unverkennbarer Ehrlichkeit.

"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schaeme Er sich,
Sebastian, ein junger, kraeftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern
davonzulaufen! Nun geh Er unverzueglich zu meinem alten Freund, Doktor
Classen: meine Empfehlung und er moechte unfehlbar heut Abend neun
Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu
konsultieren. Er muesse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er
solle sich richten! Verstanden, Sebastian?"

"Jawohl, jawohl! Der gnaedige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
seinem Toechterchen zurueck, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
zu benehmen, die er noch heute ins noetige Licht stellen wollte.

Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fraeulein
Rottenmeier sich zurueckgezogen hatte, erschien der Doktor, der unter
seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft
und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas aengstlich aus,
brach aber gleich nach seiner Begruessung in ein helles Lachen aus
und sagte, seinem Freunde auf die Schulter klopfend: "Nun, nun, fuer
einen, bei dem man wachen soll, siehst du noch leidlich aus, Alter."

"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurueck; "derjenige, fuer den
du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
abgefangen haben."

"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden
muss?"

"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause, bei
mir spukt's!"

Der Doktor lachte laut auf.

"Schoene Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht geniessen kann. Sie ist fest
ueberzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten
abbuesst."

"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
immer sehr erheitert.

Herr Sesemann erzaehlte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie
noch jetzt allnaechtlich die Haustuer geoeffnet werde, nach der Angabe
der saemtlichen Hausbewohner, und fuegte hinzu, um fuer alle Faelle
vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in das
Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
unerwuenschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
Hausherrn zu erschrecken - dann koennte ein kleiner Schrecken, wie
ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein -; oder auch
es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu sein,
dass niemand sich herauswage - in diesem Falle koennte eine gute Waffe
auch nicht schaden.

Waehrend dieser Erklaerungen waren die Herren die Treppe
hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige Flaschen
schoenen Weines, denn eine kleine Staerkung von Zeit zu Zeit konnte
nicht unerwuenscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden musste.
Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht
verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn so im
Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten.

Nun wurde die Tuer ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
nicht in den Korridor hinausfliessen, es konnte das Gespenst
verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemuetlich in ihre
Lehnstuehle und fingen an, sich allerlei zu erzaehlen, nahmen auch
hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwoelf
Uhr, eh sie sich's versahen.

"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht", sagte
der Doktor jetzt.

"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.

Das Gespraech wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war
es voellig still, auch auf den Strassen war aller Laerm verklungen.
Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.

"Pst, Sesemann, hoerst du nichts?"

Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hoerten sie, wie der
Balken zurueckgeschoben, dann der Schluessel zweimal im Schloss
umgedreht, jetzt die Tuer geoeffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit der
Hand nach seinem Revolver.

"Du fuerchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.

"Behutsam ist besser", fluesterte Herr Sesemann, erfasste mit der
Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver
und folgte dem Doktor, der, gleichermassen mit Leuchter und
Schiessgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
hinaus.

Durch die weit geoeffnete Tuer floss ein bleicher Mondschein herein
und beleuchtete eine weisse Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
stand.

"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den ganzen
Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen
an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei.
Mit blossen Fuessen im weissen Nachtkleidchen stand Heidi da, schaute
mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und
zitterte und bebte wie ein Blaettlein im Winde von oben bis unten. Die
Herren schauten einander in grossem Erstaunen an.

"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
Wassertraegerin", sagte der Doktor.

"Kind, was soll das heissen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was wolltest
du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"

Schneeweiss vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
"Ich weiss nicht."

Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehoert in mein Gebiet;
geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor
allem das Kind hinbringen, wo es hingehoert."

Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind
ganz vaeterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.

"Nicht fuerchten, nicht fuerchten", sagte er freundlich im
Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
dabei, nur getrost sein."

In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf
den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und
deckte es sorgfaeltig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett
und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an
allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte
beguetigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo
wolltest du denn hin?"

"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch gar
nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."

"So, so, und hast du etwa getraeumt in der Nacht, weisst du, so, dass
du deutlich etwas sahst und hoertest?"

"Ja, jede Nacht traeumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
sei beim Grossvater, und draussen hoer ich's in den Tannen sausen und
denke: Jetzt glitzern so schoen die Sterne am Himmel, und ich laufe
geschwind und mache die Tuer auf an der Huette und da ist's so schoen!
Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi fing
schon an zu kaempfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den Hals
hinaufstieg.

"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im
Ruecken?"

"O nein, nur hier drueckt es so wie ein grosser Stein immerfort."

"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
lieber wieder zurueckgeben?"

"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."

"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"

"O nein, das darf man nicht, Fraeulein Rottenmeier hat es verboten."

"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"

"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher
das Gegenteil.

"Hm, und wo hast du mit deinem Grossvater gelebt?"

"Immer auf der Alm."

"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
langweilig, nicht?"

"O nein, da ist's so schoen, so schoen!" Heidi konnte nicht weiter;
die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene
Weinen ueberwaeltigten die Kraefte des Kindes; gewaltsam stuerzten
ihm die Traenen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges
Schluchzen aus.

Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen
nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann nichts
schaden, und dann schlafen, ganz froehlich einschlafen; morgen wird
alles gut." Dann verliess er das Zimmer.

Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, liess er sich dem
harrenden Freunde gegenueber in den Lehnstuhl nieder und erklaerte
dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
Schuetzling ist erstens mondsuechtig; voellig unbewusst hat er dir
allnaechtlich als Gespenst die Haustuer aufgemacht und deiner ganzen
Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast
zum Geripplein abgemagert ist und es noch voellig werden wuerde;
also schnelle Hilfe! Fuer das erste Uebel und die in hohem Grade
stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, naemlich,
dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurueckversetzest;
fuer das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_ Medizin, naemlich ganz
dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept."

Herr Sesemann war aufgestanden. In groesster Aufregung lief er das
Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsuechtig! Krank! Heimweh!
Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause! Und niemand
sieht zu und weiss etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind,
das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend
und abgemagert seinem Grossvater zurueck? Nein, Doktor, das kannst du
nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm
das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber
mach es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es
will; aber erst hilf du!"

"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
heilt. Das Kind hat keine zaehe Natur, indessen, wenn du es jetzt
gleich wieder in die kraeftige Bergluft hinaufschickst, an die es
gewoehnt ist, so kann es wieder voellig gesunden; wenn nicht - du
willst nicht, dass das Kind dem Grossvater unheilbar oder gar nicht
mehr zurueckkomme?"

Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines Freundes
und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu
besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen, denn
es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustuer, die
diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon der
helle Morgenschimmer herein.



Am Sommerabend die Alm hinan

Herr Sesemann stieg in grosser Erregtheit die Treppe hinauf und
wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
Hier klopfte er so ungewoehnlich kraeftig an die Tuer, dass die
Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hoerte
die Stimme des Hausherrn draussen: "Bitte sich zu beeilen und im
Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
werden."

Fraeulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fuenf
des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
durchaus nicht vorwaerts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.

Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit aller
Kraft an jedem Glockenzug, der je fuer die verschiedenen Glieder der
Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der betreffenden Zimmer
eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und verkehrt in die Kleider
fuhr, denn einer wie der andere dachte sogleich, das Gespenst habe
irgendwie den Hausherrn gepackt und dies sei sein Hilferuf. So kamen
sie nach und nach, einer schauerlicher aussehend als der andere,
herunter und stellten sich mit Erstaunen vor den Hausherrn hin,
denn dieser ging frisch und munter im Esszimmer auf und ab und sah
keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt. Johann wurde
sofort hingeschickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und sie
nachher vorzufuehren. Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi
aufzuwecken und es in den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten.
Sebastian erhielt den Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base
im Dienst stand, und diese herbeizuholen. Fraeulein Rottenmeier war
unterdessen zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles sass, wie es
musste, nur die Haube sass verkehrt auf dem Kopf, so dass es von
weitem aussah, als sitze ihr das Gesicht auf dem Ruecken. Herr
Sesemann schrieb den raetselhaften Anblick dem fruehen Schlafbrechen
zu und ging unverweilt an die Geschaeftsverhandlungen. Er erklaerte
der Dame, sie habe ohne Zoegern einen Koffer zur Stelle zu schaffen,
die saemtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken - so nannte
Herr Sesemann gewoehnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt
war -, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind
was Rechtes mitbringe; es muesse aber alles schnell und ohne langes
Besinnen vor sich gehen.

Fraeulein Rottenmeier blieb vor Ueberraschung wie in den Boden
eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet,
er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer schauerlichen
Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie
eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehoert haette;
stattdessen diese voellig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen
Auftraege. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewaeltigen.
Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres.

Aber Herr Sesemann hatte keine Erklaerungen im Sinn; er liess die Dame
stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er
vermutet hatte, war diese durch die ungewoehnliche Bewegung im Hause
wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe.
Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzaehlte ihr den ganzen
Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des Doktors
Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
naechtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen
wuerde, was dann mit den hoechsten Gefahren verbunden waere. Er
habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche
Verantwortung koenne er nicht auf sich nehmen, und Klara muesse sich
dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein koenne.

Klara war sehr schmerzlich ueberrascht von der Mitteilung und wollte
erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im naechsten Jahre mit
Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernuenftig sei
und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche,
begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer fuer Heidi in ihr Zimmer
gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken koenne, was
ihr Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte
Klara noch, dem Kinde eine schoene Aussteuer zurechtzumachen.
Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in grosser Erwartung
im Vorzimmer, denn dass sie um diese ungewoehnliche Zeit einberufen
worden war, musste etwas Ausserordentliches bedeuten. Herr Sesemann
trat zu ihr heraus und erklaerte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass
er wuensche, sie moechte das Kind sofort, gleich heute noch, nach
Hause bringen. Die Base sah sehr enttaeuscht aus; diese Nachricht
hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der
Worte, die ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm
nie mehr vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht
ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern
sagte mit grosser Beredsamkeit, heute waere es ihr leider voellig
unmoeglich, die Reise anzutreten, und morgen koennte sie noch weniger
daran denken, und die Tage darauf waere es am allerunmoeglichsten, um
der darauf folgenden Geschaefte willen, und nachher koennte sie dann
gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die Sprache und entliess die
Base ohne weiteres. Nun liess er den Sebastian vortreten und erklaerte
ihm, er habe sich unverzueglich zur Reise zu ruesten; heute habe er
mit dem Kinde bis nach Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann
koenne er sogleich wieder umkehren, zu berichten habe er nichts, ein
Brief an den Grossvater werde diesem alles erklaeren.

"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
"und dass Er mir das puenktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich
Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte
vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden fuer das Kind;
fuer sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes
Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollstaendig, dass nur
grosse Gewalt sie aufzubringen vermoechte. Ist das Kind zu Bett, so
geht Er und schliesst von aussen die Tuer ab, denn das Kind wandert
herum in der Nacht und koennte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn
es etwa hinausginge und die Haustuer aufmachen wollte; versteht Er
das?"

"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stiess Sebastian jetzt in
groesster Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein grosses Licht
aufgegangen ueber die Geistererscheinung.

"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuss, und dem Johann
kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
laecherliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Oehi.

Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
wiederholte jetzt zu oefteren Malen in seinem Innern: "Haett ich
mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
hineinreissen lassen, sondern waere dem weissen Figuerchen
nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft tun wuerde!", denn
jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube
mit voller Klarheit.

Unterdessen stand Heidi voellig ahnungslos in seinem Sonntagsroeckchen
und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur
aus dem Schlafe aufgeruettelt, die Kleider aus dem Schrank genommen
und das Anziehen gefoerdert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach
niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.

Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
Fruehstueck bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"

Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm 'guten
Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: "Nun, was sagst
du denn dazu, Kleine?"

Heidi blickte verwundert zu ihm auf.

"Du weisst am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun, heut
gehst du heim, jetzt gleich."

"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiss, und eine
kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein
Herz von dem Eindruck gepackt.

"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
laechelnd.

"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot
geworden.

"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte und
Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tuechtig fruehstuecken und
hernach in den Wagen und fort."

Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
dass es gar nicht wusste, ob es wache oder traeume und ob es
vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
Haustuer stehen werde.

"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
Fraeulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
essen, begreiflicherweise. - Geh hinueber zu Klara, bis der Wagen
vorfaehrt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.

Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinueber. Mitten in Klaras Zimmer war
ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.

"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir habe
einpacken lassen, komm, freut's dich?"

Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schuerzen,
Tuecher und Naehgeraet, "und sieh hier, Heidi", und Klara hob
triumphierend einen Korb in die Hoehe. Heidi guckte hinein und sprang
hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwoelf schoene, weisse,
runde Broetchen, alle fuer die Grossmutter. Die Kinder vergassen in
ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie sich trennen
mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: "Der Wagen ist
bereit!" - da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in
sein Zimmer, da musste noch ein schoenes Buch von der Grossmama
liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem
Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte.
Das wurde in den Korb auf die Broetchen gelegt. Dann machte es seinen
Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch
nicht eingepackt hatte. Richtig - auch das alte rote Tuch lag noch da,
Fraeulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um mit eingepackt
zu werden. Heidi wickelte es um einen anderen Gegenstand und legte
es zuoberst auf den Korb, so dass das rote Paket sehr sichtbar zur
Erscheinung kam. Dann setzte es sein schoenes Huetchen auf und
verliess sein Zimmer.

Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fraeulein
Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden.
Als sie das seltsame rote Buendelchen erblickte, nahm sie es schnell
aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.

"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen
von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du ueberhaupt nicht
mitzuschleppen. Nun lebe wohl."

Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Buendelchen nicht wieder
aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen groessten Schatz nehmen.

"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das Kind
soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge
Katzen oder Schildkroeten mit fortschleppen, so wollen wir uns
darueber nicht aufregen, Fraeulein Rottenmeier."

Heidi hob eilig sein Buendelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
sie wuerden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wuenschte
ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schoen fuer alle
Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal gruessen und ihm auch
vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.

Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch
einmal freundlich: "Glueckliche Reise!", und der Wagen rollte davon.

Bald nachher sass Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen
Korb auf dem Schosse fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick
aus den Haenden lassen, seine kostbaren Broetchen fuer die Grossmutter
waren ja darin, die musste es sorgfaeltig hueten und von Zeit zu
Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darueber. Heidi sass
maeuschenstille waehrend mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Grossvater,
auf die Alm, zur Grossmutter, zum Geissenpeter, und nun kam ihm alles
vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und
wie alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
Gedanken auf, und auf einmal sagte es aengstlich: "Sebastian, ist auch
sicher die Grossmutter auf der Alm nicht gestorben?"

"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
noch am Leben sein."

Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurueck; nur hier und da
guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Broetchen der
Grossmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach laengerer
Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen
koennte, dass die Grossmutter noch am Leben ist."

"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
schon noch leben, wuesste auch gar nicht, warum nicht."

Nach einiger Zeit drueckte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
der vergangenen unruhigen Nacht und dem fruehen Aufstehen war es so
schlafbeduerftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
tuechtig am Arm schuettelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"

Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi sass
wieder mit seinem Korb auf dem Schoss, den es um keinen Preis dem
Sebastian uebergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr, denn
nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf einmal,
als Heidi gar nicht daran dachte, ertoente laut der Ruf: "Maienfeld!"
Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat Sebastian, der auch
ueberrascht worden war. Jetzt standen sie draussen, der Koffer mit
ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal hinein. Sebastian sah ihm
wehmuetig nach, denn er waere viel lieber so sicher und ohne Muehe
weitergereist, als dass er nun eine Fusspartie unternehmen sollte, die
dazu noch mit einer Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich
und dazu gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch
halb wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
um sich, wen er etwa beraten koennte ueber den sichersten Weg nach
dem 'Doerfli'. Unweit des kleinen Stationsgebaeudes stand ein kleiner
Leiterwagen mit einem mageren Roesslein davor; auf diesen wurden von
einem breitschultrigen Manne ein paar grosse Saecke aufgeladen, die
mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian trat zu ihm heran und
brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Doerfli vor.

"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.

Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen koenne,
ohne in die Abgruende zu stuerzen, und auch wie man einen Koffer nach
dem betreffenden Doerfli befoerdern koennte. Der Mann schaute nach dem
Koffer hin und mass ihn ein wenig mit den Augen; dann erklaerte er,
wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen
nehmen, da er selbst nach dem Doerfli fahre, und so gab noch ein Wort
das andere, und endlich kamen die beiden ueberein, der Mann solle Kind
und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Doerfli aus
koenne das Kind am Abend mit irgendjemand auf die Alm geschickt
werden.

"Ich kann allein gehen, ich weiss schon den Weg vom Doerfli auf
die Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
zugehoert hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als
er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt
sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und ueberreichte
ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Grossvater und
erklaerte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn Sesemann, die
muesse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden, noch unter die
Broetchen, und darauf muesse genau Acht gegeben werden, dass sie nicht
verloren gehe, denn darueber wuerde Herr Sesemann ganz fuerchterlich
boese und sein Leben lang nie mehr gut werden; das sollte das
Mamsellchen nur ja bedenken.

"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und steckte
die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein. Nun wurde
der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi samt seinem
Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum
Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den
Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Fuehrer war noch in der
Naehe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wusste, er
haette eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen.
Der Fuehrer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und
der Wagen rollte den Bergen zu, waehrend Sebastian, froh ueber seine
Befreiung von der gefuerchteten Bergreise, sich am Stationshaeuschen
niedersetzte, um den zurueckgehenden Bahnzug abzuwarten.

Der Mann auf dem Wagen war der Baecker vom Doerfli, welcher seine
Mehlsaecke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
jedermann im Doerfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Oehi
gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu tun
haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder
heimkommen und waehrend der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gespraech
an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Oehi war, beim
Grossvater?"

"Ja."

"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit her
heimkommst?"

"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man
es in Frankfurt hat."

"Warum laeufst du denn heim?"

"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst waer ich nicht
heimgelaufen."

"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
dir's erlaubt hat, heimzugehen?"

"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Grossvater auf die Alm als
sonst alles auf der Welt."

"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der Baecker;
"nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst, "es kann
wissen, wie's ist."

Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute um
sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte
die Baeume am Wege, und drueben standen die hohen Zacken des
Falknis-Berges und schauten zu ihm herueber, so als gruessten sie
es wie gute alte Freunde; und Heidi gruesste wieder, und mit jedem
Schritt vorwaerts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte, es
muesse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kraeften laufen, bis
es ganz oben waere. Aber es blieb doch still sitzen und ruehrte sich
nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Doerfli ein,
eben schlug die Glocke fuenf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine
Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar
Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des
Baeckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich
gezogen, und jeder wollte wissen, woher und wohin und wem beide
zugehoerten. Als der Baecker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es
eilig: "Danke, der Grossvater holt dann schon den Koffer", und wollte
davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine
Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi
draengte sich mit einer solchen Angst auf dem Gesichte durch die
Leute, dass man ihm unwillkuerlich Platz machte und es laufen liess,
und einer sagte zum anderen: "Du siehst ja, wie es sich fuerchtet,
es hat auch alle Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu
erzaehlen, wie der Alm-Oehi seit einem Jahr noch viel aerger geworden
sei als vorher und mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein
Gesicht mache, als wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in
den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wuesste
wohin, so liefe es nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier
fiel der Baecker in das Gespraech ein und sagte, er werde wohl mehr
wissen als sie alle, und erzaehlte dann sehr geheimnisvoll, wie ein
Herr das Kind bis nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich
entlassen habe und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten
Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und ueberhaupt
koenne er sicher sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es
war, und es selbst begehrt habe, zum Grossvater zurueckzugehen. Diese
Nachricht brachte eine grosse Verwunderung hervor und wurde nun gleich
im ganzen Doerfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus allem
Wohlleben zum Grossvater zurueckbegehrt habe.

