The Project Gutenberg EBook of Trotzkopf's Brautzeit by Else Wildhagen



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Title: Trotzkopf's Brautzeit

Author: Else Wildhagen

Release Date: August 28, 2011 [Ebook #37241]

Language: German

Character set encoding: US-ASCII


***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF'S BRAUTZEIT***





                          [Illustration: Cover]





                              [Illustration]





                        [Illustration: Titelseite]

TROTZKOPF's
BRAUTZEIT
               VON ELSE WILDHAGEN geb. FRIEDRICH-FRIEDRICH
ZWEITER BAND zum "TROTZKOPF"
VON EMMY v. RHODEN (EMMY FRIEDRICH-FRIEDRICH)
JLLUSTRIERT von WILLY PLANCK

Achtundfuenfzigste Auflage
oder
Dreissigste Auflage der Wohlfeilen Ausgabe

STUTTGART
GUSTAV WEISE VERLAG





               Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei.






                              [Illustration]

Ilse und Leo sassen lustig plaudernd auf der Veranda vor dem Macketschen
Hause. Der warme Mittagssonnenschein eines heiteren Oktobertages stahl
sich durch das dichte Blaettergewirr des herbstlich gefaerbten Weinlaubes zu
ihnen herein.

Leo Gontrau erzaehlte soeben von seinem Leben in der kleinen Stadt, in
welcher er als Assessor angestellt war, und nach der er Ilse im kommenden
Fruehjahr als seine Frau heimfuehren wollte. Sie unterhielt sich koestlich
ueber seine ebenso drastischen wie komischen Erzaehlungen und sah im Geiste
die geschilderten Personen leibhaftig vor sich. Natuerlich war sie schon
jetzt der Gegenstand des lebhaftesten Interesses in dem kleinen Ort und
Leo konnte nicht genug berichten, wie neugierig man sich nach ihr
erkundigte.

"Und mit all den langweiligen Tanten soll ich verkehren?" rief sie
endlich, "mit ihnen Kaffee trinken, klatschen, womoeglich grauwollene
Struempfe dabei stricken?" Sie warf sich in den Stuhl zurueck und brach in
ein unbaendiges Gelaechter aus.

"Na - es wird so schlimm nicht werden, Kind, und mir zuliebe musst du es
eben auch mal ueber das Herz bringen, mit alten Tanten Kaffee zu trinken."

Das heitere Laecheln verschwand von ihrem Gesicht, und sie sah ihn erstaunt
an.

"Du meinst doch nicht im Ernst, Leo, dass ich mit allen diesen Damen
verkehren muss?"

"Ja, Schatz," gab er ihr zur Antwort, "das muessen wir, ich bin Beamter und
habe Ruecksichten zu nehmen, das ist nun einmal nicht anders und da wird
sich denn meine kleine Frau auch fuegen muessen."

"Fuegen," rief sie sich aufrichtend, "nein, Leo, fuegen werde ich mich
nicht, besonders nicht, diese Besuche zu machen."

"Wie kannst du dich nur so ereifern, Ilse," sagte er laechelnd und
schuettelte den Kopf.

"Uebrigens findest du in B.... auch einige sehr nette junge Frauen, welche
dir gewiss gefallen werden."

Sie unterbrach ihn spoettisch. "Du bist ja sehr entzueckt von unsrem
kuenftigen Bekanntenkreis; ich muss gestehen, mich verlangt es nicht nach
Bekanntschaften, wenn wir erst verheiratet sind. Nur dir will ich leben,
weiter niemand; du aber zaehlst mir jetzt schon vor, mit wem ich verkehren
soll - dir liegt also nichts, gar nichts daran, mit mir allein zu sein."

Sie sah huebsch aus in ihrer Erregung; Leo mochte sie gern so sehen, mit
funkelnden Augen und geroeteten Wangen.

Zaertlich zog er sie zu sich heran und strich liebkosend ueber ihr Haar.

"Kleiner Brausekopf," sagte er, "kannst du denn nicht ruhig denken, nicht
ruhig mit mir ueber unsre Zukunft sprechen?"

Sein etwas ueberlegenes Laecheln bei diesen Worten brachte sie noch mehr aus
der Fassung.

"Ja, du natuerlich fuegst dich willig in alles, aber das kann und tue ich
nicht! Denke nicht, dass ich eine unterwuerfige Frau werde, so eine 'Magd',
wie sie Chamisso besingt."

Trotzig warf sie die Lippen auf und zerzupfte mit solchem Eifer eine
schoene dunkle Rose, als waere die unschuldige Blume die Urheberin ihres
Aergers.

"Nein, nein," lachte er, "ich weiss, ich bekomme ein widerspenstiges
Kaethchen, kein sanftes Gretchen zur Frau. Aber du weisst doch auch, Lieb,
wie Petruchio sein Kaethchen bezwang, dass sie zuletzt ganz gefuegig ward
und, wenn er es wuenschte, die Sonne fuer den Mond ansah?"

Sie hoerte nicht auf seine scherzenden Worte, ihre lebhafte Phantasie war
mit ihr weit fort geeilt. Sie sah sich im Geiste als junge Frau, brav und
ehrbar wie die andern Frauen, von denen ihr Leo erzaehlt hatte; da durfte
sie gewiss nicht scherzen, lachen und sagen, was sie wollte, musste gute
Lehren anhoeren, wurde gefragt und ausgeforscht. Das wuerde sie aber nicht
ertragen, das ging nicht, und sie wollte sich von Leo das feste
Versprechen geben lassen, dass er sie nicht zwingen wuerde, diese
schrecklichen Besuche mit ihm zu machen.

Schweigend hatte der junge Mann seine Braut beobachtet und an ihrem
wechselnden Mienenspiel bemerkt, wie aufgeregt sie in ihrem Innern war.
Jetzt trat sie zu ihm heran und legte ihre Hand an seine Schulter.

"Leo, lieber Leo," sagte sie fast flehend, "versprich mir eins, wenn du
mich wahrhaft liebst! Lass uns, wenn wir erst verheiratet sind, ganz fuer
uns leben; niemand soll unser Heim sehen, niemand wollen wir besuchen, das
denke ich mir reizend; nicht wahr, Schatz, du versprichst mir das? Gib mir
die rechte Hand darauf."

Unwillig wandte er sich ab.

"Nun kommst du wieder auf das alte Thema zurueck; ich muss gestehen, du
stellst ein unvernuenftiges Verlangen an mich, und ich kann dir deine Bitte
nicht erfuellen. Du musst doch einsehen, dass es zu meiner Stellung nicht
passt, wenn ich alle gesellschaftlichen Pflichten unbeachtet lasse! Ich
hoffe auch noch immer, du machst nur Scherz."

"Scherz?" brauste sie auf. "Du musst nicht glauben, dass ich noch ein dummes
Kind bin, Leo. Ich weiss genau, was ich will, und ich sage dir vorher, ich
mache deine langweiligen Besuche nicht mit."

Ihr alter leidenschaftlicher Trotz sprach bei diesen Worten aus ihren
Blicken, und gerade ihn, den sie so innig liebte, musste sie damit kraenken.

"Wenn du erst meine Frau bist, liebe Ilse, so wirst du dich auch nach
meinen Wuenschen zu richten haben," gab er ihr bestimmt zur Antwort, und
sein ernster Blick richtete sich fest auf sie. Aber schon gereute ihn
seine Entschiedenheit wieder, denn er liebte seine Braut ueber alles, und
gerade ihr oft sproedes Wesen hatte ihn stets entzueckt. Sie war ja noch ein
halbes Kind, bald wurde sie seine Frau und dann wuerde alles anders sein;
er kannte ja den lieben Trotzkopf.

Sie stand an die Bruestung der Veranda gelehnt und hielt die entblaetterte
Rose noch immer in ihren Haenden. Die braunen Locken waren ihr wirr in die
heisse Stirn gefallen, und die langen Wimpern lagen auf den tief geroeteten
Wangen. Leo konnte den Blick nicht von ihr wenden, er sah nur das
liebreizende Bild vor sich, und aller Unmut war verraucht. Er sprang auf
und eilte zu ihr, seinen Arm zaertlich um ihren Nacken schlingend.

"Komm her, Lieb, setze dich wieder zu mir. Wollen wir uns um solche
Nichtigkeiten streiten, waehrend uns eine selige, rosige Zukunft winkt?
Wenn du erst mein kleines Weib bist, dann sprechen wir wieder ueber diese
Sache und dann - ich weiss es - dann denkst du ganz anders darueber."

Aus seinen schoenen Augen sprach die innigste Liebe, aber Ilse war in
diesem Augenblick mit Blindheit geschlagen, sie empfand nur das Eine, - er
gab diesmal nicht nach.

Unwillig machte sie sich aus seinem Arm los und trat zurueck.

"Das also ist deine Liebe," fuhr sie auf, "nicht den kleinsten Wunsch
erfuellst du mir. Aber ich wiederhole noch einmal, ich will mich nicht
fuegen, jetzt nicht und wenn ich deine Frau bin, erst recht nicht. Nein -
ich will dich auch nicht heiraten, denn ich sehe ein, du liebst mich nicht
mehr." Hier brach sie in Traenen aus, in kindische, zornige Traenen. Wollte
sie ihn dadurch zwingen, ihr nachzugeben? Dieser Gedanke stieg ploetzlich
in Leo auf; aber das durfte nicht, das sollte nicht sein. Mit der
waermsten, zaertlichsten Liebe hatte er sie zu beruhigen gesucht, und immer
wieder war er auf Trotz und Widerstand gestossen. Er war aergerlich, sehr
aergerlich, und sein Stolz baeumte sich in ihm auf.

"Schaeme dich, Ilse," stiess er hervor, "du betraegst dich wie ein
ungezogenes Kind."

In der Erregung klang seine Stimme vielleicht haerter, als er
beabsichtigte, denn Ilse fuhr fast entsetzt zurueck bei seinen Worten.
"Schaemen!" wiederholte sie und sah ihn ganz erstarrt an.

"Leo - Leo," rief sie mit zitternder Stimme, "nimm zurueck, was du eben
sagtest."

"Ich kann meine Worte nicht zuruecknehmen, Ilse," gab er ruhig zur Antwort,
"denn du betraegst dich wirklich wie ein recht ungezogenes kleines
Maedchen."

Das war zu viel! Ihr Atem flog, und sie war nicht faehig, ein Wort zu
erwidern. Ohne Leo noch eines Blickes zu wuerdigen, lief sie in das Haus
und stiess in der Tuere fast mit ihrem Vater zusammen, der eben auf die
Veranda kommen wollte.

"Was hast du denn, Kind?" fragte er, als sie so hastig an ihm
vorbeistuermte und er ihre verweinten Augen sah. Doch sie gab ihm keine
Antwort; wie ein gescheuchtes Reh lief sie die Treppen hinauf in ihr
Zimmer und riegelte die Tuere fest hinter sich zu. Sie warf sich in einen
Stuhl und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus, als waere ihr das
groesste Unglueck geschehen.

"Schaemen" hatte er gesagt, und sie ein "ungezogenes Kind" genannt. Wie
demuetigend klangen diese Worte; glaubte er denn ein Schulkind vor sich zu
haben, das er nach Belieben ausschelten konnte? - Sie richtete sich auf
und presste die Lippen fest aufeinander. Sie war kein Kind mehr, das wollte
sie ihm zeigen! Wie konnte er nur so zu ihr sprechen - fuehlte er nicht,
wie furchtbar er sie kraenkte? Ein neuer Traenenstrom brach aus ihren Augen,
sie legte die Haende vor das Gesicht und schluchzte bitterlich. Immerfort
toenten in ihrem Ohr die Worte: "Schaeme dich, du betraegst dich wie ein
ungezogenes Kind," und "nein, nein, er liebt mich nicht mehr," antworteten
ihre Gedanken. Dass sie ihn durch fortwaehrenden Widerspruch erst zu dieser
Aeusserung gereizt hatte, das kam ihr nicht in den Sinn, das gestand sie
sich nicht ein. Er hatte ihr grosses Unrecht zugefuegt, nur das empfand sie
in ihrer aufs hoechste gesteigerten Aufregung. - Was sollte sie tun, was
beginnen? Wenn sie der Mama ihr Herz ausschuettete? Sie fuehlte wohl, dass
diese ihr nicht recht geben wuerde. Wenn sie zum Papa ginge? Ja, der wuerde
seinen verzogenen Schuetzling gewiss in Schutz nehmen, aber lachend und
scherzend wie immer - und das ging nicht, dazu war die Sache zu ernst. -
Nein, es war auch am besten, wenn kein Mensch von dieser Kraenkung erfuhr.
Niemand wollte sie ihr Leid klagen. Ja, waere Nellie hier - ihr wuerde sie
alles anvertrauen, die wuerde sie verstehen. Aber die geliebte Freundin war
in weiter Ferne; ach, wie schmerzlich sehnte sie sich in diesem Augenblick
nach ihr. Sie stuetzte den brennenden Kopf in ihre Hand und blickte lange
sinnend vor sich hin. Nellies Bild stand lebhaft im Geiste vor ihr, sie
sah die treuen lieben Augen und hoerte ihr kindlich frohes Lachen.

Koennte sie sich doch an ihre Brust lehnen, ihr alles erzaehlen, was sie so
schwer bedrueckte! Sie kam sich verlassen und einsam vor. Niemand verstand
sie, und sie wollte auch niemand sehen mit dieser Schmach im Herzen. Leos
Bild, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand, schien sie spoettisch
anzulaecheln; sie stellte es fort, denn sie konnte diesen Blick nicht
ertragen. Die Luft in dem kleinen Zimmer kam ihr erdrueckend vor, sie
konnte kaum Atem holen, und erst als sie beide Fensterfluegel geoeffnet
hatte und die frische Herbstluft hereindrang, wurde ihr leichter.

Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, welche immer dunkler und
schneller herangezogen kamen und auch das letzte helle Blau am Himmel
bedeckten. Ein starker Wind hatte sich aufgemacht und rauschte in den
alten Baeumen, vor Ilses Augen tanzten wirbelnd welke Blaetter durch die
Luft. Wie oede und unfreundlich kam ihr mit einem Male die Natur vor, und
doch hatte sie heute im sonnenhellen Lichte noch so freundlich gelaechelt.
So truebselig wie draussen sah es jetzt auch in ihrem Innern aus, sie
glaubte nie wieder froh werden zu koennen.

Ob Leo nicht zu ihr kommen wuerde? Er musste doch einsehen, welch schwere
Beleidigung er ihr zugefuegt hatte. Aber wenn er jetzt kaeme, wenn er jetzt
an ihre Tuere klopfte - nein - sie wuerde ihm nicht oeffnen. Noch konnte sie
ihn nicht sehen und hoeren - noch stuermte es zu heftig in ihrer Brust, und
so leicht wollte sie ihm nicht verzeihen, er hatte es nicht verdient.

Unten im Garten knirschte der Kies unter festen Tritten, und laute Stimmen
wurden hoerbar. Hatte der Papa Besuch bekommen? Sie bog sich hinaus und sah
ihn mit Leo daherschreiten, welcher lebhaft zu ihm sprach. Seine Stimme
klang ruhig ohne die mindeste Erregung, als waere nichts vorgefallen. Jetzt
schien er sogar einen guten Witz zu erzaehlen, denn Herr Macket brach in
ein schallendes Gelaechter aus, in welches Leo lustig mit einstimmte. Wie
ein Missklang toente dieses Lachen an ihr Ohr. Empoert schlug sie das Fenster
zu, dass die beiden im Garten verwundert herauf sahen, - aber sie war
schnell zurueckgetreten, und von neuem wurde sie von leidenschaftlichem
Zorn erfasst. Das war zu viel! Also gleichgueltig war ihm alles, er dachte
wohl gar nicht mehr daran, wie er sie gekraenkt hatte. Er war zum Lachen
und Scherzen aufgelegt, waehrend sie so schwer litt. Sie konnte das nicht
ertragen, sie wollte ihm beweisen, dass er kein Kind mehr vor sich hatte -
sie musste ihm zeigen, dass sie sich eine solche Demuetigung nicht gefallen
liess. Ja - das wollte sie ihm zeigen! - Aber wie? Was konnte sie beginnen?
- Wie ein Blitz durchfuhr sie ploetzlich ein Gedanke, an dem sie sich
zitternden Herzens festklammerte. Sie wollte fort, fliehen, dann wuerde er
ja wohl einsehen, dass er ihr bitteres Unrecht getan hatte. Sie sah in
ihrem toerichten Sinn nicht weiter, sie dachte nicht an die Sorge, den
Kummer, den sie ihren Eltern und Leo durch einen solchen Schritt bereiten
wuerde. Der ploetzlichen Eingebung folgte sie, ja sie kam sich in diesem
Augenblicke wie eine Heldin vor, ihr sonst so kindliches Gesicht nahm
einen entschlossenen Ausdruck an, und die Lippen waren trotzig aufeinander
gepresst.