Heidi lief vom Doerfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
Zeit musste es aber ploetzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
ging es nun immer steiler, je hoeher hinauf es ging. Heidi hatte
nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Grossmutter noch auf ihrem
Plaetzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Huette oben in der
Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch
mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt war es
oben - vor Zittern konnte es fast die Tuer nicht aufmachen - doch
jetzt - es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand da,
voellig ausser Atem, und brachte keinen Ton hervor.

"Ach du mein Gott", toente es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
koennte! Wer ist hereingekommen?"

"Da bin ich ja, Grossmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
stuerzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Grossmutter
heran, fasste ihren Arm und ihre Haende und legte sich an sie und
konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Grossmutter so
ueberrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr
sie mit der Hand streichelnd ueber Heidis Kraushaare hin, und nun
sagte sie ein Mal ueber das andere: "Ja, ja, das sind seine Haare und
es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich das noch
erleben laesst!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar grosse
Freudentraenen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi, bist du
auch sicher wieder da?"

"Ja, ja, sicher, Grossmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
hartes Brot mehr essen, siehst du, Grossmutter, siehst du?"

Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Broetchen nach dem andern
aus, bis es alle zwoelf auf dem Schoss der Grossmutter aufgehaeuft
hatte.

"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn fuer einen Segen mit!", rief
die Grossmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Broetchen und
immer noch eines folgte. "Aber der groesste Segen bist du mir doch
selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare und strich
ueber seine heissen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein Wort, Kind,
sag noch etwas, dass ich dich hoeren kann."

Heidi erzaehlte nun der Grossmutter, welche grosse Angst es habe
ausstehen muessen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
nun gar nie die weissen Broetchen bekommen, und es koenne nie, nie
mehr zu ihr gehen.

Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich
stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist das Heidi, wie
kann auch das sein!"

Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich gar
nicht genug verwundern darueber, wie Heidi aussehe, und ging um das
Kind herum und sagte: "Grossmutter, wenn du doch nur sehen koenntest,
was fuer ein schoenes Roecklein das Heidi hat und wie es aussieht; man
kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhuetlein auf dem Tisch gehoert
dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann ich sehen, wie du drin
aussiehst."

"Nein, ich will nicht", erklaerte Heidi, "du kannst es haben, ich
brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit machte
Heidi sein rotes Buendelchen auf und nahm sein altes Huetchen daraus
hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt,
noch einige bekommen hatte. Aber das kuemmerte das Heidi wenig; es
hatte ja nicht vergessen, wie der Grossvater beim Abschied nachgerufen
hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi
sein Huetchen so sorgfaeltig aufgehoben, denn es dachte ja immer ans
Heimgehen zum Grossvater. Aber die Brigitte sagte, so einfaeltig
muesse es nicht sein, es sei ja ein praechtiges Huetchen, das nehme
sie nicht; man koennte es ja etwa dem Toechterlein vom Lehrer im
Doerfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Huetlein
nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte
das Huetchen leise hinter die Grossmutter in den Winkel, wo es ganz
verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schoenes Roecklein aus,
und ueber das Unterroeckchen, in dem es nun mit blossen Armen dastand,
band es das rote Halstuch, und nun fasste es die Hand der Grossmutter
und sagte: "Jetzt muss ich heim zum Grossvater, aber morgen komm ich
wieder zu dir; gute Nacht, Grossmutter."

"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
Grossmutter und drueckte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
das Kind fast nicht loslassen.

"Warum hast du denn dein schoenes Roecklein ausgezogen?", fragte die
Brigitte.

"Weil ich lieber so zum Grossvater will, sonst kennt er mich
vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin."

Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tuer hinaus, und hier sagte
sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock haettest du schon
anbehalten koennen, er haette dich doch gekannt; aber sonst musst du
dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Oehi sei jetzt immer
boes und rede kein Wort mehr."

Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am
Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die gruene Alm, und jetzt
war auch drueben das grosse Schneefeld an der Schesaplana sichtbar
geworden und strahlte herueber. Heidi musste alle paar Schritte wieder
stille stehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im
Ruecken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein roter Schimmer vor seinen
Fuessen auf das Gras, es kehrte sich um, da - so hatte es die
Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie so im Traum
gesehen - die Felshoerner am Falknis flammten zum Himmel auf, das
weite Schneefeld gluehte und rosenrote Wolken zogen darueber hin; das
Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felsen flimmerte und
leuchtete es nieder und unten schwamm weithin das ganze Tal in Duft
und Gold. Heidi stand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und
Wonne liefen ihm die hellen Traenen die Wangen herunter, und es musste
die Haende falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut dem
lieben Gott danken, dass er es wieder heimgebracht hatte und dass
alles, alles noch so schoen sei und noch viel schoener, als es gewusst
hatte, und dass alles wieder ihm gehoere; und Heidi war so gluecklich
und so reich in all der grossen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte
fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum
vergluehte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber
so den Berg hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es
oben die Tannenwipfel ueber dem Dache und jetzt das Dach und die ganze
Huette, und auf der Bank an der Huette sass der Grossvater und rauchte
sein Pfeifchen, und ueber die Huette her wogten die alten Tannenwipfel
und raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
bevor der Alm-Oehi nur recht sehen konnte, was da herankam, stuerzte
das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte
es nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Grossvater! Grossvater!
Grossvater!"

Der Grossvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der Hand
darueber fahren. Dann loeste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte
das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. "So, bist
du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist das? Besonders
hoffaertig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?"