"Ich will fort und gleich - gleich jetzt!" Sie sagte diese Worte laut vor
sich hin, als wollte sie sich dadurch selbst in dem Entschluss befestigen,
ihr abenteuerliches Vorhaben auszufuehren. Hastig durchschritt sie das
Zimmer. Die kleine Uhr, welche auf dem Ofensims stand, fing eben an zu
schlagen; "drei - vier" zaehlte Ilse. Um fuenf Uhr ging ein Zug nach F., wo
Nellies Mann seit seiner Verheiratung Oberlehrer am Gymnasium war. Eine
Reise zu ihr war schon laengst geplant, und Ilse hatte von den Eltern die
Erlaubnis erhalten, nach Weihnachten einige Wochen in F. zuzubringen. Der
stets sorgsame Papa hatte das Kursbuch schon genau studiert und fuer sie
den Zug nachmittags fuenf Uhr als den besten bestimmt. Den Bahnhof
erreichte sie von Moosdorf bequem in einer halben Stunde - danach war es
aber die hoechste Zeit zum Aufbruch. Die verweinten Augen wusch sie mit
frischem Wasser und ordnete ihr wirres Haar; sie setzte ihren Hut auf,
holte ihren Mantel und hing ihn ueber den Arm. So, nun war sie fertig; sie
dachte nicht daran, noch etwas andres mitzunehmen; sie tat alles mit einer
fliegenden Hast, als koennte es sie doch am Ende noch gereuen, den tollen
Streich beschlossen zu haben. Zum Glueck fiel ihr im letzten Moment, als
sie schon die Tuerklinke in der Hand hielt, ein, dass sie auch Geld haben
muesste. Sie ging zurueck und schloss ihren Schreibtisch wieder auf. Aus einem
Kaestchen nahm sie 30 Mark, die ihr der Papa erst gestern schenkte, weil
sie irgend eine Dummheit begangen hatte, welche ihn entzueckte und die er
unbedingt belohnen musste. Sie steckte das Portemonnaie in die Tasche und
ging nun schnell zur Tuere hinaus und die Treppe hinab. An der Haustuer
blieb sie zoegernd und tiefaufatmend stehen. Lucies Bild trat ihr ploetzlich
deutlich vor Augen, mahnend schien es ihr zuzurufen: "Kehre um, kehre um!"
Fast war es, als wuerde sie schwankend in ihrem Entschlusse, denn auf ihrem
Antlitz spiegelten sich bange Zweifel, aber Leos Bild draengte sich
dazwischen, sie sah sein heiteres Antlitz, hoerte sein ausgelassenes Lachen
- und "fort! fort!" rief es nun in ihrem Innern. Lucie hatte keine Gewalt
mehr ueber sie, ihr ungestuemer Sinn trieb sie zu einer Torheit, welche ihr
die bittersten Stunden ihres Lebens bereiten sollte. Haette sie ihren
Braeutigam betruebt und niedergeschlagen gesehen, vielleicht wuerde sie
diesen folgenschweren Schritt nie gewagt haben; aber er lachte ja und war
vergnuegt, - nichts haette sie mehr darin bestaerken koennen, ihr Vorhaben
auszufuehren, als sein harmloses Lachen.

Sie horchte, - nichts regte sich im Hause, die Mama war bei dem Bruederchen
im Kinderzimmer; vor einer Begegnung mit ihr war sie also sicher. Durch
ein Fenster spaehte sie in den Garten - er war leer, die beiden Herren
schienen weiter gegangen zu sein. Ueber den Hof konnte sie unbehindert
gehen; die Maegde und Knechte waren draussen beschaeftigt, die uebrige
Dienerschaft war in den Wirtschaftsraeumen, welche auf der andern Seite des
Hauses lagen.

Sie wollte niemand begegnen; es war ihr, als koennte man es auf ihrer Stirn
lesen, was sie vorhatte. Deshalb lief sie schnell ueber den Hof durch das
Tor auf die Dorfstrasse und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Wie ein
gehetztes Wild floh sie dahin und wagte nicht, nach dem Hause
zurueckzublicken; nur von Zeit zu Zeit sah sie aengstlich zur Seite, ob auch
keiner sie bemerkte. Es begegneten ihr einige Bauernfrauen, welche sie gut
kannte, und die sie schon von weitem gruessten, denn sie war im Dorfe bei
alt und jung beliebt. Heute dankte sie nur fluechtig fuer die freundlichen
Gruesse und eilte scheu an den Leuten vorbei; sie fuehlte, dass ihr eine
brennende Roete in die Wangen stieg, und sie kam sich wie eine ertappte
Suenderin vor. Der Gedanke an das erlittene Unrecht befluegelte ihre
Schritte, sie lief auf Koppelwegen durch die Felder, den aufgeweichten
Boden nicht achtend, der sich schwer an ihre Sohlen hing. Aus den Stoppeln
flog bei ihrem Nahen mit lautem Gekreisch eine Schar Kraehen in die Hoehe,
und aengstlich erschrocken zuckte sie zusammen. Endlich sah sie von weitem
das rote Bahnhofgebaeude schimmern, und in kurzer Zeit hatte sie es atemlos
erreicht.

Mit unsicherer Stimme forderte sie am Schalter eine Fahrkarte nach F. und
setzte sich in das kleine, halbdunkle Damenwartezimmer an das Fenster. Der
Zug musste in wenigen Minuten eintreffen; sie wollte aber den Perron nicht
eher betreten, bis er da war, aus Furcht, sie koennte noch Bekannte
treffen. Richtig, da kam auch schon jemand, den sie kannte. Es war der
dicke Oberfoerster, ein alter Freund ihres Vaters, der mit einem Herrn auf
und ab ging; wahrscheinlich hatte er denselben zur Bahn gebracht. Sie
drueckte sich ganz in die Ecke, als die beiden am Fenster vorbeigingen.
Wenn sie nun nachher nicht unbemerkt an ihm voruebergehen konnte, dachte
sie aengstlich, und wenn er sie fragte, wohin sie reisen wolle, was sollte
sie ihm antworten? Dieser peinvollen Ratlosigkeit machte der langgezogene
Pfiff des erwarteten Zuges ein Ende; wenige Augenblicke darauf stand er
vor dem Bahnhofgebaeude still. Zitternd erhob sich Ilse und ging hinaus.
Der dicke Oberfoerster unterhielt sich jetzt eingehend mit dem
Bahnhofinspektor und wandte ihr gluecklicherweise den Ruecken zu. Sie trat
schnell an den naechsten Schaffner heran und liess sich von ihm ein
Damencoupe anweisen. Ihr Herz schlug rasch, und es wurde ihr beklommen zu
Mute, als sie einstieg; sie war froh, dass das Coupe leer war, denn sie
haette jetzt keinem Menschen frei ins Gesicht sehen koennen. Die Tueren
wurden zugeschlagen, noch ein Hin- und Herlaufen, dann laeutete die Glocke
zur Abfahrt, ein schriller Pfiff ertoente und die Wagen setzten sich
langsam in Bewegung. Sie wagte es nicht, aus dem Fenster zu sehen, denn
die Stimme des Oberfoersters war immer noch deutlich vernehmbar. Erst als
der Zug im schnellen gleichmaessigen Tempo dahinfuhr, stand sie auf und trat
an das offene Fenster; die frische Luft wehte ihr erquickend um die
Schlaefen und kuehlte ihr den fieberheissen Kopf. Mehr und mehr entschwand
die heimatliche Gegend ihren Blicken, sie kannte schon keins der Doerfer
mehr, an denen sie vorbeiflog. Wie es wohl jetzt daheim aussah, ob sie
ihre Flucht schon bemerkt hatten? Im Geiste sah sie die bestuerzten
Gesichter ihrer Eltern - der Papa wuerde ausser sich sein. In ihrer
Aufregung hatte sie daran noch nicht gedacht, aber mit einem Male stieg
dieser Gedanke qualvoll in ihr auf. War es nicht unrecht, die Eltern so zu
aengstigen? Sie nahm sich vor, sofort nach ihrer Ankunft bei Nellie einen
langen Brief an sie zu schreiben, sie um Verzeihung zu bitten und ihnen zu
sagen, dass sie nicht anders habe handeln koennen. Was wuerde aber Leo zu
ihrer Flucht sagen? Sie dachte mit einer gewissen Genugtuung daran, wie er
nun doch einsehen muesste, dass sie einen festen Willen besass, und ausfuehrte,
was sie wollte. Nun wuerde er wohl eine andre Meinung von ihr bekommen.

                              [Illustration]

Wie konnte er sie nur so tief kraenken, wenn er sie wirklich liebte - sie
vermochte es nicht zu fassen. Er war doch sonst nie so hart gegen sie
gewesen, und sie hatten sich schon so oft gestritten. Bis jetzt fuegte er
sich stets ihrem Willen, so oft sie ihn auch schon im tollen Uebermut
herausgefordert hatte; warum erfuellte er ihr heute nicht den kleinen
Wunsch? Warum betonte er immer wieder, dass er als Beamter Ruecksicht zu
nehmen habe? Das klang so unterwuerfig, so demuetig; sie wollte ihn stolz
haben, ueber alles Kleinliche erhaben.

Wie fing der dumme Streit denn nur eigentlich an? Sie waren ja so lustig
gewesen und hatten von der Zukunft geplaudert; in einem halben Jahre, im
Fruehling sollte ja die Hochzeit sein. Leo war in dem nahen B. als Assessor
angestellt und arbeitete schon seit einigen Wochen am dortigen
Landgericht. Meistens besuchte er Sonntags seine Braut und scherzend
erzaehlte er ihr dann von seinen Erlebnissen, von den Bekanntschaften,
welche er gemacht hatte. Komisch und naturwahr schilderte er die Fehler
und Schwaechen von allen, was Ilse den groessten Scherz bereitete. Da war die
Frau Amtsrichter, welche alle jungen Ehepaare unter ihre Fittiche nahm und
die Ansicht hatte, dass sich die jungen Frauen entschieden dem Rate der
aelteren "fuegen" muessten. Dann die Frau eines Arztes, die Neugierige, welche
nicht ruhte noch rastete, bis sie die taeglichen Neuigkeiten gluecklich
eingesammelt hatte. - Leo erzaehlte, wie er ihren Angriffen auf ihn stets
geschickt ausgewichen waere und dass es ihr nicht gelungen sei, auf ihre
vielen Fragen ueber seine Braut, seine kuenftige Einrichtung und dergleichen
eine Antwort zu erhalten. Er ahmte dabei das vor nervoeser Ungeduld
unruhige und bewegliche Mienenspiel der Dame so treffend nach, dass Ilse
gar nicht aus dem Lachen kam. Heute hatte er zum erstenmal erwaehnt, dass
sie sich bald selbst von der Wahrheit seiner Schilderungen ueberzeugen
koennte, denn alle diese Familien wuerden sie besuchen, teilweise auch mit
ihnen verkehren.

Damit hatte der Streit angefangen. Er habe Ruecksichten zu nehmen, hatte er
gesagt, und das wollte sie nicht gelten lassen, ihr kuenftiger Mann sollte
und brauchte das nicht. Die kleine Ilse hatte noch keine Ahnung von der
Welt, wie oft und wie viel der Mensch, welcher etwas erreichen will,
Ruecksichten nehmen muss. Ihre Wege waren bisher stets geebnet gewesen, und
deshalb wollte es ihr durchaus nicht in den Sinn, warum sie und Leo
kuenftig nicht ganz nach ihrem Gefallen leben koennten.

Ob sich wohl Nellie in allem ihrem Manne fuegte? Gewiss nicht, und Dr.
Althoff war kein Tyrann, das wusste sie. Die liebe einzige Nellie! - Ilse
konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie als junge Frau sein wuerde. Wie
herzlich hatte sie sich auf ein Wiedersehen mit ihr gefreut, und
schrecklich war es, dass sie nun als eine Fliehende mit tief betruebtem
Herzen zu ihr kam. Sie war so gluecklich gewesen - und jetzt? Wieder
fuellten sich ihre Augen mit Traenen, welche langsam ueber ihre Wangen
rollten. Sie kam sich so bedauernswuerdig vor, als waere sie hinausgestossen
in die weite Welt, und nicht als haette sie nur ihre eigene unglueckselige
Laune zu diesem Schritte getrieben.

Die Daemmerung brach jetzt mit aller Macht herein und breitete ihre dunklen
Schatten immer tiefer ueber die herbstliche Natur. Nur nebelhaft noch waren
die Gegenstaende zu erkennen, die vor Ilsens Augen auftauchten, um schnell
wieder zu verschwinden. Einzelne Regentropfen schlugen truebselig gegen das
Fenster, und das einfoermige Geraeusch der Raeder wirkte fast betaeubend auf
sie. Ein unbehagliches Froesteln stellte sich ein, furchtsam blickten ihre
Augen in dem halbdunklen Coupe umher; das unheimliche Gefuehl des
Alleinseins ueberfiel sie mit einem Male, und ihr Heldenmut sank immer
tiefer. Unbeweglich sass sie in ihre Ecke gedrueckt, ihre Aufregung
steigerte sich von Minute zu Minute. Wie spaet mochte es denn sein? Sie zog
ihre Uhr hervor und konnte nur muehsam entziffern, welche Zeit es war. -
Gott sei Dank, die Haelfte der Fahrt hatte sie hinter sich, schon zwei
Stunden war sie unterwegs. Sie waren ihr schnell vergangen, aber nun musste
sie noch eine ebenso lange Zeit ausharren, bis sie in F. eintraf. Gegen
neun Uhr sollte der Zug dort sein - es wurde gewiss sehr spaet, bis sie bei
Nellie war. Ob Althoffs wohl weit vom Bahnhof entfernt wohnten? - Wenn sie
dieselben nur zu Hause traf! Oder - ihr Herz pochte stuermisch bei diesem
Gedanken - wenn sie vielleicht noch verreist waeren? Die Herbstferien waren
erst in diesen Tagen zu Ende. Nellie schuldete ihr seit einiger Zeit einen
Brief, und sie wusste deshalb nichts Naeheres von ihr. O Gott, was sollte
sie dann beginnen, allein in der fremden Stadt? Sie konnte doch in kein
Gasthaus gehen und ein Zimmer fordern? Das ging nicht, das wuerde sie nie
tun! Aber wo sollte sie in der Nacht bleiben? Dieser Gedanke bereitete ihr
entsetzliche Qualen, und zum ersten Male gelangte sie zu dem vollen
Bewusstsein, wie abenteuerlich ihr Unternehmen war. Sie fing in ihrer
Herzensangst an zu weinen. Fast empfand sie Reue; wie behaglich und
sorgenlos koennte sie jetzt zu Hause sein, und musste nun statt dessen in
die dunkle Nacht hinein fahren mit einem Herzen voll Angst und Bangen.

Auf der naechsten Station fragte sie den Schaffner, welcher Licht in dem
Coupe anzuendete, wie lange sie noch bis F. zu fahren haette. "Noch vier
Haltestellen," brummte er unfreundlich, und Ilse wagte keine weiteren
Fragen. Die Helle im Coupe machte wenigstens ihrer Furcht ein Ende, sie
konnte nun deutlich erkennen, dass auf den Polstern neben ihr und gegenueber
niemand weiter sass, wie sie vorhin in ihrer Furchtsamkeit geglaubt hatte.
Sie freute sich, wenn wieder eine Station vorueber war, und alle
Augenblicke sah sie nach der Uhr, ob der Zeiger noch nicht weiter
vorgerueckt war. - Jetzt hatte der Zug zum letztenmal gehalten, noch eine
kurze Zeit und sie war da. Ungeduldig ging sie auf und ab, krampfhaft den
Schirm in der Hand haltend, mit dem Mantel ueber dem Arm. Unaufhoerlich
schlug jetzt der Regen gegen das Fenster, stockdunkel war es draussen, und
nur hier und da blitzten in der Ferne Lichter auf. Fast wuenschte Ilse, es
waere auf der letzten Strecke jemand eingestiegen, der ihr moeglicherweise
Auskunft ueber die Althoffsche Wohnung haette geben koennen. Und doch wieder
war sie ganz froh, allein geblieben zu sein, weil sie fuehlte, dass sie ihre
Aufregung nicht verbergen koennte.

Endlich ertoente der lang anhaltende Pfiff der Lokomotive, und mit
zitternder Ungeduld sah sie ihrer Erloesung entgegen; der Zug war in die
Bahnhofhalle eingefahren und hielt jetzt still. Neugierig spaehte Ilse
durch das Fenster auf den erleuchteten Perron, wo eine Menge Menschen
standen. Die Tuere wurde geoeffnet, und sie stieg aus. Aengstlich sah sie
sich um, die vielen lauten Stimmen, das Gedraenge und Hinundherstossen
machten sie ganz beklommen. Bunte Studentenmuetzen konnte man ueberall aus
dem Gewuehl hervorleuchten sehen. Scheu wich sie denselben aus, denn sie
dachte noch mit Schrecken an ihre Studenten-Begegnung bei ihrer Abreise
aus der Pension.

Als sie einen Bahnbeamten nach einem Gepaecktraeger fragte, wies sie der
vielbeschaeftigte Mann nach dem Ausgang der Halle, und sie draengte sich
gluecklich bis dahin durch. Sie sah sich suchend um und war froh, als sie
ganz in der Naehe noch einen Mann mit blauem Kittel und einer
Gepaecktraegermuetze entdeckte. Sie trat auf ihn zu und fragte, ob er die
Wohnung von Dr. Althoff wuesste. Er ruehrte sich nicht aus seiner Stellung;
faul, beide Haende in den Hosentaschen, stand er an die Mauer gelehnt und
glotzte sie mit verglasten Augen an; ein widerwaertiger Branntwein-Geruch
stieg ihr unter die Nase. Sie musste ihre Frage wiederholen, und diesmal
schien er sie wirklich verstanden zu haben, denn er setzte sich statt
aller Antwort langsam in Bewegung; ein Wink mit der Hand machte ihr klar,
dass sie ihm folgen solle.

Bedenklich schwankend ging ihr Fuehrer voran, Ilse angstvoll hinterher. Der
Mann war ja total betrunken, er taumelte hin und her und konnte nur muehsam
das Gleichgewicht halten. Wenn er sie nur nicht den verkehrten Weg fuehrte!
Sie wollte ihn aber nicht noch einmal nach der Wohnung fragen, denn sie
war sicher, doch keine verstaendliche Antwort zu bekommen. So waren sie
schon eine ganze Strecke zusammen gegangen durch enge, winklige, schlecht
erleuchtete und gepflasterte Strassen, in denen der stroemende Regen grosse
Pfuetzen gebildet hatte. Den besten Weg schien der Betrunkene auch nicht
gewaehlt zu haben; unbekuemmert um den graesslichen Schmutz und die grossen
Wasserlachen, in welche er mitten hinein patschte, so dass Ilse vor den
nach allen Seiten spritzenden Tropfen ausweichen musste, trottete er
weiter. Ihre Unruhe wuchs immer mehr. Wohin fuehrte er sie eigentlich? In
einer dieser schmalen, uebelriechenden Gassen wuerden Althoffs doch
schwerlich wohnen. Sie fasste sich schliesslich ein Herz und fragte ihren
stummen Begleiter, ob sie nicht bald da waeren. Sein aufgedunsenes Gesicht
drehte sich zu ihr herum, und seine Augen sahen sie keineswegs
liebenswuerdig an.

"Koennen Se nich die Zeit abwarten, dann loofen Se doch allene," - bellte
er mit unsicherer Stimme.

Erschreckt wich Ilse zurueck; wenn das der Papa wuesste, dass dieser
betrunkene Mann jetzt ihr einziger Schutz war, er wuerde ausser sich sein.
Wie sorgsam wurde sie stets behuetet, und hier war sie ganz allein in einer
fremden Stadt.

Endlich erreichten sie eine besser beleuchtete breite Strasse, und Ilse
fiel es wie ein Stein vom Herzen, als sie diese menschenleeren,
unheimlichen Gegenden verliessen. Die Strasse fuehrte auf einen grossen Platz,
den sie ueberschritten, worauf sie wieder in eine schmalere Strasse
einbogen. Hier schienen sie in dem Villenviertel zu sein, denn die Haeuser
zu beiden Seiten hatten Vorgaerten, wie Ilse trotz der Dunkelheit erkennen
konnte. Neugierig sah sie in die hellen Fenster, an denen sie vorbeikamen,
denn in dieser Strasse wohnte gewiss Nellie. Sie dachte sich das bestimmt,
wagte aber nicht danach zu fragen. Ihre Sehnsucht nach Nellie und ihre
Ungeduld wuchsen immer mehr, seufzend ging sie weiter, es kam ihr vor, als
naehme dieser Weg kein Ende. Endlich blieb der Mann vor einer eisernen
Gittertuer stehen und wies auf ein Haus im Hintergrund - "da", sagte er
lakonisch und streckte ihr zugleich die Hand verlangend entgegen. Ilse
griff in die Tasche und nahm ihr Portemonnaie hervor, das er mit
geldgierigen Blicken betrachtete. Sie gab ihm in ihrer Angst ein
blitzendes Fuenfmarkstueck, nur um ihn los zu werden. Der ueber Erwarten
reichliche Lohn stimmte ihn doch etwas freundlicher. Er oeffnete ihr mit
grosser Ungeschicklichkeit die Tuer, und Ilse ging schnell hinein. Sie
bemerkte nicht mehr, welche verzweifelte Anstrengung er machte, sich von
ihr zu verabschieden, indem er seine Muetze abnehmen wollte. Einigemale
griff er vergebens danach, und als er sie gluecklich gepackt hatte, entfiel
sie seiner Hand. - Fluchend bueckte er sich nach ihr und liess die Tuere mit
lautem Krach ins Schloss fallen, dass Ilse heftig zusammenschrak.

Zoegernden Fusses hatte sie den kleinen Vorgarten durchschritten, und blieb
vor der Haustuer stehen - zitternd und zagend! Die Fenster in der
Parterrewohnung, welche Althoffs bewohnten, waren bis auf zwei
unbeleuchtet. Vergebens spaehte Ilse durch die Vorhaenge, ob sie nicht eine
Gestalt erblicken oder Stimmen hoeren koenne. Aber nichts regte sich, alles
blieb still.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Ach, waere sie nur erst bei Nellie,
und waere doch der Augenblick des Wiedersehens erst ueberstanden! Sie konnte
sich nicht entschliessen, die Glocke zu ziehen, sondern blieb wartend, ob
nicht jemand kaeme, an der Tuere stehen. Einfoermig toente das
Regengeplaetscher fort; sie fuehlte sich bis auf die Haut durchnaesst, denn in
ihrer Aufregung hatte sie nicht daran gedacht, sich den Mantel anzuziehen,
der nun schwer vom Regen ueber ihrem Arm hing. - Ihre Fuesse waren eiskalt,
dazu kam ein Gefuehl der Nuechternheit, denn sie hatte seit Mittag nichts
genossen.

Laenger konnte sie es so nicht mehr aushalten. Ach Gott, kam denn kein
Mensch, sie aus ihrer Pein zu erloesen? Erschoepft lehnte sie sich an die
Mauer. Endlich hoerte sie im Hause Stimmen. Vorsichtig beugte sie sich vor
und sah durch das Fenster in der Haustuere, wie Nellie mit ihrem Mann aus
einem der Zimmer heraustrat. Sie holte erleichtert Atem, als sie das
treue, liebe Gesicht der Freundin wiedersah, und waere am liebsten sofort
zu ihr geeilt, aber Dr. Althoffs Anwesenheit hielt sie zurueck. Er schien
fortgehen zu wollen, wie sie zu ihrer groessten Beruhigung bemerkte, denn er
hatte Hut und Schirm in der Hand. Arm in Arm ging das junge Ehepaar bis
zur Treppe, dann beugte sich Dr. Althoff zu Nellie herab und kuesste sie.
Glueckstrahlend sah sie zu ihm auf, und er streichelte zaertlich ihr
liebliches Gesicht.

"Adieu, Liebste," hoerte ihn Ilse deutlich sagen, "ich gehe jetzt. Spaet
werde ich nicht zurueckkehren."

Nellie nickte ihm herzlich zu.

"Ich schlafe gewiss schon, wenn du heimkommst," sagte sie, "ich bin sehr
schlaefrig diesen Abend."

Sie blieb an der Treppe stehen, bis er aus der Tuere verschwunden war. -
Ilse war bei seinem Kommen schnell zurueckgefahren und hatte sich hinter
ein dichtes Gebuesch gefluechtet. Jetzt ging er durch die Gartenpforte;
zugleich oeffnete sich eines der erleuchteten Fenster und eine Gestalt ward
in demselben sichtbar. Es war Nellie, welche ihrem Manne noch zunickte und
ihm nachsah, bis er verschwunden war.

Ilse horchte atemlos, bis seine Schritte in der Ferne verhallt waren. Sie
war seelenfroh, Nellie allein zu treffen, denn Dr. Althoff ihre Flucht
einzugestehen -, es wurde ihr jetzt erst klar, wie beschaemend das fuer sie
gewesen waere. Nellie konnte sie nun in Ruhe alles erzaehlen, und diese
sollte ihr fest versprechen, ihrem Manne nichts davon zu sagen. Und nun
fasste sie sich ein Herz und zoegerte nicht laenger mehr, sich Nellie
bemerkbar zu machen. Aus ihrem Versteck hervortretend, rief sie schuechtern
deren Namen. Erschrocken zuckte die junge Frau zusammen und, als sie Ilse
erkannte, welche in dem matten Lichtschein, den das helle Fenster in den
Garten warf, leibhaftig vor ihr stand, schrie sie laut auf. Sie war
leichenblass geworden, und ihre Augen blickten so starr, als saehe sie einen
Geist vor sich.

"Nellie," rief Ilse noch einmal leise, und nun kam jene, so schnell sie
ihre zitternden Fuesse trugen, zum Hause heraus gelaufen, vor welchem ihr
Ilse in die Arme stuerzte.

"Um Gottes willen, Ilse, wo kommst du her?" brachte sie atemlos hervor.

"Meine einzige Nellie," das war alles, was Ilse sagen konnte, waehrend die
Aufregung und die koerperliche Anstrengung der letzten Stunden sich in
einem krampfhaften Schluchzen aufloesten.

Nellie fuehrte sie in das Zimmer, selbst nicht faehig ein Wort zu sprechen.
Sie nahm der heftig Weinenden Hut und Mantel ab und fuehrte sie zum Sofa.
Auf keine ihrer eindringlichen Fragen bekam sie eine Antwort, ratlos stand
sie neben der Freundin und betrachtete sie voll Entsetzen. Was war denn
nur geschehen, wie sah Ilse aus? Ihr nasses Kleid war ueber und ueber
beschmutzt und die vor Feuchtigkeit tropfenden Haare hingen ihr aufgeloest
in die Stirn. Nellie nahm ihr Taschentuch und trocknete damit das wirre
Haar, dann setzte sie sich still neben die Freundin und lehnte ihren Kopf
an deren Schulter.

So sassen sie eine Weile wortlos nebeneinander.

Endlich fragte Nellie leise: "Ilse, suesser _darling_, was ist mit dich
passiert, wie kommst du hierher?"

Die hellen Traenen schimmerten bei diesen Worten in ihren Augen, ihr
weiches Herz wurde von dem Jammer der Freundin so geruehrt, dass ihre Stimme
bebte. Sie streichelte Ilses Haende und nannte sie mit den zaertlichsten
Schmeichelnamen. Alle Versuche sie zu beruhigen, zum Sprechen zu bringen,
halfen nichts. Sie wusste nicht mehr, was sie anfangen sollte, die kleine
Frau, und hilflos sah sie sich um. Ihr praktischer Sinn gab ihr
schliesslich das Richtige ein; sie stand auf und schenkte am Bueffet ein
Glas Wein ein, welches sie Ilse brachte.

"Trink, Kindchen," sagte sie, das Glas an Ilses Lippen setzend, "das wird
dich gut tun. O, nur ein kleiner Schluck, mehr will ich dich auch nicht
quaelen," bat sie schmeichelnd, als Ilse das Glas zurueckschob und ablehnend
mit dem Kopf schuettelte.

"Du musst, _darling_," entschied sie endlich kurz, und jetzt widersetzte
sich Ilse auch nicht laenger, nahm das dargebotene Glas und trank es in
hastigen Zuegen leer. Nellie trug es auf das Bueffet zurueck.

"Fuehlst du dich wohler?" fragte sie teilnehmend und setzte sich wieder
neben Ilse, welche sich in die Sofaecke zurueckgelehnt hatte und mit dem
Taschentuch ihr Gesicht bedeckt hielt. Auf Nellies Frage nickte sie mit
dem Kopf. Die junge Frau seufzte leise. Wenn sie doch endlich einmal ein
Wort spraeche, dachte sie, denn Ilses Schweigen wurde nachgerade
unheimlich. Unruhig rueckte Nellie hin und her; was mochte denn nur
vorgefallen sein, dass sich die Freundin gar nicht fassen konnte?

"Lieb Ilschen," sagte sie endlich und griff nach ihrer Hand, "sieh mich
doch einmal an, weisst ja noch garnicht, wie ich mir als wuerdiges Hausfrau
ausnehme." Sanft zog sie dabei Ilse die Hand vom Gesicht fort. "O sieh
doch her," bat sie und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen, "du
wirst in dies brave, ehrbare Gestalt deine Nellie nicht wieder erkennen.
Alles Dumme ist aus mein Sinn heraus, ich bin ein vernuenftiges, kleines
Hausfrau geworden."

Sie sagte das so drollig, und Ilse sah, als sie aufblickte, in so
schelmische Augen, dass sie nicht widerstehen konnte und durch Traenen
lachend die Arme um Nellies Hals schlang. Erleichtert atmete diese auf,
denn das wortlose Schluchzen war ihr zu schrecklich gewesen. Sie kuesste die
Freundin innig und streichelte liebkosend ihre heissen Wangen.

"Armes _darling_, wie erhitzt hast du dir und wie elend siehst du aus. Ich
werde dir ein wenig Essen holen, sonst habe ich eine kranke Ilse. Bleib
hier nur sitzen, gleich bin ich wieder zurueck," sagte sie und stand auf.

                              [Illustration]

"Bitte, bitte, Nellie, geh nicht fort," bat Ilse und hielt sie am Arm
fest, "ich bin ja garnicht hungrig, ich kann nicht essen, wirklich nicht."

"Du wirst dich zwingen, nur einige Bissen musst du essen." Mit diesen
Worten machte sie sich von Ilse los und ging hinaus, um sehr bald mit
einem Praesentierbrett zurueckzukommen, auf welchem ein Teller mit
appetitlich belegten Broetchen stand. Sie rueckte ein kleines Tischchen an
Ilses Seite, das sie flink und zierlich deckte.

"Wirklich, ich kann nichts essen," beteuerte Ilse wieder, als Nellie sie
zum Zugreifen einlud. Aber ihr Straeuben half ihr nichts, wohl oder uebel
musste sie essen; bald schmeckte es ihr auch vortrefflich, und sie speiste
mit grossem Appetit. Befriedigt sah ihr Nellie zu und noetigte sie immer von
neuem.