"O nein, Grossvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du nicht
glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Grossmama und der
Herr Sesemann; aber siehst du, Grossvater, ich konnte es fast gar
nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein koennte, und
ich habe manchmal gemeint, ich muesse ganz ersticken, so hat es mich
gewuergt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es undankbar war.
Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann ganz
frueh - aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran - aber es
steht vielleicht alles in dem Brief" - damit sprang Heidi auf den
Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem Korb herbei und
legte beide in die Hand des Grossvaters.

"Das gehoert dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort zu
sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.

"Meinst, du koenntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Huette
einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
ganzes Bett daraus kaufen und Kleider fuer ein paar Jahre."

"Ich brauch es gewiss nicht, Grossvater", versicherte Heidi; "ein Bett
hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, dass ich
gewiss nie mehr andere brauche."

"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
brauchen koennen."

Heidi gehorchte und huepfte nun dem Grossvater nach in die Huette
hinein, wo es vor Freude ueber das Wiedersehen in alle Winkel sprang
und die Leiter hinauf - aber da stand es ploetzlich still und rief in
Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Grossvater, ich habe kein Bett
mehr!"

"Kommt schon wieder", toente es von unten herauf, "wusste ja nicht,
dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"

Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
Platze, und nun erfasste es sein Schuesselchen und trank mit einer
Begierde, als waere etwas so Koestliches noch nie in seinen Bereich
gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schuesselchen
hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts auf
der Welt, Grossvater."

Jetzt ertoente draussen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
Heidi zur Tuer hinaus. Da kam die ganze Schar der Geissen huepfend,
springend, Saetze machend von der Hoehe herunter, mittendrin der
Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle voellig
wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: "Guten
Abend, Peter!", und stuerzte mitten in die Geissen hinein: "Schwaenli!
Baerli! Kennt ihr mich noch?", und die Geisslein mussten seine Stimme
gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Koepfe an Heidi und fingen
an leidenschaftlich zu meckern vor Freude, und Heidi rief alle
nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und
draengten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch
auf und ueber zwei Geissen weg, um gleich in die Naehe zu kommen,
und sogar das schuechterne Schneehoeppli draengte mit einem ziemlich
eigensinnigen Bohren den grossen Tuerk auf die Seite, der nun ganz
verwundert ueber die Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft
hob, um zu zeigen, dass er es sei.

Heidi war ausser sich vor Freude, alle die alten Gefaehrten wieder
zu haben; es umarmte das kleine, zaertliche Schneehoeppli wieder und
wieder und streichelte den stuermischen Distelfink und wurde vor
grosser Liebe und Zutraulichkeit der Geissen hin und her gedraengt und
geschoben, bis es nun ganz in Peters Naehe kam, der noch immer auf
demselben Platze stand.

"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
Heidi jetzt zu.

"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"

"Nein, morgen nicht, aber uebermorgen vielleicht, denn morgen muss ich
zur Grossmutter."

"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnuegen, dann schickte
er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so schwer wie noch
nie mit seinen Geissen, denn als er sie endlich mit Locken und Drohen
so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn sammelten, und Heidi,
den einen Arm um Schwaenlis und den andern um Baerlis Kopf gelegt,
davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle wieder um und liefen
den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei Geissen in den Stall
eintreten und die Tuer zumachen, sonst waere der Peter niemals mit
seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in die Huette zurueckkam,
da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, praechtig hoch und
duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darueber
hatte der Grossvater ganz sorgfaeltig die sauberen Leintuecher
gebreitet. Heidi legte sich mit grosser Lust hinein und schlief so
herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. Waehrend
der Nacht verliess der Grossvater wohl zehnmal sein Lager und stieg
die Leiter hinauf und lauschte sorgsam, ob Heidi auch schlafe und
nicht unruhig werde, und suchte am Loch nach, wo sonst der Mond
hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu noch fest drinnen sitze,
das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein
nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi schlief in einem Zuge fort und
wanderte keinen Schritt herum, denn sein grosses, brennendes Verlangen
war gestillt worden: Es hatte alle Berge und Felsen wieder im
Abendgluehen gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehoert, es war
wieder daheim auf der Alm.



Am Sonntag, wenn's laeutet

Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Grossvater,
der mitgehen und den Koffer vom Doerfli heraufholen wollte, waehrend
es bei der Grossmutter waere. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
die Grossmutter wieder zu sehen und zu hoeren, wie ihr die Broetchen
geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang, denn
es konnte ja nicht genug die heimatlichen Toene von dem Tannenrauschen
ueber ihm und das Duften und Leuchten der gruenen Weiden und der
goldenen Blumen darauf eintrinken.

Jetzt trat der Grossvater aus der Huette, schaute noch einmal rings um
sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun koennen wir gehen."

Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Oehi alles
sauber und in Ordnung in der Huette, im Stall und ringsherum, das
war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu genommen, um
gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu koennen, und so sah nun
alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der
Geissenpeter-Huette trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon
hatte die Grossmutter seinen Schritt gehoert und rief ihm liebevoll
entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"

Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch
fuerchtete sie, das Kind koennte ihr wieder entrissen werden. Und
nun musste die Grossmutter erzaehlen, wie die Broetchen geschmeckt
haetten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie meine,
sie sei heute viel kraeftiger als lang nicht mehr, und Peters Mutter
fuegte hinzu, die Grossmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald
fertig damit, nur ein einziges Broetchen essen wollen, gestern und
heut zusammen, und sie kaeme gewiss noch ziemlich zu Kraeften, wenn
sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen wollte.
Heidi hoerte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch
eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen Weg gefunden. "Ich
weiss schon, was ich mache, Grossmutter", sagte es in freudigem Eifer;
"ich schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiss
noch einmal so viel Broetchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich
hatte schon einen grossen Haufen ganz gleiche im Kasten, und als man
mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir gerade so viele
wieder, und das tut sie schon."

"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber denk,
sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen uebrigen Batzen
haette, der Baecker unten im Doerfli macht auch solche, aber ich
vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."

Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl ueber Heidis Gesicht: "Oh,
ich habe furchtbar viel Geld, Grossmutter", rief es jubelnd aus und
huepfte vor Freuden in die Hoehe, "jetzt weiss ich, was ich damit
mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Broetchen haben und am
Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Doerfli."

"Nein, nein, Kind!", wehrte die Grossmutter; "das kann nicht sein, das
Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Grossvater geben, er
sagt dir dann schon, was du damit machen musst."