"Du, nun kann ich aber nicht mehr," sagte Ilse endlich und schob den
Teller zurueck, "ich bin furchtbar satt."

Nellie stellte das Tischchen zur Seite und liess sich auf einem kleinen
Schemel nieder, den sie dicht neben das Sofa schob. Ihre beiden Haende
legte sie in Ilses Schoss und sah fragend zu ihr empor. Ilse verstand die
stumme Frage in ihren Augen, es wurde ihr aber doch schwerer, als sie
gedacht hatte, Nellie eine Aufklaerung ueber ihre Flucht zu geben. Seufzend
lehnte sie sich zurueck und sah vor sich hin.

"Lieb Ilschen," sagte Nellie leise und fuhr bittend und zoegernd fort:
"Willst du mir nicht erzaehlen, warum du in die dunkle Nacht zu uns kommst?
_Darling_, schuette dein armes Herz in mich aus."

Da richtete sich Ilse heftig auf.

"Nellie, ach, wenn du wuesstest, wie ungluecklich ich bin!" rief sie
leidenschaftlich. "Leo liebt mich nicht mehr, er hat mich nie geliebt!
Seine Sklavin soll ich werden, keinen freien Willen haben, mich immer
fuegen, und das kann ich nicht, das tue ich nicht, ich lasse mich von ihm
nicht wie ein Kind behandeln, ich bin erwachsen und - und -" hier stockte
ihre Stimme unter hervorbrechenden Traenen, die Erinnerung an das erlittene
Unrecht brachte sie von neuem in Aufregung.

"O, bitte Kind, beruhige dir," bat Nellie, "kannst du mir jetzt deine
Geschichte noch nicht erzaehlen, so warte ich bis morgen. Weine nicht mehr,
armes _darling_."

Doch unaufhaltsam flossen Ilses Traenen. Nellie war aufgestanden und nahm
einen Leuchter vom Tisch, den sie anzuendete. Sie wusste jetzt genug und
drang deshalb nicht weiter in Ilse. Also ein Streit mit Leo war die
Ursache ihrer Flucht! Aber wie konnte sich Ilse zu solchem Streite
hinreissen lassen! Sie war aufs hoechste erschrocken, bezwang sich aber,
moeglichst ruhig zu erscheinen, so sehr sie auch ueber die kuehne Tat ihrer
Freundin innerlich erregt war.

"Komm, Ilse," sagte sie, "ich fuehre dich in dein Zimmer und du legst dir
schlafen. Rieke macht dein Bett schon in Ordnung; ich habe ihr gesagt, du
haettest mich mit deiner Ankunft ueberrascht. Aber sie darf dich so mit
deinen Traenen nicht sehen, sonst glaubt sie mich meine Luege nicht." Damit
zog sie Ilses Arm durch den ihrigen und fuehrte sie in ein erleuchtetes
Zimmer, wo ein helles Feuer im Ofen knisterte.

"Ach, wie gemuetlich ist es hier, Nellie," rief Ilse unwillkuerlich aus und
sah sich neugierig in dem Raume um. Wie freundlich und einladend war hier
alles! Zu der hellgebluemten Tapete passten die Gardinen, und der zierliche
Toilettentisch war so duftig und grazioes aufgesteckt, dass Ilse sofort
erriet, nur Nellie koenne dieses Werk geschaffen haben.

"Reizend ist es bei dir, Nellie, alles so blendend sauber und fein," sagte
sie wieder bewundernd und betrachtete die Flaeschchen und Buechsen von
glaenzendem Kristall, welche die Toilette zierten.

"Ich sagte dich ja schon, dass ich ein braves Hausfrau geworden bin,
sittsam und ordentlich wie unsre artige Rosi; du wirst grosse Wunder an mir
erleben," erwiderte Nellie, und der Schelm lachte aus dem Gruebchen in
ihrer rosigen Wange.

"Du einzige Nellie, du bist doch noch ganz wie frueher, wie furchtbar lieb
habe ich dich, am allerliebsten auf der ganzen Welt."

"O nein, so darfst du nicht sprechen, Ilse; deinen Braeutigam musst du am
liebsten auf die ganze Welt haben, dann deine lieben Eltern, und zuletzt
kommt erst Frau Elinor nebst Gemahl." Um Ilses Mund zuckte es spoettisch,
und eine bittre Antwort draengte sich auf ihre Lippen, aber sie bezwang
sich und schwieg. Nellie sollte nur wissen, wie sie ihr Braeutigam
behandelt hatte! Konnte er da noch ihr Liebstes auf der Welt sein?

Nellie hatte die Gardinen am Fenster zugezogen und trat nun wieder zu
Ilse.

"So, jetzt ist alles fix und fertig, nun schnell in deine Bett. Komm, ich
helfe dich."

Als sich Ilse niedergelegt hatte und es ihr ersichtlich behaglicher zu
Mute wurde, ergriff sie Nellies Hand.

"Jetzt will ich dir auch beichten," sagte sie, und als Nellie meinte, sie
solle das am andern Tage tun, denn sie wuerde sich wieder zu sehr aufregen,
bat sie flehentlich, sie doch anzuhoeren.

"Ich kann nicht schlafen, Nellie, wenn du nicht alles weisst!" rief sie und
erzaehlte ausfuehrlich alle Einzelheiten des Streites mit Leo und ihrer
Flucht. Ihre Wangen gluehten beim Sprechen vor Eifer und Zorn, und sie
wunderte sich nur, dass Nellie nicht fortwaehrend in lautes Bedauern ueber
ihr trauriges Schicksal ausbrach. Die Freundin sah schweigend vor sich
hin, denn sie war entsetzt ueber Ilses abenteuerlichen Streich und
durchschaute klar, dass dieselbe im Unrecht war. Wie hatte sie nur so
unueberlegt handeln koennen! Sie zitterte bei dem Gedanken an die vielen
ungluecklichen Stunden, welche diese Tat der Freundin noch bereiten wuerde.

"Nicht wahr, Nellie, so durfte mich Leo nicht beleidigen, wenn er mich
wahrhaft lieb hat, - was sagst du dazu?" fragte Ilse schliesslich, als
Nellie sinnend dasass, und sah ihr dabei forschend ins Gesicht.

"Ich sage garnichts diesen Abend, Kind," erwiderte sie ausweichend, denn
sie wusste, dass eine ehrliche Antwort Ilse in ihrer jetzigen Stimmung nur
kraenken wuerde; gegen ihre Ueberzeugung aber wollte sie auch nicht sprechen.

Als sie in Ilses Zuegen eine Enttaeuschung bemerkte, streichelte sie
zaertlich ihre Stirn. "Du musst jetzt schlafen, klein Ilschen, deine Augen
haben eine so muede Aussicht. Morgen frueh sprechen wir ueber deine Sache,
nicht wahr? - Gute Nacht, _darling_." Mit diesen Worten erhob sie sich, um
jedes weitere Gespraech abzuschneiden.

"Ruhe dir schoen aus, mache die Augen zu und nicht eher auf, bis morgen
frueh; du brauchst dich nicht zu fuerchten, in das andre Zimmer daneben
schlafen Fred und ich und hoeren, wenn du rufst. Ich muss jetzt gehen, denn
kommt der liebe Mann nach Hause und findet mich noch wachsam, so macht er
ein boeses Gesicht."

"Nellie!"

"Ja, Ilse, was soll ich?"

"Bitte, bitte, Nellie, versprich mir eins."

"Was soll ich dir versprechen, _darling_?"

"Sage deinem Manne nicht, dass ich geflohen bin, ich muesste mich ja zu Tode
vor ihm schaemen."

"Nein, Ilschen, beruhige dich, er wird nichts wissen. Ich sage ihm, wie
ich Rieke erzaehlte, dass du mich eine kleine Ueberraschung bereitet hast."

Im stillen laechelte sie ueber die naive Ilse, welche noch ohne Ahnung war,
dass Mann und Frau keine Geheimnisse vor einander haben. Natuerlich wuerde
sie Fred alles erzaehlen, noch heute Nacht, und mit ihm beraten, was hier
zu tun ist. Sie nahm das Licht, nickte Ilse herzlich zu und ging hinaus.

In der grossen Aufregung, in der sie sich befand, war sie nicht imstande,
sich zur Ruhe zu begeben. Vor ihrem Naehtisch, der im Esszimmer am Fenster
stand, setzte sie sich nieder und sah in Gedanken vor sich hin. Das Bild
ihres Mannes stand im einfachen Stehrahmen vor ihr und sie betrachtete es
lange Zeit sinnend. Ein seliges Gefuehl des Glueckes durchzog sie bei diesem
Anblick, und in ueberwallender Zaertlichkeit kuesste sie das Bild.

"Mein Fred," fluesterte sie leise mit strahlenden Augen. Sie nahm seine
Liebe mit der Dankbarkeit eines demuetigen Weibes entgegen, denn er hatte
sie aus ihrem liebearmen Leben an seine Brust gezogen, an der sie nun fuer
immer warm und sicher ruhte. Jetzt hatte sie eine Heimat, ein treues
Menschenherz, das sie ihr eigen nennen durfte, dem sie sich ganz zu eigen
gab. Ihre Gedanken gingen in dem Geliebten auf, sie hatte nur Auge und
Sinn fuer seine Wuensche, sie lebte nur fuer ihn, und ihr Glueck truebte kein
dunkler Schatten.

Dann aber schweiften ihre Gedanken wieder zu der, welche in ihrem
Fremdenstuebchen in den weissen Kissen ruhte. Waere diese doch auch erst, was
sie war, eine glueckliche Frau! Aber - sie sah mit grosser Betruebnis voraus,
dass die arme Ilse noch heisse Kaempfe bestehen muesste, bis sie ihren starren
Sinn gebeugt, bis sie die wahre, echte Liebe kennen gelernt haben wuerde.
Wenn Ilse Leo so liebte, wie sie ihren Mann, haette sie dann so
unverantwortlich handeln koennen? Mit Schrecken dachte Nellie daran, was
Ilses Braeutigam wohl zu diesem Schritte sagen wuerde? O, mein Gott, wenn er
ihr den Ring zurueckgab, wie Lucies Braeutigam es getan hatte! Nellie bebte
bei diesem Gedanken, und ihr treues Herz empfand bange Sorge um die
Zukunft ihrer Freundin.

Die Uhr ueber dem Sofa schlug jetzt 11, nun musste Fred jeden Augenblick
kommen; mit Geduld und Sehnsucht erwartete sie ihn. Sie war ganz ratlos,
und es musste doch etwas geschehen. Ilses Eltern, die gewiss in Todesaengsten
waren, mussten auf alle Faelle Nachricht haben. Wie und auf welche Weise,
das musste sie doch erst mit Fred besprechen.

Durch die Scheiben sah sie auf die dunkle Strasse hinab, die oede und
verlassen dalag. Endlich glaubte sie in der Ferne Schritte zu hoeren.
Ungestuem riss sie das Fenster auf und bog sich weit hinaus. Die kuehle
Nachtluft wehte ihr erfrischend um das Gesicht, der Regen hatte
nachgelassen, aus den zerrissenen dunklen Wolken, die eilend vorueberzogen,
sah der Mond hervor und beleuchtete mit bleichem Glanze Nellies Antlitz.
Sie horchte gespannt in die stille Nacht hinaus. Die fernen Schritte waren
verhallt, also war es ihr Mann doch nicht gewesen. Gerade heute blieb er
laenger aus, als sonst. Ob sie Rieke weckte und mit dieser ihm entgegen
ging? Denn wie Feuer brannte es ihr auf der Seele, bis sie ihm alles
erzaehlt haben wuerde. Schon wollte sie das Fenster schliessen, um ihren
Entschluss auszufuehren, da hoerte sie von neuem Schritte auf der Strasse und
diesmal waren es die ihres Mannes. Eilig schloss sie das Fenster und ging
ins Zimmer zurueck. Sie hoerte, wie der Schluessel in der Haustuer umgedreht
wurde und schnelle Tritte die Treppe herauf kamen. Jetzt schloss er den
Vorplatz auf. Sie ging ihm bis an die Tuer entgegen und nahm sich
krampfhaft zusammen, um ruhig zu erscheinen.

"Nanu, noch auf, wie kommt das?" fragte er bei ihrem Anblick erstaunt. "Du
weisst doch, Kind, dass es mich unruhig macht, wenn ich denken muss, du
wartest auf mich und wirst muede und abgespannt." Sie legte ihm
schmeichelnd die Hand auf den Mund.

"Erst hoeren, lieber Fred, dann schelten. Glaubst du, ich sei wegen mein
Mann aufgeblieben? O nein, ich laege schon laengst in das tiefste Schlummer,
haette ich nicht eine grosse Erlebnis gehabt." Sie blickte ihn ernst dabei
an, und er bemerkte, dass sie blass und erregt aussah.

"Was denn fuer ein Erlebnis?" fragte er aengstlich. "Was ist denn passiert,
erzaehle doch! ich aengstige mich, du siehst so bleich und aufgeregt aus,
hat dir Rieke Aerger bereitet?"

"O nein," fiel sie ihm lachend ins Wort, "Rieke war eine fromme Lamm wie
immer. Lass nur, du erraetst es nicht, Schatz; komm, setze dich nieder,
damit du nicht in Ohnmacht faellst, wenn du's hoerst, was ich dir jetzt
sagen werde. Also hoere: Ilse ist da!"

"Ilse!" lachte Dr. Althoff, "das ist himmlisch! Ja, ich glaube wohl, du
moechtest sie waere hier und vertriebe dir die Zeit, wenn dich dein boeser
Mann allein laesst. Warte nur, Boesewicht," sagte er scherzend und hob ihr
Kinn in die Hoehe, um ihr in die Augen sehen zu koennen. "Du willst mir wohl
etwas vorflunkern, weil ich ein bisschen spaeter nach Hause komme, als es
meine gestrenge Gattin sonst von ihrem soliden Manne gewohnt ist? Ach ja,
es ist schrecklich, wenn man so unter dem Pantoffel steht," sagte er
seufzend.

Sie blieb aber ernst bei seinem Scherz.

"Nein, nein, ich mache keine Spass, Fred; es ist wahr, da drueben," sie wies
mit der Hand nach der Tuer, "liegt Ilse und schlaeft."

Und als er sie noch immer unglaeubig ansah, da holte sie Ilses Hut und
Mantel herbei.

"Sieh hier, gehoert mich dies Hut, dieses Mantel, glaubst du mir nun?"

Ja, jetzt glaubte er ihr, das bewiesen seine erstaunten Augen, mit welchen
er die Sachen ansah. Fragend blickte er seine Frau an.

"Nellie, was ist das, wie kommt Ilse ploetzlich her?"

"O, mit der Eisenbahn; gleich als du fort warst, kam sie und rief mich.
Wie bin ich erschrocken gewesen, ich glaubte ein Gespenst zu sehen, als
ploetzlich Ilse so bleich vor mir stand. Wie zitterig war armes _darling_,
o, und wie hat sie geweint!"

"Geweint, warum hat sie denn geweint?" fragte er, "sage doch nur, was ist
denn vorgefallen?"

Mit fliegenden Worten erzaehlte sie ihm nun alles.

"Und was sollen wir tun, Fred?" fragte sie schliesslich. "Ilse ist ein
unvernuenftiges Kind; wir muessen fuer sie handeln."

Er hatte bei ihrer Erzaehlung mehrmals unwillig den Kopf geschuettelt.

"Ja, was sollen wir tun?" wiederholte er. "Ich hatte geglaubt, Ilses Trotz
waere gebrochen, sie waere ein vernuenftiges Maedchen geworden, und jetzt
macht sie solche Streiche! Das beste ist, wir packen das ungezogene Kind
auf und schicken es morgen mit einem Entschuldigungszettel wieder nach
Hause."

"O, so darfst du nicht sprechen," rief Nellie unwillig. "Jeder hat nicht
ein solch fuegsames Natur, wie deine Frau. Ilse hat nun einmal ein
trotziges Sinn, aber sie ist gut, und ich habe ihr so herzhaft lieb. Du
darfst ihr auch nicht zeigen, dass du von ihre Fluechtigkeit weisst; sie hat
mich gebeten, dir nichts davon zu sagen. - In welche Angst werden ihre
Eltern und Leo um sie sein! Sollen wir sie nicht telegraphieren?"