Aber Heidi liess sich nicht stoeren in seiner Freude, es jauchzte und
huepfte in der Stube herum und rief ein Mal uebers andere: "Jetzt kann
die Grossmutter jeden Tag ein Broetchen essen und wird wieder ganz
kraeftig, und - oh, Grossmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn du
dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist
vielleicht nur, weil du so schwach bist."

Die Grossmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
trueben. Bei seinem Herumhuepfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
Liederbuch der Grossmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
freudiger Gedanke: "Grossmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"

"O ja", bat die Grossmutter freudig ueberrascht; "kannst du das auch
wirklich, Kind, kannst du das?"

Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberuehrt
gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf
seinen Schemel zur Grossmutter hin und fragte, was es nun lesen solle.

"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
sass die Grossmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
geschoben.

Heidi blaetterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Grossmutter." Und Heidi
begann und wurde selbst immer eifriger und immer waermer, waehrend es
las:

    "Die gueldne Sonne
    Voll Freud und Wonne
    Bringt unsern Grenzen
    Mit ihrem Glaenzen
    Ein herzerquickendes, liebliches Licht.

    Mein Haupt und Glieder
    Die lagen darnieder;
    Aber nun steh ich,
    Bin munter und froehlich,
    Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

    Mein Auge schauet,
    Was Gott gebauet
    Zu seinen Ehren,
    Und uns zu lehren,
    Wie sein Vermoegen sei maechtig und gross.

    Und wo die Frommen
    Dann sollen hinkommen,
    Wenn sie mit Frieden
    Von hinnen geschieden
    Aus dieser Erde vergaenglichem Schoss.

    Alles vergehet,
    Gott aber stehet
    Ohn alles Wanken,
    Seine Gedanken,
    Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.

    Sein Heil und Gnaden
    Die nehmen nicht Schaden,
    Heilen im Herzen,
    Die toedlichen Schmerzen,
    Halten uns zeitlich und ewig gesund.

    Kreuz und Elende -
    Das nimmt ein Ende,
    Nach Meeresbrausen
    Und Windessausen
    Leuchtet der Sonne erwuenschtes Gesicht.

    Freude die Fuelle
    Und selige Stille
    Darf ich erwarten
    Im himmlischen Garten,
    Dahin sind meine Gedanken gericht'."

Die Grossmutter sass still da mit gefalteten Haenden, und ein Ausdruck
unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Traenen die Wangen herabliefen.
Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch einmal, Heidi,
lass es mich noch einmal hoeren:

    'Kreuz und Elende
    Das nimmt ein Ende' -"

Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
Verlangen:

    "Kreuz und Elende -
    Das nimmt ein Ende,
    Nach Meeresbrausen
    Und Windessausen
    Leuchtet der Sonne erwuenschtes Gesicht.

    Freude die Fuelle
    Und selige Stille
    Darf ich erwarten
    Im himmlischen Garten,
    Dahin sind meine Gedanken gericht'."

"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du
mir wohl gemacht, Heidi!"

Ein Mal ums andere sagte die Grossmutter die Worte der Freude, und
Heidi strahlte vor Glueck und musste sie nur immer ansehen, denn so
hatte es die Grossmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
alte truebselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend
auf, als saehe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schoenen
himmlischen Garten hinein.

Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Grossvater draussen,
der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne
die Grossmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn
es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag
zurueck; denn dass es der Grossmutter wieder hell machen konnte und
sie wieder froehlich wurde, das war nun fuer Heidi das allergroesste
Glueck, das es kannte, noch viel groesser, als auf der sonnigen Weide
und bei den Blumen und Geissen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi
unter die Tuer nach mit Rock und Hut, dass es seine Habe mitnehme. Den
Rock nahm es auf den Arm, denn der Grossvater kenne es jetzt schon,
dachte es bei sich; aber den Hut wies es hartnaeckig zurueck, die
Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den
Kopf. Heidi war so erfuellt von seinen Erlebnissen, dass es gleich dem
Grossvater alles erzaehlen musste, was ihm das Herz erfreute, dass
man die weissen Broetchen auch unten im Doerfli fuer die Grossmutter
holen koenne, wenn man nur Geld habe, und dass es der Grossmutter auf
einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende
geschildert hatte, kehrte es wieder zum Ersten zurueck und sagte ganz
zuversichtlich: "Gelt, Grossvater, wenn die Grossmuttter schon nicht
will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter
jeden Tag ein Stueck geben kann zu einem Broetchen und am Sonntag
zwei?"

"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Grossvater; "ein rechtes Bett fuer
dich waere gut, und nachher bleibt schon noch fuer manches Broetchen."

Aber Heidi liess dem Grossvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es auf
seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett
in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablaessig,
dass der Grossvater zuletzt sagte: "Das Geld ist dein, mach, was dich
freut; du kannst der Grossmutter manches Jahr lang Brot holen dafuer."

Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Grossmutter gar nie mehr
hartes, schwarzes Brot essen, und, o Grossvater! Nun ist doch alles
so schoen wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi huepfte hoch
auf an der Hand des Grossvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
die froehlichen Voegel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
Stelle getan haette, was ich so stark erbetete, dann waere doch alles
nicht so geworden, ich waere nur gleich wieder heimgekommen und haette
der Grossmutter nur wenige Broetchen gebracht und haette ihr nicht
lesen koennen, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon
alles ausgedacht, so viel schoener, als ich es wusste; die Grossmama
hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich
froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte!
Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Grossmama sagte, und dem
lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten
will, dann will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in
Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber
wir wollen auch alle Tage beten, gelt Grossvater, und wir wollen es
nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst."

"Und wenn's einer doch taete?", murmelte der Grossvater.

"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann auch
und laesst ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht und
er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern alle sagen
nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun laesst ihn der
liebe Gott auch gehen, der ihm helfen koennte."

"Das ist wahr, Heidi, woher weisst du das?"

"Von der Grossmama, sie hat mir alles erklaert."

Der Grossvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine
Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist, dann ist
es so; zurueck kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den
hat er vergessen."

"O nein, Grossvater, zurueck kann einer, das weiss ich auch von der
Grossmama, und dann geht es so wie in der schoenen Geschichte in
meinem Buch, aber die weisst du nicht; jetzt sind wir aber gleich
daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schoen die Geschichte
ist."

Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung
hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des Grossvaters Hand
losliess und in die Huette hineinrannte. Der Grossvater nahm den Korb
von seinem Ruecken, in den er die Haelfte der Sachen aus dem Koffer
hineingestossen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen waere
ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank
nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein grosses Buch unter dem
Arm: "Oh, das ist recht, Grossvater, dass du schon dasitzt", und mit
einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte
aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer wieder
gelesen, dass das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las
Heidi mit grosser Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim,
wo draussen auf des Vaters Feldern die schoenen Kuehe und Schaeflein
weideten und er in einem schoenen Maentelchen, auf seinen Hirtenstab
gestuetzt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang
zusehen konnte, wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. "Aber auf
einmal wollte er sein Hab und Gut fuer sich haben und sein eigener
Meister sein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und
verprasste alles. Und als er gar nichts mehr hatte, musste er hingehen
und Knecht sein bei einem Bauer, der hatte aber nicht so schoene
Tiere, wie auf seines Vaters Feldern waren, sondern nur Schweinlein;
diese musste er hueten, und er hatte nur noch Fetzen auf sich und
bekam nur von den Trebern, welche die Schweinchen assen, ein klein
wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie
gut der Vater mit ihm gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater
gehandelt hatte, und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er
dachte: 'Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten
und ihm sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen, aber
lass mich nur dein Tageloehner bei dir sein.' Und wie er von ferne
gegen das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
herausgelaufen - was meinst du jetzt, Grossvater?", unterbrach sich
Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch boese
und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt hoer nur, was
kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel
ihm um den Hals und kuesste ihn, und der Sohn sprach zu ihm: 'Vater,
ich habe gesuendigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr
wert, dein Sohn zu heissen.' Aber der Vater sprach zu seinen Knechten:
'Bringt das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen
Ring an seine Hand und Schuhe an die Fuesse, und bringt das gemaestete
Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und froehlich sein,
denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und
er war verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
froehlich zu sein."

"Ist denn das nicht eine schoene Geschichte, Grossvater?", fragte
Heidi, als dieser immer noch schweigend dasass und es doch erwartet
hatte, er werde sich freuen und verwundern.

"Doch, Heidi, die Geschichte ist schoen", sagte der Grossvater; aber
sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine
Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Grossvater
hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte mit seinem
Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben
dem Vater steht und wieder zu ihm gehoert als sein Sohn.

Ein paar Stunden spaeter, als Heidi laengst im tiefen Schlafe lag,
stieg der Grossvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
Laempchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende
Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Haenden, denn zu beten hatte Heidi
nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des
Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Grossvater reden musste,
denn lange, lange stand er da und ruehrte sich nicht und wandte kein
Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Haende,
und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: "Vater, ich habe
gesuendigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein
Sohn zu heissen!" Und ein paar grosse Traenen rollten dem Alten die
Wangen herab. -

Wenige Stunden nachher in der ersten Fruehe des Tages stand der
Alm-Oehi vor seiner Huette und schaute mit hellen Augen um sich. Der
Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete ueber Berg und Tal. Einzelne
Fruehglocken toenten aus den Taelern herauf, und oben in den Tannen
sangen die Voegel ihre Morgenlieder.

Jetzt trat der Grossvater in die Huette zurueck. "Komm, Heidi!", rief
er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Roecklein
an, wir wollen in die Kirche miteinander!"

Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Grossvater,
dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen
in seinem schmucken Frankfurter Roeckchen. Aber voller Erstaunen blieb
Heidi vor seinem Grossvater stehen und schaute ihn an. "O Grossvater,
so hab ich dich nie gesehen", brach es endlich aus, "und den Rock mit
den silbernen Knoepfen hast du noch gar nicht getragen, oh, du bist so
schoen in deinem schoenen Sonntagsrock."

Der Alte blickte vergnueglich laechelnd auf das Kind und sagte: "Und
du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine, und
so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen Seiten
toenten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und
reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzuecken und
sagte: "Hoerst du's, Grossvater? Es ist wie ein grosses, grosses
Fest."

Unten im Doerfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben
zu singen an, als der Grossvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf
der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im Singen stiess der
zunaechst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte:
"Hast du das gesehen? Der Alm-Oehi ist in der Kirche!"

Und der Angestossene stiess den Zweiten an und so fort, und in
kuerzester Zeit fluesterte es an allen Ecken: "Der Alm-Oehi! Der
Alm-Oehi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den
Kopf umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie,
so dass der Vorsaenger die groesste Muehe hatte, den Gesang schoen
aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen,
ging die Zerstreutheit ganz vorueber, denn es war ein so warmes Loben
und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhoerer davon ergriffen
wurden, und es war, als sei ihnen allen eine grosse Freude
widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Oehi mit
dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und alle,
die mit ihm heraustraten und die schon draussen standen, schauten
ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu sehen, ob
er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann sammelten sie
sich in Gruppen zusammen und besprachen in grosser Aufregung das
Unerhoerte, dass der Alm-Oehi in der Kirche erschienen war, und alle
schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustuer, wie der Oehi wohl wieder
herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im Frieden mit dem Herrn
Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht
hatte und wie es eigentlich gemeint sei. Aber doch war schon bei
vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte zum andern: "Es
wird wohl mit dem Alm-Oehi nicht so boes sein, wie man tut; man kann
ja nur sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand haelt." Und der
andere sagte: "Das hab ich ja immer gesagt, und zum Pfarrer hinein
ginge er auch nicht, wenn er so bodenschlecht waere, sonst muesste er
sich ja fuerchten; man uebertreibt auch viel." Und der Baecker sagte:
"Hab ich das nicht zuallererst gesagt? Seit wann laeuft denn ein
kleines Kind, das zu essen und zu trinken hat, was es will, und sonst
alles Gute, aus alledem weg und heim zu einem Grossvater, wenn der
boes und wild ist und es sich zu fuerchten hat vor ihm?" Und es
kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Oehi auf und nahm
ueberhand, denn jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese
hatten so manches von der Geissenpeterin und der Grossmutter gehoert,
das den Alm-Oehi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung
war, und das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr
und mehr so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.