"Ja natuerlich, Schatz, das muessen wir tun und zwar gleich, sofort. Ich
will die Depesche selbst besorgen."

"O ja, das ist gut von dir, aber nun musst du armer Mann noch einmal in die
dunkle Nacht hinaus."

"Ich brauche ja nicht weit zu gehen," meinte er und zog sich seinen
Ueberzieher an.

"Wo ist mein Hut? So, du hast ihn, - danke, Kind; gleich bin ich wieder
hier. Gehe nur inzwischen zu Bett, du musst schlafen, du hast dich sehr
aufgeregt."

"Ja, ich bin sehr schlaefrig, ich fuerchte aber, ich kann nicht schlafen,
denn alles tanzt wirr in mein Kopf. Ich will nochmal nach unsre Trotzkopf
sehen, ob sie schlaeft. Adieu so lange, Liebster."

Leise ging sie in Ilses Zimmer und trat an ihr Bett. Diese schlief fest.
Noch sah man die Spuren vergossener Traenen auf ihren Wangen, aber sie
laechelte im Traume.

"O, sie hat eine gute Traum, denn sie lacht," sagte Nellie spaeter zu ihrem
Mann. Nun erlosch auch das letzte Licht in der Wohnung Doktor Althoffs,
und das Haus lag in tiefem Dunkel da.

                                  * * *

In Moosdorf hatte Ilses Flucht grossen Schrecken hervorgerufen. Als sie zur
gewohnten Kaffeestunde um 5 Uhr, zu welcher die Familie sich zu versammeln
pflegte, nicht erschien, suchte man sie im Garten und auf ihrem Zimmer,
doch war sie nirgends aufzufinden. "Sie wird zu Pastors gegangen sein,"
meinte Frau Anne; "wenn es dich beruhigt, lieber Richard, schicke ich
sogleich dorthin."

"Tue das, liebes Kind," gab er zur Antwort, "es wird jetzt so frueh dunkel,
der Weg ist so einsam, und Ilse koennte sich fuerchten. - Wo steckt das Kind
nur?" wandte er sich, nachdem seine Frau das Zimmer verlassen hatte, an
seinen Schwiegersohn, der am Fenster sass und anscheinend sehr vertieft in
die Lektuere eines Buches war. "Weisst du nicht, wo sie sein koennte, Leo?
Sie hat es dir doch sicher gesagt, wenn sie zu Pastors gehen wollte."

Leo sah auf und schuettelte den Kopf.

"Nein, Papa, ich habe keine Ahnung, wo Ilse ist. Nach Tisch waren wir
zusammen auf der Veranda, seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen."

Herrn Macket fiel es bei diesen Worten ploetzlich ein, dass sie ihm heute
mittag von dort mit sehr erregtem Gesicht entgegengekommen war. Die beiden
haben sich gewiss mal wieder gestritten, dachte er; denn Leo sass so
gleichgueltig da und las so ruhig weiter, als handle es sich nicht um seine
Braut, die man suchte.

Bald kam Frau Anne mit dem Bescheid zurueck, dass Ilse bei Pastors nicht
waere und auch nicht dort gewesen sei. Jetzt wurde der besorgte Papa aber
unruhig.

"Ja, aber irgendwo muss sie doch sein," stiess er hervor und stand auf.

Seine Frau trat zu ihm. "Sie wird ins Dorf gegangen sein," versuchte sie
ihn zu beruhigen. "Wenn es dir recht ist, gehen wir ihr entgegen. Ich will
mich sofort anziehen und bin gleich wieder hier."

Herr Macket war mit diesem Vorschlag einverstanden und verliess zugleich
mit seiner Frau das Zimmer, um bald darauf zum Ausgehen geruestet, den
Stock und Hut in der Hand, wieder einzutreten. Leo sass noch immer lesend
am Fenster und sah kaum auf, als sein Schwiegervater zurueckkehrte. Herrn
Macket aergerte diese scheinbare Ruhe, er raeusperte sich einigemale
vernehmlich und ging mit heftigen Schritten auf und ab. Es verdross ihn,
dass sich Leo durch nichts in seiner Lektuere stoeren liess.

"Mein Gott, Leo, hat dir denn Ilse kein Wort gesagt, dass sie ueberhaupt
fortgehen wollte?" brach er endlich unwillig los.

Wieder antwortete Leo ruhig und gelassen:

"Nein, Papa, Ilse hat mir mit keinem Wort verraten, wohin sie gehen
wollte. Ich glaube auch, wie die Mama, es ist das beste, wir gehen ins
Dorf, dort wird sie sicher bei einem ihrer vielen Schuetzlinge zu treffen
sein." Er stand auf, klappte das Buch zu und legte es auf die Fensterbank.

"So, ich bin fertig," rief Frau Anne ins Zimmer herein, "wir koennen
gehen."

Draussen nahm sie den Arm ihres Mannes, und nun schritten die drei die
einsame Dorfstrasse hinunter, blieben bald hier, bald dort an den Tueren
stehen, oder traten auch in die kleinen dumpfen Bauernstuben ein, aber
ueberall bekamen sie den Bescheid, dass Ilse von niemand gesehen sei.

"Unbegreiflich, unbegreiflich," murmelte Herr Macket vor sich hin. "Wo mag
das Maedchen nur stecken?"

Frau Anne musste unwillkuerlich ueber ihren Mann laecheln, denn in seinem
Eifer und seiner allzugrossen Besorgnis hatte er ihren Arm losgelassen und
eilte in beschleunigtem Tempo voraus.

"Wie aengstlich der Papa doch gleich ist," wandte sie sich an Leo, "was
soll denn Ilse zugestossen sein, sie kennt hier jeden Weg und Steg.
Irgendwo wird sie sich festgeplaudert haben, meinst du nicht auch, Leo?"

Er nickte und ging schweigend neben seiner Schwiegermutter weiter.

Das kleine Dorf war bald durchschritten, niemand vermochte Auskunft ueber
Ilse zu geben, keiner hatte sie gesehen.

Herrn Mackets Unruhe steigerte sich immer mehr, man sah es ihm deutlich
an.

"Wir wollen jetzt noch bei der Kathrine vorgehen," - sagte er zu seiner
Frau, "vielleicht ist sie dort."

Kathrine war das ehemalige Kindermaedchen Ilses, an welchem sie noch mit
grosser Liebe hing und welches sie oefter besuchte. Sie war unter den
Bauernfrauen gewesen, welche am Nachmittag vom Felde heimkehrend von Ilse
so scheu gegruesst worden waren, und hatte ihr deshalb verwundert
nachgesehen. Sie haette also dem unruhvollen Papa Auskunft geben koennen
ueber seinen Liebling. Doch ging es auch hier, wie so oft in aehnlichen
Faellen, dass noch im letzten Augenblick ein tueckischer Zufall hindernd
dazwischen tritt, wenn man unbewusst schon dicht vor dem Ziele steht.

Frau Anne sehnte sich nach dem behaglichen Zimmer, denn ein heftiger Wind
hatte sich erhoben und trieb ihnen den Regen in grossen Tropfen entgegen.
Sie zog den Mantel noch fester um ihre Schultern und den Schleier tiefer
ueber das Gesicht. Bei diesem Unwetter sollten sie noch so weit gehen! Denn
Kathrine wohnte ausserhalb des Dorfes in einem kleinen Haeuschen. Auch
glaubte Frau Macket, dass dieser Weg ohnedies ganz unnuetz sein wuerde, denn
Kathrine war diesen Morgen erst bei ihr gewesen und hatte Ilse gesehen und
gesprochen. Sie sagte das ihrem Mann, und er kam schliesslich zu der
Ueberzeugung, dass sie Ilse gewiss vergeblich dort suchten. Auch war der Weg
dahin einfach grundlos, es war voellige Dunkelheit unterdessen
hereingebrochen, so dass er seiner Frau recht gab, und umzukehren beschloss.
"Wir finden Ilse gewiss vor, wenn wir nach Hause kommen," sagte Frau Anne,
"es muss ja bald sieben Uhr sein; zum Abendessen ist sie sicher wieder da."

Herrn Macket schienen die Worte seiner Frau zu beruhigen, auch er gab sich
der festen Hoffnung hin, dass Ilse wohl schon daheim sein wuerde. Im stillen
nahm er sich vor, ihr gehoerig den Text darueber zu lesen, dass sie so mir
nichts dir nichts fortgeblieben war. Wieviel Lauferei und Schickerei
hatten sie dadurch schon gehabt! Sogar den Abendschoppen im Loewen hatte er
ihretwegen versaeumt, und er fuehlte jetzt ploetzlich, als Folge der
Abweichung von dieser taeglichen Gewohnheit, einen brennenden Durst. Teils
um diesen stillen zu koennen, teils um sich frueher Gewissheit zu
verschaffen, ob Ilse daheim waere, verdoppelte er seine Schritte, so dass
seine Frau Muehe hatte mitzukommen und einigemale bitten musste, doch etwas
langsamer zu gehen. Leo schritt wortlos hinter ihnen her. Er schwankte in
seinem Innern, ob er nicht doch lieber umkehren und bei Kathrine
nachfragen sollte. Zoegernd blieb er stehen und ueberlegte unschluessig, was
zu tun sei. Aber der Streit mit Ilse hallte noch zu heftig in ihm nach;
wenn er sie jetzt bei der Frau antraf, hatte er wieder einmal verlorenes
Spiel. In den Augen seines trotzigen Schatzes wuerde ihr Triumph zu lesen
sein, dass er ihr doch wieder nachgelaufen sei; sie wuerde ihm gnaedig
verzeihen, wenn er ihr, wie er bis jetzt stets getan, ein gutes Wort gab.
Aber diesmal wollte er standhaft bleiben; das Gefuehl, dass er ihr schon zu
viel und zu oft nachgegeben habe, wollte sich heute nicht aus seiner Seele
verdraengen lassen, und deshalb, - nein, er wollte nicht umkehren! Wie
seine Schwiegereltern, troestete auch er sich mit der Hoffnung, dass Ilse
jetzt wohl daheim sein wuerde, und schnell folgte er dem vorangegangenen
Ehepaare.

Als sie ins Haus traten, war Herrn Mackets erste Frage nach Ilse. Aber er
bekam die Antwort, dass sie nicht gekommen war und auch keine Nachricht
geschickt hatte.

Mit nervoeser Unruhe zog er die Uhr aus der Tasche.

"Es ist sieben Uhr," sagte er zu seiner Frau.

"Da muss Ilse ja jeden Augenblick kommen," fiel sie ihm ins Wort, "zum
Abendessen ist sie, ohne Bescheid gegeben zu haben, noch nie
ausgeblieben."

"Ist das Abendessen bereit?" fragte sie das Hausmaedchen, das ihr
diensteifrig den nassen Mantel abgenommen hatte.

"Ja, gnaedige Frau, es ist alles fertig."

Sie bat ihren Mann und Leo, im Esszimmer auf sie zu warten, da sie nur noch
nach dem Kinde sehen wolle.

Eine behagliche Waerme stroemte den beiden Maennern entgegen, als sie das
Zimmer betraten. Das laut knisternde Holzfeuer in dem altertuemlichen
Kachelofen, das helle Licht, welches die grosse Haengelampe ausstrahlte, und
der einladend gedeckte Tisch, die ganze stimmungsvolle Behaglichkeit,
welche in dem Raume herrschte, vermochte indessen heute nicht den
gewohnten Eindruck auf die beiden hervorzubringen. Herr Macket durchmass
das grosse Zimmer fortwaehrend von einem Ende zum andern mit grossen
Schritten, und sein Blick schweifte jedesmal, so oft er vorbeiging, zu der
alten Standuhr hinueber, die schon von seinen Urgrosseltern herstammte und
ein wertvolles Familienstueck war. Gleichmaessig rueckte der Zeiger vorwaerts,
einfoermig tickte der grosse Pendel. "Schon 1/28 Uhr," murmelte der besorgte
Vater, als das Schlagwerk jetzt zu einem lauten Ton aushob, der melodisch
verhallte.

Leo hatte sich an das Fenster gesetzt und sah stumm hinaus. "Wo bleibt nur
Ilse," dachte auch er jetzt; es kam ihm seltsam vor, dass sie noch immer
nicht da war. Sie hatte ihn so aufgeregt verlassen diesen Mittag, so
zornig, wie er sie nie gesehen. Sollte sie in ihrer Leidenschaftlichkeit
fortgelaufen sein, des Wegs vielleicht nicht geachtet und sich deshalb
verirrt haben? Er kannte ihre Furchtsamkeit, wie wuerde sie sich aengstigen,
wenn sie wirklich den richtigen Weg verfehlt hatte! Dieser Gedanke
verscheuchte allen Groll in seinem Herzen, er dachte nur noch daran, dass
seine Braut jetzt vielleicht seines Schutzes, seiner Hilfe bedurfte,
konnte er sie da verlassen? Er sprang auf.

"Papa," wandte er sich an seinen Schwiegervater, "ich will noch einmal
fortgehen. Vielleicht hat sich Ilse verirrt, ich kenne ja ihre
Lieblingswege, sicher ist sie zu weit gegangen und kann nicht wieder
zurueckfinden."

Nichts war Herrn Macket erwuenschter, und mit Freuden gab er seine
Zustimmung zu diesem Entschluss.

"Das ist recht, tue das," sagte er mehrmals hinter einander, "sie hat sich
gewiss verirrt, sie muesste ja sonst laengst da sein. Soll ich mitgehen?"

"Nein, nein, Papa," fiel ihm Leo ins Wort, "bleibe nur hier."

"Ja aber, Leo, - kennst du auch den naechsten Weg nach der Wassermuehle? Es
faellt mir eben ein, dass Ilse gestern davon sprach, dass sie dorthin gehen
wolle, weil sie gehoert habe, dass die kleine Liese krank sei; es kann also
sein, dass sie dort ist. Wenn du ueber die Friedenseiche gehst und dann der
Chaussee folgst -"

"Ja, lieber Papa," unterbrach ihn Leo laechelnd, "ich kenne den Weg ganz
genau."

Herr Macket begleitete ihn in seinem Eifer bis an die Gartenpforte und gab
ihm noch gute Ratschlaege, wie er diesen und jenen Weg am besten abkuerzen
koenne.

Als er ins Esszimmer zurueckkehrte, fand er dort seine Frau, die am Bueffet
stand und den Tee bereitete. Er erzaehlte ihr sehr befriedigt, dass Leo
fortgegangen waere, um Ilse zu suchen.

"Wir wollen aber trotzdem mit dem Essen anfangen," sagte Frau Anne, die
ihren Mann gern auf andre Gedanken bringen wollte und noetigte ihn zum
Sitzen. Dann stellte sie eine dampfende Tasse Tee vor ihn hin und reichte
ihm die Speisen. Er ass nur wenig, und sie las in seinem Mienen, dass er
gespannt auf jedes Geraeusch horchte. Jedesmal, wenn die Haustuere ging,
stand er auf, sah hinaus und kehrte mit enttaeuschtem Gesichte zurueck.

"Iss doch nur, lieber Richard," bat Frau Anne dringend, "alles wird kalt,
und es gibt gerade dein Lieblingsessen heute abend."

Er nickte und fuellte sich den Teller in der Zerstreutheit bis an den Rand
voll, dann ass er einige Bissen, aber mit Hast und Ueberstuerzung, nicht mit
der Behaglichkeit, die er sonst gerade beim Essen so sehr liebte. Die
beiden Ehegatten waren auffallend still diesen Abend; eine Zeitlang hoerte
man nur das Klappern der Messer und Gabeln und das gleichmaessige Ticken der
Uhr, nach welcher Frau Anne oefter verstohlen hinblickte, denn Ilses
Ausbleiben wurde auch ihr jetzt auffallend. Sie sah, dass die Aufregung
ihres Mannes wuchs und dass er sich nur ihr gegenueber beherrschte. Er hatte
sich in den Stuhl zurueckgelehnt und spielte in nervoeser Unruhe mit dem
Messerbaenkchen.

Frau Anne legte den Teeloeffel, mit welchem sie eine ganze Weile mechanisch
in der Tasse herumgeruehrt hatte, auf das Unterschaelchen.

"Richard," sagte sie und ein leiser Vorwurf klang aus ihren Worten, "heute
abend hast du zum erstenmal vergessen, unsrem Liebling gute Nacht zu
sagen. Er war so herzig, so drollig, der kleine Kerl, als ich ihn zu Bette
brachte."

"Ja, wahrhaftig, das habe ich vergessen," rief er und sprang auf, "aber
ich gehe jetzt noch zu ihm; schlaeft er denn schon?"

"O, schon lange! Wecke mir das Kind nur nicht auf!" rief sie ihm noch
nach, als er aus der Tuere ging.

Frau Anne war es unerklaerlich, warum Ilse nicht kam, warum sie gerade
heute, wo Leo da war, ausblieb. Und auch dieser kam nicht wieder! Jetzt
konnte er doch laengst zurueck sein. Gewiss hatte er Ilse nicht gefunden. Sie
war froh, als sie bald darauf die Haustuere gehen und gleich danach Leos
energischen Schritt die Treppe herauf kommen hoerte. Rasch ging sie ihm
entgegen. Er stand gerade auf dem Vorplatz und hing seinen regentriefenden
Ueberzieher auf.

Auch Herr Macket hatte ihn kommen hoeren und war herbeigeeilt. "Hast du
Ilse nicht gefunden?" fragte er bestuerzt.

"Nein," gab Leo kurz zur Antwort, und seine Stimme klang unsicher und
erregt.

"Lasst uns ins Zimmer gehen," draengte Frau Anne, denn sie bemerkte, dass
oben auf der Treppe die Dienstboten neugierig die Koepfe zusammensteckten.
Sie gingen hinein, und Herr Macket ueberschuettete Leo, der sich erschoepft
in einen Stuhl fallen liess, mit ungeduldigen Fragen.

"Ueberall bin ich gewesen, Papa, ueberall habe ich nach Ilse gefragt,
niemand hat sie gesehen."

"Wo bist du gewesen?" forschte der geaengstigte Vater weiter.

"Beim Pastor, in der Muehle -"

"Warst du nicht bei Kathrine?"

"Nein, aber ihr kleiner Junge, den ich sah, sagte mir, dass Ilse nicht bei
seiner Mutter waere."

"Dann ist dem Kinde etwas zugestossen," stiess Herr Macket hervor und sein
Gesicht wurde leichenblass.

Frau Anne eilte zu ihm hin. "Aber ich bitte dich, Richard," suchte sie ihn
zu beguetigen, "nimm doch nicht gleich das Schlimmste an, was soll ihr denn
zugestossen sein?"

Ihre Worte uebten jedoch keinen beruhigenden Einfluss mehr auf ihn aus, und
sie gestand sich selbst, dass sie wider ihre eigene Ueberzeugung sprach, in
der Absicht, ihm die Sorge, die sich jetzt auch ihrer bemaechtigte, nicht
zu zeigen. Irgend etwas musste vorgefallen sein. Es war jetzt halb zehn
Uhr; so lange war Ilse noch nie ausgeblieben, ohne vorher etwas gesagt
oder Bescheid geschickt zu haben. Und wo sollte sie denn ueberhaupt sein?
Sie hatten ja ueberall schon nachgefragt.

Leo war ans Fenster getreten und presste sein Gesicht an die Scheiben,
gegen welche der Regen prasselnd aufschlug. Nun wurde es ihm klar: Ilse
hatte in ihrer Aufregung irgend einen Schritt getan, der sie alle in Angst
und Aufregung versetzte. Aber was, was fuer ein Schritt konnte dies sein?
Ein unheimlicher Verdacht stieg in ihm empor, aber er draengte ihn
schaudernd zurueck. Um Gottes willen, nein, soweit wuerde sie sich nicht
hinreissen lassen, das war ja nicht moeglich, das konnte nicht sein!

"Rufe die Knechte zusammen, Anne," unterbrach die Stimme seines
Schwiegervaters das beaengstigende Schweigen, und als seine Frau ihn
fragend ansah, fuegte er hinzu: "Sie sollen die Laternen und Fackeln
zurecht machen, wir wollen Ilse suchen."

Er stiess die Worte kurz und abgerissen hervor, seine Stimme bebte in
verhaltener Aufregung, und vor innerer Angst fast gelaehmt liess er sich in
einen Stuhl sinken und vergrub sein Gesicht in beiden Haenden.

Frau Anne tat es im Herzensgrunde leid, wie sie ihn so gebrochen dasitzen
sah, und sie schlang zaertlich ihren Arm um seinen Hals.

"Richard," bat sie innig, "ich bitte dich, gib dich doch nicht gleich den
schlimmsten Vermutungen hin; ich frage nochmals, was soll dem Kinde
zugestossen sein, das jeden Weg auf das genaueste kennt? Soll ich die
Knechte wirklich zusammenrufen?" Der Gedanke, dass die Leute mit Laternen
fortgehen sollten, um Ilse zu suchen, war ihr zu schrecklich.

"Lass nur, Anne," wehrte er jetzt ab, "ich will den Knechten selbst
Bescheid sagen." Mit diesen Worten erhob er sich und verliess das Zimmer.

"Leo," sagte Frau Anne, indem sie zu ihm trat, "ich aengstige mich sehr und
will nur dem Papa meine Angst nicht zeigen. Was kann Ilse zugestossen sein?
Wenn ihr nur kein Unglueck begegnet ist! Ich kann es nicht begreifen, dass
sie noch nicht da ist."

Schweigend hoerte Leo sie an, auch ihn hatte die Angst erfasst, und in
seinem Innern bestand er jetzt einen harten Kampf; er fuehlte wohl, dass es
seine Pflicht war, den Streit, welchen er mit Ilse gehabt, zu erwaehnen,
und doch konnte er sich nicht dazu entschliessen. Er hatte seine Braut
wiederholt gebeten, wenn sie in ihrer Offenheit und Heftigkeit die kleinen
Missverstaendnisse, ohne die es zwischen ihnen nicht immer abging, den
Eltern ausgeplaudert hatte, dies kuenftig zu unterlassen, - und nun sollte
er selbst erzaehlen, dass sie sich gezankt hatten? Nein, das widerstrebte
ihm, das wollte er nicht!

Frau Anne beobachtete ihn stillschweigend, ihr scharfes Auge hatte in
seinen bewegten Mienen gelesen, und es war klar in ihr, dass zwischen den
Brautleuten etwas vorgefallen sein musste. Aber sie fragte nicht und sagte
nichts, ihr feinfuehlender Sinn verstand die peinliche Lage, in der sich
Leo jetzt befand.

Leise summte der kupferne Teekessel, der auf dem Bueffet stand, sein
eintoeniges Lied, als Frau Anne jetzt herantrat und ihn von der
Spiritusflamme herunter nahm.

"Willst du nicht etwas essen, Leo?" fragte sie.

"Danke, Mama!"

"So trinke wenigstens eine Tasse Tee," bat sie und goss das kochende Wasser
in die Teekanne.

"Danke, Mama," erwiderte er ebenso kurz und schnell wie vorhin. Dann
starrte er wieder unbeweglich in die Dunkelheit hinaus, die so
undurchdringlich war wie das Dunkel, welches Ilses Verschwinden umgab.
Heulend tobte der Sturm um das Haus, man hoerte das Aechzen der schwankenden
Baeume und den stroemenden Regen, der klatschend niederschlug. Das Unwetter
trug dazu bei, Leos beklommenes Herz noch schwerer zu machen. Diese
Ungewissheit ueber das Ausbleiben seiner Braut ertrug er nicht laenger, es
wurde ihm zu heiss, zu eng hier, und er sprang so heftig empor, dass der
Stuhl, auf dem er gesessen, mit lautem Gepolter zurueckflog.

"Es ist erdrueckend schwuel hier, findest du nicht auch, Mama?" und ungestuem
riss er das Fenster auf, dass ihm der Regen kalt in das erhitzte Gesicht
schlug.

Unten im Hofe hoerte man jetzt Stimmen durcheinander toenen, und Lichter
flackerten hin und her. Leo beugte sich hinaus und sah die Gestalt seines
Schwiegervaters, welcher hastig auf und ab schritt, ohne Hut und Mantel,
des Regens und Sturmes nicht achtend.

"Das geht nicht," meinte er, indem er sich nach Frau Anne umdrehte. "Papa
soll in diesem Wetter nicht mit. Ich will ihm doch sagen, dass er zu Hause
bleibt, ich werde mit den Leuten gehen."

Frau Anne stimmte ihm bei und folgte ihm in den Hof, um auch ihren Einfluss
geltend zu machen und ihren Mann zu bewegen, dass er daheim bleiben moege.
Aber er liess sich weder von ihr noch von Leo bereden, um keinen Preis
wuerde er zurueck bleiben, entschied er kurz. Sein joviales, immer heiteres
Gesicht war heute durch die Angst und Aufregung foermlich verzerrt, und er
schien um Jahre gealtert zu sein.

"Adieu, Anne," sagte er, seiner Frau die Hand reichend, und indem er sein
Gesicht fortwandte, fuegte er hinzu: "Wir wollen nun unsre arme Ilse
suchen."

"Nein, Richard," rief sie und hielt ihn fest, "so darfst du auf keinen
Fall fort, ohne Hut, ohne Ueberzieher, du wuerdest dich auf den Tod
erkaelten." Sie flog ins Haus und holte ihm beides. Auch sie selbst hatte
sich ihren Mantel umgehaengt und ein Tuch um den Kopf geschlungen.

"Lass mich mit dir gehen," bat sie ihren Mann.

"Nein, Kind," sagte er und schob sie sanft zurueck, "du bleibst hier.
Kommt, Leute," befahl er dann und ging mit grossen Schritten voran. An
seiner Seite schritt Leo. Die Enden seines weiten Mantels flatterten im
Winde. Den grosskraempigen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen und sein
Blick haftete fest auf dem Boden.

Frau Anne sah ihnen nach, bis der letzte den Hof verlassen hatte, dann
erst ging sie ins Haus zurueck. Vom Fenster aus verfolgte sie den Zug der
Fackeln, mit denen der Sturm sein lustiges Spiel trieb. Wie unheimlich das
aussah! - O, mein Gott, wenn nur nichts passiert ist! Krampfhaft zog sich
bei diesem Gedanken ihr Herz zusammen, und angstvoll presste sie die Haende
auf dasselbe. Ein nervoeses Froesteln ueberlief sie, fester huellte sie sich
in ihr Tuch, das sie um die Schultern geschlungen hatte, und sah vor sich
hin. Was mochte nur zwischen dem Brautpaare vorgefallen sein? Etwas
Ernstes gewiss, denn Leo hatte so bekuemmert dagesessen, und schon den
ganzen Nachmittag war er ungewoehnlich ernst gewesen. Sie gruebelte hin und
her, wo Ilse noch sein koennte, wie ihr Fortbleiben zu erklaeren waere. Kein
Rat, kein Ausweg mehr! Sollte sie in ihrer Leidenschaftlichkeit eine
unglueckselige Tat begangen haben? Frau Anne wies diesen entsetzlichen
Gedanken so schnell zurueck, wie er ihr gekommen war, - nein, das war Ilse
nicht zuzutrauen, denn trotz aller Leidenschaftlichkeit war sie nicht im
geringsten krankhaft ueberspannt, sondern hatte eine kerngesunde Natur.

Langsam schlich die Zeit dahin. Tiefe Nacht herrschte jetzt ueberall im
Dorfe, alles war dunkel. Der Sturm hatte nachgelassen, und nur der Regen
klatschte noch an die Fenster. Unaufhoerlich rieselten die kleinen Baeche in
schnellem Lauf ueber die glatten Scheiben, Tropfen auf Tropfen jagten
einander. Frau Anne sah mechanisch dem Spiele zu, dessen einfoermiges
Geraeusch die einzige Unterbrechung der naechtlichen Stille war. Und deshalb
zuckte sie auch jaeh zusammen, als der Glockenschlag der zwoelften Stunde
jetzt laut und langsam feierlich durch die Nacht hallte. Traulich und
heimisch beruehrten sie sonst diese Toene, aber schauerlich bang klangen sie
heute in ihrem Innern wieder. Nun waren sie schon ueber eine Stunde fort,
ihr Mann und Leo! Noch deutete nichts darauf hin, dass sie zurueckkaemen, und
vergeblich spaehte sie in die Dunkelheit hinaus, ob nicht ferner
Lichtschein ihre Heimkehr verkuendete.

Da, - es war ihr, als hoerte sie ploetzlich Schritte, gespannt horchte sie
hinaus, und richtig, sie hatte sich nicht getaeuscht. Die einsamen Schritte
naeherten sich dem Hause, und Frau Anne hoerte, dass die Gartenpforte
aufgemacht wurde. Eilig riss sie das Fenster auf und sah, wie eine Gestalt
ueber den Hof auf das Haus zukam. Gleich darauf wurde heftig an der Glocke
gezogen.

"Wer ist da," rief sie von oben hinunter.

"Eine Depesche," antwortete eine Stimme von unten.

Frau Anne schlug das Fenster zu und flog die Treppe hinab. Wie ihr das
Herz klopfte! - Die Maegde, welche sich auf dem Hausflur befanden, hatten
die Tuere noch nicht aufgemacht; sie standen dicht zusammengedraengt, mit so
angstvollen Gesichtern, als wenn der leibhaftige Satanas vor der Tuere waere
und Einlass begehrte.

"Warum macht ihr denn nicht auf?" fragte Frau Macket und wollte den
Schluessel im Schloss umdrehen, als die alte Koechin sie am Arm zurueckhielt
und flehentlich mit weinerlicher Stimme bat, doch ja nicht zu oeffnen, denn
man koenne ja nicht wissen, wer draussen staende.

"Ach, liebe, gnaedige Frau, machen Sie doch nicht auf," jammerte sie, als
Frau Anne den Schluessel nun doch entschlossen umdrehte und der Druecker von
draussen niederging. Laut kreischend flogen die Maegde auseinander, und mit
bebender Hand nahm Frau Anne dem Boten die Depesche ab und oeffnete sie.
Sie wurde ganz blass, als sie den Inhalt las, und wollte ihren Augen nicht
trauen.

                              [Illustration]

"Es ist nicht moeglich," sagte sie laut; dann nahm sie das Blatt, hielt es
dicht unter die Flurlampe und las es noch einmal. Nein, sie hatte sich
nicht geirrt, da stand es deutlich und klar:

"Ilse ist hier wohlbehalten und gesund eingetroffen, Brief folgt.

Doktor Althoff."

Sie faltete das Blatt zusammen und ging zurueck ins Zimmer. Um Gottes
willen, was hatte Ilse getan! Geflohen war das tolle Kind, - dachte sie
denn gar nicht daran, wieviel Angst sie durch diesen wahnsinnigen Streich
ihren Angehoerigen bereitete? Frau Annes Empoerung war gross, und doch
draengte sich der Gedanke: "es ist ihr nichts passiert" beruhigend und
versoehnend hervor. Wenn die Maenner nur erst heimkehrten; sie konnte die
Zeit nicht abwarten, bis sie ihrem armen, auf das hoechste geaengstigten
Mann die Nachricht mitzuteilen vermoechte. Ihre Ungeduld, ihre Unruhe
liessen sie nicht lange mehr im Zimmer verweilen; sie beschloss Herrn Macket
entgegenzugehen. Als sie ueber den Flur ging, standen dort noch immer die
Maegde, fluesternd mit weit aufgerissenen Augen und Maeulern. Die eine
erzaehlte gerade eine schaurige Geschichte und die andern hoerten ihr mit
grausigem Wohlbehagen zu. Auch sie waren ueber das Fortbleiben von Fraeulein
Ilschen in nicht geringe Aufregung versetzt worden und malten sich nach
Art ungebildeter Leute in der schrecklichsten Weise aus, wie und auf
welche Weise das arme, liebe Fraeulein wohl umgekommen sein koennte. Waehrend
Frau Macket eilig an ihnen vorbei der Tuere zu schritt, flogen sie mit den
Koepfen auseinander und stiessen sich gegenseitig an. Immer unheimlicher
wurde die Lage, nun ging auch noch die Frau fort, allein in die finstere
Nacht hinaus. Was hatte das zu bedeuten? Fragend sahen sie sich an; da
konnte sich die alte Koechin nicht laenger beherrschen.