Der Alm-Oehi war unterdessen an die Tuer der Studierstube getreten
und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
Eintretenden entgegen, nicht ueberrascht, wie er wohl haette sein
koennen, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er ergriff
die Hand des Alten und schuettelte sie wiederholt mit der groessten
Herzlichkeit, und der Alm-Oehi stand schweigend da und konnte erst
kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen Empfang war er
nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte: "Ich komme, um den
Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte vergessen moechte, die
ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass er mir nicht nachtragen
wolle, wenn ich widerspenstig war gegen seinen wohlmeinenden Rat. Der
Herr Pfarrer hat ja in allem Recht gehabt und ich war im Unrecht,
aber ich will jetzt seinem Rate folgen und auf den Winter wieder ein
Quartier im Doerfli beziehen, denn die harte Jahreszeit ist nichts
fuer das Kind dort oben, es ist zu zart, und wenn auch dann die Leute
hier unten mich von der Seite ansehen, so wie einen, dem nicht zu
trauen ist, so habe ich es nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer
wird es ja nicht tun."

Die freundlichen Augen des Pfarrers glaenzten vor Freude. Er nahm noch
einmal des Alten Hand und drueckte sie in der seinen und sagte mit
Ruehrung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch eh
Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht gereuen,
bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle Zeit
willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstuendchen
froehlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir lieb
und wert, und fuer das Kleine wollen wir auch gute Freunde finden."
Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis
Krauskopf und nahm es bei der Hand und fuehrte es hinaus, indem er den
Grossvater fortbegleitete, und erst draussen vor der Haustuer nahm er
Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden Leute sehen, wie
der Herr Pfarrer dem Alm-Oehi die Hand immer noch einmal schuettelte,
gerade als waere das sein bester Freund, von dem er sich fast nicht
trennen koennte. Kaum hatte dann auch die Tuer sich hinter dem Herrn
Pfarrer geschlossen, so draengte die ganze Versammlung dem Alm-Oehi
entgegen, und jeder wollte der Erste sein, und so viele Haende wurden
miteinander dem Herankommenden entgegengestreckt, dass er gar nicht
wusste, welche zuerst ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut
mich! Das freut mich, Oehi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns
kommt!", und ein anderer: "Ich haette auch schon lang gern wieder
einmal ein Wort mit Euch geredet, Oehi!" Und so toente und draengte
es von allen Seiten, und wie nun der Oehi auf alle die freundlichen
Begruessungen erwiderte, er gedenke, sein altes Quartier im Doerfli
wieder zu beziehen und den Winter mit den alten Bekannten zu verleben,
da gab es erst einen rechten Laerm, und es war gerade so, wie wenn der
Alm-Oehi die beliebteste Persoenlichkeit im ganzen Doerfli waere, die
jeder mit Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
Grossvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Oehi bald einmal bei
ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die Leute
den Berg hinab zurueckkehrten, blieb der Alte stehen und schaute ihnen
lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes Licht, als
schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi schaute unverwandt
zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Grossvater, heut wirst du immer
schoener, so warst du noch gar nie."

"Meinst du?", laechelte der Grossvater. "Ja, und siehst du, Heidi, mir
geht's auch heut ueber Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und
Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe Gott
hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."

Bei der Geissenpeter-Huette angekommen, machte der Grossvater gleich
die Tuer auf und trat ein. "Gruess Gott, Grossmutter", rief er hinein;
"ich denke, wir muessen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
Herbstwind kommt."

"Du mein Gott, das ist der Oehi!", rief die Grossmutter voll freudiger
Ueberraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich Euch noch
einmal danken kann fuer alles, das Ihr fuer uns getan habt, Oehi!
Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"

Und mit zitternder Freude streckte die alte Grossmutter ihre Hand aus,
und als der Angeredete sie herzlich schuettelte, fuhr sie fort, indem
sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch auf dem
Herzen, Oehi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so straft mich
nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst, bevor ich unten
bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir das Kind ist!",
und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie
geschmiegt.

"Keine Sorge, Grossmutter", beruhigte der Oehi; "damit will ich weder
Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's
Gott, noch lange so."

Jetzt zog die Brigitte den Oehi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
hinein und zeigte ihm das schoene Federnhuetchen und erzaehlte ihm,
wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natuerlich so etwas einem
Kinde nicht abnehme.

Aber der Grossvater sah ganz wohlgefaellig auf sein Heidi hin und
sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf tun
will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn nur."

Die Brigitte war hoechlich erfreut ueber das unerwartete Urteil. "Er
ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer Freude
streckte sie das Huetchen hoch auf. "Was aber auch dieses Heidi
fuer einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon
manchmal denken muessen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach
Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Oehi?"

Dem Oehi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es koennte
dem Peterli nichts schaden; aber er wuerde doch eine gute Gelegenheit
dazu abwarten.

Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tuer herein, nachdem er zuerst mit
dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte davon; er
musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun mitten in der
Stube still und streckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereignis,
das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift an das
Heidi, den man ihm auf der Post im Doerfli uebergeben hatte. Jetzt
setzten sich alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi
machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne Anstoss vor. Der
Brief war von der Klara Sesemann geschrieben. Sie erzaehlte Heidi,
dass es seit seiner Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause,
sie es nicht lang hintereinander so aushalten koenne und so lange
den Vater gebeten habe, bis er die Reise ins Bad Ragaz schon auf den
kommenden Herbst festgestellt habe, und die Grossmama wolle auch
mitkommen, denn sie wolle auch das Heidi und den Grossvater besuchen
auf der Alm. Und weiter liess die Grossmama noch dem Heidi sagen, es
habe Recht getan, dass es der alten Grossmutter die Broetchen habe
mitbringen wollen, und damit sie diese nicht trocken essen muesse,
komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und
wenn sie selbst nach der Alm komme, so muesse das Heidi sie auch zur
Grossmutter fuehren.

Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung ueber diese
Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die grosse
Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Grossvater nicht
bemerkte, wie spaet es schon war, und so vergnuegt und froehlich waren
sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
in der Freude ueber das Zusammensein an dem heutigen, dass die
Grossmutter zuletzt sagte: "Das Schoenste ist doch, wenn so ein alter
Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
das gibt so ein troestliches Gefuehl ins Herz, dass wir einmal alles
wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Oehi, und
das Kind morgen schon?"

Das wurde der Grossmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war
es Zeit zum Aufbruch, und der Grossvater wanderte mit Heidi die Alm
hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie
heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das
friedliche Gelaeut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
Almhuette, die ganz sonntaeglich im Abendschimmer ihnen
entgegenglaenzte.

Wenn aber die Grossmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
manche neue Freude und Ueberraschung fuer das Heidi wie fuer die
Grossmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
Heuboden hinauf, denn wo die Grossmama hintritt, da kommen alle Dinge
bald in die erwuenschte Ordnung und Richtigkeit, nach aussen wie nach
innen.





End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***

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