"Ach, du mein Gott, ach, du mein Gott," wimmerte sie, "was ist das fuer ein
Unglueck!" und sie nahm ihre Schuerze vor das Gesicht, hinter welcher sie
jaemmerlich schluchzte. Im Chore stimmten die uebrigen mit ein.

"Wie gut ist das Fraeulein immer gewesen," sagte die eine.

"So freundlich gegen jedermann," rief das Hausmaedchen, und nun ergingen
sie sich derart in Lobeserhebungen ueber Ilse, als wenn sie ueber eine
bereits Abgeschiedene spraechen.

"Das Unglueck, das Unglueck," kraechzte die Koechin von Zeit zu Zeit wie ein
Unheil verkuendender Ungluecksrabe dazwischen.

"Wer haette das gedacht! Ja, ich sage ja - ich habe es immer gesagt, ich
habe es kommen sehen. Ach," - sie unterbrach ihre tiefsinnigen
Betrachtungen mit einem erneuten Schluchzen. Die andern nickten
zustimmend.

"So jung und so reich," rief das Stubenmaedchen schwaermerisch aus, "ach, es
ist schrecklich!"

Das kleine Kindermaedchen, als die mutigste von allen, hatte sich bis zum
Flurfenster gewagt und schrie ploetzlich:

"Jetzt kommen sie, jetzt bringen sie das Fraeulein!"

Im Nu waren die andern am Fenster, - richtig, da kamen sie. Die Fackeln
tanzten im Winde und kamen immer naeher. Voran gingen Herr und Frau Macket
und der Herr Assessor, hinterher folgten die Maenner mit den Laternen und
Fackeln. Jetzt bogen sie in das Hoftor ein.

"Legt euch zu Bett nun," hoerten die Maedchen Herrn Mackets Stimme den
Knechten befehlen, und dann schritt er dem Hause zu. Sie zogen sich
schnell in eine dunkle Ecke zurueck, als gleich darauf die Haustuere ging,
und von dort folgten ihre Blicke neugierig der Herrschaft und dem jungen
Herrn, die wortlos an ihnen vorueberschritten, Herr Macket sehr bleich mit
finster zusammengezogenen Brauen.

Das kleine Kindermaedchen, das ebenso schlau war, als es sich vorhin mutig
gezeigt hatte, schlich sich durch die Hintertuer zu den heimgekehrten
Knechten und liess sich von allem haarklein berichten. In der Kueche
erzaehlte es dann spaeter alles, was es erfahren hatte, und kam sich
ungeheuer wichtig vor, als die andern es im Kreise umstanden und seinen
Worten andaechtig lauschten.

Herr Macket war mit Frau und Schwiegersohn in das Esszimmer gegangen, wo er
sich auf das Sofa warf. Er sprach kein Wort, aber seine breite Brust hob
und senkte sich in schnellen Atemzuegen. Leo lehnte am Tisch und drehte die
zierlichen Enden seines Schnurrbaertchens mit nervoesem Eifer zwischen den
Fingern. Ein schmerzlicher Zug lagerte um seinen Mund, aber die Falte auf
seiner Stirn, die sich zwischen den starken Brauen vertiefte, und die
zitternden Nasenfluegel gaben zugleich Zeugnis von einer inneren Empoerung
und Erbitterung. Unverwandt starrte er vor sich nieder.

Frau Anne blickte besorgt von einem zum andern, und sah selbst tief
bekuemmert aus. Nun setzte sie sich neben ihren Gatten und legte ihre Hand
auf seine Schulter.

"Richard," bat sie sanft, als sie sah, dass er die zerknitterte Depesche
mit der Hand glatt strich und wieder las, "lass uns ueber diese Sache nicht
so streng richten, Ilse ist noch ein Kind."

Er warf das Papier fort und sprang auf.

"Ja, ein Kind, ein toerichtes, ungezogenes Kind," rief er, und seine Augen
blitzten zornig auf. "Was faellt ihr ein, was soll es bedeuten, dass sie
fortlaeuft? Wie kann sie so etwas wagen! Aber sie soll zurueck, sofort, -
ich will es!"

Seine Stimme klang so laut und hart, dass Frau Anne wieder erschreckt an
seine Seite eilte. Sie kannte ihn heute abend nicht wieder, so erzuernt auf
seinen Liebling hatte sie ihn noch nie gesehen.

"Ja, und warum, warum hat sie uns das getan, was ist denn geschehen?" rief
er wieder, und diesmal klang ein schmerzlicher Ton aus seinen Worten.

Er hatte dabei Leo von der Seite angesehen, denn eine Ahnung daemmerte in
ihm auf, dass dieser den Grund zu Ilses Flucht wohl wissen mochte; dass ihre
Aufregung, in der er sie diesen Mittag getroffen hatte, damit im
Zusammenhang stehen musste. Leo verstand seinen fragenden Blick, und er
fuehlte, dass er jetzt nicht mehr schweigen durfte.

"Papa," sagte er ploetzlich und trat auf ihn zu, "ich bin dir und Mama eine
Erklaerung schuldig. Ilse und ich hatten diesen Mittag einen Streit
zusammen, der damit endete, dass Ilse mich in hoechster Erregung verliess.
Ich habe sie danach nicht wieder gesehen und" - er stockte - "bin nun auf
das tiefste betruebt, dass sie sich zu einer solchen Tat hat hinreissen
lassen."

Er sagte nichts weiter als diese wenigen Worte, die er muehsam Atem holend
hervorbrachte. Herr Macket hatte ihn schweigend, mit den Haenden auf dem
Ruecken, angehoert und setzte nun seine Wanderung im Zimmer auf und ab
wieder fort. Frau Anne sah voll Mitleid auf den jungen Mann, der durch
Ilses Leichtsinn tief getroffen war.

"Ilse hat unverzeihlich gehandelt, so weit durfte sie in ihrer
Leidenschaft nicht gehen," sagte sie aergerlich.

Ihre besaenftigenden Worte von vorhin hatten bei ihrem Manne die
entgegengesetzte Wirkung hervorgerufen, jetzt aber, wo ihre gerechte
Empoerung deutlich aus ihren Worten sprach und auch Leo Ilse nicht in
Schutz nahm, loeste sich die Erbitterung von seinem Herzen und verwandelte
sich in zaertliche Sorge fuer den fernen Liebling. Er malte sich in Gedanken
Ilses Reise aus und die mancherlei Unannehmlichkeiten, welche sie gewiss
betroffen hatten.

"Was mag das arme Kind fuer eine Angst ausgestanden haben auf der Reise!"
Mit diesen Worten machte er schliesslich seinen Gefuehlen Luft. "Und in der
fremden Stadt, wo sie niemand kennt. In der Dunkelheit ist sie dort
angekommen, - sie hat sich gewiss sehr gefuerchtet."

Frau Anne dachte, diese Furcht und Angst waere am Ende nur die gerechte
Strafe fuer ihre Tollkuehnheit gewesen.

"Wenn sie nur keine nassen Fuesse bekommen und sich erkaeltet hat," fuhr Herr
Macket fort. "Nellie wird doch wohl dafuer gesorgt haben, dass sie gleich
ins Bett kam."

Seine Stimme klang mit jedem Worte sanfter und weicher. Der erste Unmut
ueber Ilses Flucht war erloschen und hatte einer zaertlichen Besorgnis Platz
gemacht. Gedankenvoll blieb er eine Weile stehen.

"Leo," redete er diesen ploetzlich an, "morgen frueh um 81/2 Uhr geht der
erste Zug nach F.; mit diesem reisen wir, nicht wahr?"

Verbluefft sah ihn Leo an und fragte dann: "Willst du Ilse holen, Papa?
Dann werde ich dich morgen frueh sehr gerne zum Bahnhof begleiten."

Jetzt drueckten Herrn Mackets Zuege eine foermliche Erstarrung aus. "Ja, du
reisest doch mit?" fragte er erstaunt.

"Nein, Papa," erwiderte Leo freundlich aber bestimmt, "ich reise nicht
mit. Erlass es mir auch, dir die naeheren Einzelheiten unsres Streites zu
erzaehlen, und sei ueberzeugt, dass es mir sehr, sehr schwer geworden ist,
diesen ueberhaupt beruehren zu muessen, doch das ging nun einmal nicht
anders. Ich muss nur noch das eine hervorheben, so schmerzlich es mir ist:
ich kann und darf nicht mit zu Ilse reisen, so gern ich ihr, wie schon so
oft, ja ich darf wohl sagen, nur zu oft geschehen, wieder zuerst die Hand
zur Versoehnung bieten wuerde."

Sein Atem ging schnell und heftig bei diesen Worten, so ruhig er sie auch
aussprach.

Herr Macket hatte ihn mit keiner Silbe unterbrochen, auch jetzt sagte er
nichts. Aber seine gerunzelten Augenbrauen, die festen Schritte, mit
welchen er zur Tuere schritt und sie hart ins Schloss fallen liess,
verrieten, dass er Leos Entschluss durchaus nicht billigte.

Frau Anne sah ihren Schwiegersohn fragend an.

"Es tut mir leid, dass Papa aergerlich auf mich ist, aber ich kann nicht
anders handeln," sagte er.

Frau Anne zuckte die Achseln, als begreife sie ihren Mann nicht, denn sie
selbst teilte Leos Ansicht und billigte es vollkommen, wie er in dieser
ernsten, fuer seine und Ilses Zukunft entscheidenden Sache zu handeln
gedachte. Ilse jetzt nachzureisen, waere geradezu Torheit gewesen und wuerde
sicher nicht dazu beigetragen haben, das leidenschaftliche Kind zu aendern.

"Ich will doch mit dem Papa sprechen, dass er nichts in Uebereilung tut,"
sagte sie zu Leo. "Wenn er erst ruhiger geworden ist, wird er dich auch
begreifen; du kennst ja seine blinde Liebe zu Ilse."

Als Leo allein war, sank er auf einen Stuhl und vergrub seine Haende in
sein dichtes Haar. Wie wehe, wie grenzenlos wehe hatte ihm Ilse getan! Er
konnte nicht begreifen, wie sie ihm diesen Schmerz und zugleich diesen
Schimpf zufuegen konnte; er hatte geglaubt, sein Lieb so genau zu kennen,
das aber, das haette er ihr nie zugetraut. - Sie war keine sanfte, keine
hingebende Braut, seine Ilse, und er musste immer von neuem um sie ringen
und kaempfen, was sie ihm aber doppelt anziehend machte. Hatte er seither
wohl den richtigen Weg eingeschlagen, sich seine kleine Widerspenstige zu
zaehmen? Ihr Widerspruch reizte ihn, sie gefiel ihm in ihrem Trotz; war sie
erst seine Frau, dann sollte alles anders werden. So hatte er bis jetzt
gedacht, nun fiel es ihm mit einem Male wie Schuppen vor den Augen, dass er
ihren Charakter falsch beurteilte, dass es verkehrt war, ihr stets
nachzugeben, denn das stachelte sie immer von neuem zum Trotz und
Widerspruch auf. Diese Erkenntnis war bitter fuer ihn. -

In seinen Gedanken versunken hatte er nicht bemerkt, dass die Tuere geoeffnet
worden und Frau Anne wieder eingetreten war; erst als sie ihre Hand auf
seine Schulter legte, blickte er auf.

"Ach, du bist es, Mama," sagte er und erhob sich. Sie drueckte ihn sanft
auf seinen Platz zurueck und setzte sich ihm gegenueber.

"Ich habe mit dem Papa gesprochen, Leo, er ist jetzt entschlossen, mit
seiner Reise nach F. zu warten, bis ein erklaerender Brief von Ilse
eingetroffen ist."

"So - das ist mir lieb," gab er zur Antwort und sah dann wieder schweigend
in die Finsternis hinaus.

Auch Frau Macket schaute nachdenklich vor sich hin, als kaempfte sie mit
einem Entschluss. Mehrmals oeffnete sie die Lippen zum Sprechen, ohne jedoch
etwas zu sagen. Nach einer Weile fing sie endlich an:

"Leo, ich will mich nicht in deine und Ilses Angelegenheiten draengen; darf
ich dich nur das eine fragen, glaubst du dich wirklich voellig schuldlos an
Ilses Flucht?"

Fast schuechtern klang diese Frage und zoegernd brachte sie dieselbe hervor.

"Es ist das erstemal, dass ich ihr nicht nachgab!" stiess er erregt heraus.
"Darf sie deshalb einen so abenteuerlichen Streich ausfuehren, alle
Ruecksichten beiseite werfen und fliehen?"

"Nein, das durfte sie gewiss nicht," stimmte ihm Frau Anne bei, "und doch,"
fuhr sie fort, "ich habe es kommen sehen, dass sie eines Tages etwas tun
wuerde, das uns allen grossen Kummer zu bereiten imstande waere. Ich liebe
meine kleine Tochter innig, und auch sie ist mir von Herzen zugetan. Aber
blind bin ich deshalb gegen ihre Schwaechen und Fehler nicht, wie der Papa
und - verzeihe mir - begreiflicherweise auch du. Ilse ist schon einmal
gezaehmt worden durch die Pension und das reizende Leben daselbst; ihre
praechtigen Freundinnen hatten sie ganz und gar umgewandelt. Halb Kind
noch, wurde sie Braut, sie liebt dich gewiss aufrichtig, aber die tiefe
ernste Liebe des Weibes ist ihrem Kinderherzen noch fremd. Hast du wohl
den richtigen Weg eingeschlagen, dir ihre Nachgiebigkeit, ihre Fuegsamkeit
zu erringen? Ich habe mich bemueht, in ihrem jungen Herzen zu lesen, und
bin ueberzeugt, es waere ihr lieber gewesen, wenn du ihr oefter entschieden
entgegengetreten waerst, statt ihre Einfaelle, ihre Launen reizend zu
finden; denn sie ist eine stolze und doch zugleich hingebende Natur, die
nur nicht zeigen will, dass sie sich auch unterzuordnen vermag, aber
ebensowenig vertragen kann, dass man ihr in allem den Willen laesst. Nun, da
du ihr zum erstenmal nicht nachgibst, empfindet sie das doppelt schroff
und wird es als eine grosse Demuetigung ansehen. Aber jetzt, da sie weiss,
dass ihr Wille nicht immer durchgeht, wird ihre Liebe zu dir, ohne dass sie
es eingesteht, gewiss erstarken. Ich hoffe, sie wird nach und nach zur
Besinnung kommen, dass sie unrecht hatte, und wenn sie diese Krisis
ueberstanden hat, fuer immer geheilt sein."

Frau Anne hatte mit warmem herzlichen Eifer gesprochen und reichte nun
ihrem Schwiegersohne die Hand, welcher diese innig umschloss. "Ich weiss,"
fuhr sie fort, "du wirst das, was ich dir eben sagte, nicht falsch
verstehen. Ich haette dir meine Ansicht nicht unaufgefordert mitgeteilt,
waere nicht alles so gekommen. Wie lieb ich euch beide habe und wie
vertrauensvoll ich trotz dieses Vorfalls in eure Zukunft blicke, das
brauche ich dir nicht erst zu sagen, nicht wahr? - Gute Nacht, Leo,"
schloss sie und erhob sich von ihrem Sitz. "Schlafe wohl, morgen wirst du
die Sache schon in einem andern Lichte ansehen."

"Gute Nacht, Mama, ich danke dir."

Die Nachtruhe war fuer alle dahin, zu sehr hatte die Bestuerzung die Gemueter
aufgeregt. - Leo blieb noch auf demselben Fleck sitzen, es waere ihm
unmoeglich gewesen, jetzt schon zu schlafen. Noch pochte sein Herz zu
unruhig, noch stuermten die Gedanken zu lebhaft auf ihn ein. Frau Annes
Worte hallten in ihm nach, sie hatten einen Anklang in seinem Innern
gefunden, denn sie hatte wahr gesprochen. Warum musste es so weit kommen?
Haette er die Tragweite seiner Worte geahnt, er wuerde sie vielleicht nicht
ausgesprochen haben. Nochmals liess er die Szene vom Mittag an seinem Geist
vorueberziehen. Er war zuletzt auch heftig geworden - gewiss -, aber er
hatte sich in dem Augenblick wirklich ueber Ilse geaergert, zum erstenmal
hatte ihn ihr unfuegsames Wesen unangenehm beruehrt.

Was sollte nun werden? Der Gedanke an die Zukunft legte sich ihm drueckend
und beaengstigend wie ein Bann aufs Herz, dass ihm fast der Atem stockte.
Erst als er das Fenster geoeffnet hatte und die kuehle Nachtluft
hereindrang, wurde ihm wohler. Lange blickte er in die zerrissenen Wolken,
die eilend vorueberjagten. Ob sie jetzt auch an ihn dachte? Er sah im
Geiste ihr liebes holdes Antlitz. Er hoerte ihr froehliches Lachen und ihre
dunklen Augen blitzten ihn neckisch an, - da schwanden die bangen
Gedanken. Heisse Liebe und Sehnsucht erfuellten ihn, und er zweifelte keinen
Augenblick mehr, dass sie zu ihm zurueckkehren wuerde. Aber unerschuetterlich
befestigte sich in diesem Augenblick die Ueberzeugung in ihm, dass er ihr
diesmal nicht zuerst die Hand zur Versoehnung reichen duerfe.

Die grosse Lampe in dem stillen Zimmer, die schon seit einiger Zeit am
Ausgehen war und deren Licht immer schwaecher und kleiner wurde, erlosch
jetzt nach einem letzten Aufflackern. Leo erhob sich und ging in sein
Zimmer.

                                  * * *

Ilse wachte am andern Morgen erst auf, als die Sonne das kleine Zimmer
schon laengst erhellte. Sie fuehlte sich durch den guten Schlaf erquickt und
erfrischt und war im ersten Augenblick des Erwachens noch so
traumbefangen, dass sie sich erst besinnen musste, wo sie sich eigentlich
befand. Nach und nach kam ihr das Geschehene wieder deutlich zum
Bewusstsein, klarer als am Tage zuvor. Ihre gestrige Aufregung war einer
unangenehmen Empfindung gewichen. Reue und Beschaemung beschlichen sie, und
der Gedanke, was ihre Eltern zu der Flucht gesagt haben mochten,
beunruhigte sie aufs hoechste. Auch an Leo dachte sie, aber nicht etwa, ob
er wohl betruebt sein wuerde, sondern voll heimlichen Triumphgefuehls. Sie
erschien sich ihm gegenueber als siegreiche Heldin, denn sie hatte eine Tat
ausgefuehrt, die er ihr gewiss nicht zugetraut hatte. Womoeglich langte schon
heute ein um Verzeihung flehender Brief von ihm an, und gewiss wuerde er
selbst mit dem Papa kommen, um sie zurueckzuholen. So blind gefangen war
unsre Ilse, so fest glaubte sie Leo durch ihre Heldentat einen gewaltigen
Respekt eingefloesst zu haben! Die Erwartung auf eine Nachricht von Hause
trieb sie aus dem Bette. Sie zog die hellgebluemten Gardinen zurueck und
oeffnete das Fenster. Man merkte heute nichts mehr von dem gestrigen
Unwetter, kein Woelkchen truebte den Himmel, der Ilse tiefblau
entgegenlachte. Goldener Sonnenschein breitete sich ueber die kahlen Gaerten
und lag blendend auf den hellen Haeuserwaenden. Ueberall hatten die Leute
Tueren und Fenster geoeffnet, dass die frische Herbstluft in vollen Stroemen
hereindringen konnte. So hatte Ilse gestern frueh daheim auch am Fenster
gestanden und sich ueber den klaren Herbstmorgen gefreut. Wenn sie da
geahnt haette, welches Ungemach ihr der Tag noch bringen wuerde! Was hatte
sie durchmachen muessen! Es war zu schrecklich.

                              [Illustration]

Sie fuhr sich mit der Hand ueber die Augen, die wieder feucht wurden, aber
die hervorquellenden Traenen wurden tapfer zurueckgedraengt. Nellie und ihr
Mann sollten nicht sehen, dass sie geweint hatte, sie wuerden sonst wohl
denken, dass sie Reue fuehlte, was ja so viel bedeutete, als ihr Unrecht
eingestehen. Vor Doktor Althoffs pruefenden und ironischen Blicken hatte
sie Furcht, sie kannte diese noch zu gut von der Schule her. Er konnte so
freundlich laecheln mit spottlustigen Augen; kein Tadel, nicht die
schaerfste Ruege traf so sicher, als ein solcher Blick von ihm.

Durch ein Pochen an der Tuer wurde sie in ihren Betrachtungen gestoert,
gleich darauf wurde dieselbe leise geoeffnet, und Nellies Gesicht kam zum
Vorschein.

"Schon wach, lieb Ilschen?" rief sie freundlich und begruesste die Freundin
mit einem herzlichen Morgenkuss. "Wie hast du geschlafen, _darling_? Ich
hoffe, du hast eine gute Nacht gehabt."

"Herrlich habe ich geschlafen, liebste Nellie; was ich aber getraeumt habe,
weiss ich wirklich nicht mehr."

"Kann ich dich bei dein Ankleiden helfen, Kindchen?" fragte Nellie, als
sie sah, dass Ilse sich jetzt beeilte, in ihre Kleider zu kommen. Die
Toilette war bald beendet, und von den beiden hatte keine das Thema
beruehrt, das doch am naechsten lag und sie so lebhaft beschaeftigte. Erst
als Ilse Arm in Arm mit Nellie vor dem Esszimmer stand, fragte sie zoegernd:
"Nellie, ist dein Mann da?"

"Gewiss, Ilschen, und er freut sich riesig, sein frueheres furchtbar
niedliches Schuelerin wieder zu sehen."

"Hast du ihm meine Flucht eingestanden, Nellie?" fragte Ilse aengstlich.

Die junge Frau zoegerte mit der Antwort. Sie hatte gestern abend allerdings
versprochen, Fred nichts davon zu sagen, aber nur um Ilse nicht weiter
aufzuregen; doch jetzt wollte sie die Wahrheit nicht verschweigen - so
leid es ihr tat!

"Lieb Ilschen," sagte sie innig, "ich konnte nicht anders, ich wollte mein
Fred nichts vorluegen. Bist du mir boese?"

"Nein, nein," versicherte Ilse, "aber ach, Nellie, was wird dein Mann von
mir denken?"

"O, Ilschen, er denkt nur Gutes von dich - aber nun komm -"

Und um Ilse ueber die peinliche Lage hinwegzuhelfen, oeffnete sie schnell
die Tuere und schob die sich Straeubende hinein. Doktor Althoff kam ihr
entgegen.

"Guten Morgen, Fraeulein Ilse, wie freue ich mich, Sie zu sehen," rief er
freundlich und reichte ihr die Hand zum Grusse.

Mit niedergeschlagenen Augen gab sie ihm ihre Rechte, aber kein Wort kam
ueber ihre Lippen, und vor Verlegenheit wagte sie nicht aufzublicken.
Nellie war auch hier der rettende Engel. Sie fuehrte Ilse an den gedeckten
Kaffeetisch und schob ihr einen Stuhl hin; dann schenkte sie Kaffee ein
und reichte ihrem Mann und Ilse die Tassen. Ihr tat die Freundin leid,
welche wortlos dasass und krampfhaft auf das Muster der Kaffeeserviette
sah, als haette sie sich tief in das Studium der Schnoerkel und Arabesken in
derselben versenkt. Die Roete der Beschaemung brannte noch auf ihren Wangen,
und vergeblich hatte Nellie sie verschiedenemale angeredet. Jetzt warf
diese ihrem Manne verstaendnisvolle Blicke zu, die ihm bedeuteten, er solle
dieser ungemuetlichen Stimmung ein Ende machen. Aber Maenner sind nicht so
leicht jeder Lage gewachsen, wie eine kluge Frau, und das dachte auch
Nellie, als ihr Mann sie gar nicht verstand. Ja, er hatte sie sogar mit
den Fragen: "Was soll ich, Kind?" und als sie ihn mit dem Fusse anstiess:
"warum stoessest du mich denn?" recht in Verlegenheit gesetzt. Sie versuchte
deshalb von neuem das Schweigen zu brechen, was ihr bisher nicht gelungen
war. Zum zweitenmale fuellte sie jetzt Ilses Tasse und reichte ihr Zucker
und Sahne. Sie wollte dabei ein Gespraech anfangen, aber ihre Scherze
blieben unbeachtet und auf ihre freundlichen Fragen bekam sie einsilbige
Antworten. Ilse vermochte die Furcht vor Doktor Althoffs ironischen Augen,
die sie wie zwei Brennpunkte auf sich gerichtet waehnte, nicht zu
ueberwinden. Sie konnte ja nicht wissen, dass sie sich taeuschte, dass seine
gefuerchteten Blicke diesmal nicht spoettischer Art waren. Ernst und voller
Mitleid sah er auf seine ehemalige Schuelerin, - kannte er sie doch so
genau, alle ihre Vorzuege, alle ihre Schwaechen. Viel, viel muss die Kleine
noch lernen, so dachte er in diesem Augenblick, und bittere Stunden wird
sie das noch kosten. Nicht jeder wurde schon so fruehzeitig durch eine
harte Schule gelaeutert, wie seine Nellie sie hatte durchmachen muessen.
Diese hatte ja das Leben schon als Kind unter fremde Menschen gebracht;
dadurch war ihre Erfahrung gereift worden, und sie hatte gelernt,
Ruecksichten zu nehmen. Zaertlich blickte er zu ihr hinueber und beobachtete
mit strahlenden Augen, mit welcher Anmut sie sich bewegte und wie sie
verstand, einen Hauch der Behaglichkeit ueberall zu verbreiten. So sassen
die drei wieder eine Weile schweigend am Kaffeetisch, jeder lebhaft mit
seinen Gedanken beschaeftigt.

"Ilschen," fing Nellie endlich an, "weisst du auch wohl, dass du hier eine
alte Bekannte triffst, die seit weniges Monate mit ihrem Mann hierher
versetzt ist? Ich hatte ganz vergessen, in meinem letzten Brief davon zu
sprechen. Rate einmal, _darling_!"

Die Frage wirkte erloesend auf Ilses Schweigsamkeit, sie hob den Kopf und
sah Nellie fragend an.

"Rate, Ilschen," wiederholte diese.

"Wer denn, Nellie? Etwa Rosi Mueller? Die artige Pastorin ist ja aber schon
seit dem Sommer hier in der Naehe verheiratet, die kannst du doch wohl
nicht meinen."

Nellie schuettelte lachend den Kopf; sie war froh, ein Thema beruehrt zu
haben, das Ilse interessierte.

"Ein wenig muss ich dir noch foltern," neckte sie lustig, "aber du raetst ja
leicht, denn nur wenige von unsre Freundinnen sind verheiratet."

"Ach, nun weiss ich," rief Ilse, "natuerlich Flora ist es! Ich dachte im
Augenblick wirklich nicht an sie. Richtig, die ist ja auch schon eine
ehrbare Ehefrau!"

"O, nix da, Ilse - ein ehrbares Frau ist unsre Dichterin nicht geworden."

"Wie kommt sie denn eigentlich hierher?" unterbrach Ilse, "ihr Mann lebte
doch auch in B., wo Floras Eltern wohnen."

"Lass dich erzaehlen, _darling_. Du weisst, dass Floras Mann ein Arzt ist, er
ist nun als Direktor an das Spital hier berufen - eine sehr gute Stelle,
mit gute Einnahmen. Er soll ein tuechtiger Mann sein, wir moegen ihn gern,
er ist so nett. Nicht wahr, Fred? Und, oh, er hat ein so herzig Baby von 4
Jahr - denn Flora ist seine zweite Frau."

"Ja," warf Althoff ein, "Doktor Gerber ist ein liebenswuerdiger, gescheiter
Mann, sein einziger Fehler ist seine Frau. Fuer diese poetische Seele ist
er viel zu prosaisch, zu materiell! Die arme Flora ist noch ebenso
ueberspannt wie frueher, sie dichtet leider immer noch."

Ilse wagte bei diesen Worten Nellies Mann zum ersten Male mit einem
scheuen Seitenblick zu streifen, bis dahin hatte sie es noch immer
vermieden, ihn anzusehen. Nun fand sie, dass der Gefuerchtete garnicht so
aussah, wie ihr boeses Gewissen sich ihn ausmalte. Seine Augen hatten nicht
den von ihr vermuteten spottlustigen Ausdruck, und das freundliche
Laecheln, mit welchem er sie anblickte, als wenn nichts vorgefallen waere,
verscheuchte bald jede Befangenheit, so dass sie nun in die Scherze des
jungen Ehepaares mit einstimmte, und mit Nellie immer neue Erinnerungen
ueber Flora auskramte.

Laechelnd hoerte ihnen Doktor Althoff zu und warf nur dann und wann eine
treffende Bemerkung dazwischen. Die beiden waren unerschoepflich in ihren
Witzen ueber Flora, und die eine wusste immer noch mehr als die andre.

"O, und die viele zerbrochene Herzen, die in ihre Romane stets vorkamen,
_darling_, weisst du noch?" fragte Nellie. "Und wie wir sie immer mit ihre
Gedichte aergerten?"

"Ach ja, das war himmlisch!" beteuerte Ilse unter Lachen, "und wie boese
sie dann wurde und schalt, dass wir fuer ihre Poesien kein Verstaendnis
haetten."

"Ihr seid ein boeses Volk," sagte Doktor Althoff, "wie koennt ihr euch nur
so ueber eure Freundin lustig machen?"

"O, du scheinheiliges Mann," drohte ihm Nellie mit dem Finger, "hast doch
die groesste Spass an unsre Scherze. Weisst du, Ilschen, bald gehen wir zu der
Dichterin, das gibt ein famose Jux! Sie muss uns aus ihre neuesten Werke
vorlesen."

"Das wird sie gern tun," sagte er, "denn ihrem Mann darf sie gewiss mit
solchem Unsinn nicht kommen. Er ist viel zu vernuenftig, und ich hoffe ja
immer noch, dass er Flora aendern wird."

"Das grosse Gegenteil von unsre Dichterin ist Rosi, das wuerdige
Pastorenfrau," sagte Nellie mit feierlicher Stimme. "O, Ilse, einmal haben
wir ihr besucht, o, sie ist so brav und zuechtig, noch ganz die 'Artige'
aus die Pension. Und der Mann ist so still und sanft, er traegt eine lange
Rock, bis ueber den Knie, und eine hohe Kragen, dazu eine grosse Brille und
hat eine glatte Scheitel von blondes Haar, ganz zu die brave Rosi passend,
- sie sind ein wuerdige Ehepaar."

Ilse brach ueber die Beschreibung in lautes Lachen aus, und Nellie stimmte
mit ein. Auch Doktor Althoff freute sich ueber seine drollige Frau.

"Du bist eine kleine Boshafte," sagte er zu ihr. "Ueberhaupt, Kinder, ihr
seid mir zu mokant, das kann ich nicht vertragen, deshalb gehe ich fort.
Adieu!"

Er legte die Serviette neben die Tasse und erhob sich mit scheinbar
ernster Miene, sodass Ilse ganz erschrocken zu ihm aufblickte. Waren sie
wirklich zu weit gegangen?

Als sie aber seine lustig zwinkernden Augen sah und Nellie mit froehlichem
Lachen ihn umschlang, da wusste sie, dass er nur Spass machte.

Als er fortgegangen war und die beiden allein gelassen hatte, da war Ilses
erste hastige Frage:

"Nellie, ist denn nichts fuer mich angekommen, kein Brief, keine Depesche?"

"Ja, Ilschen, hier ist eine Depesche von deine Eltern, sie ist eben
angekommen."

Ilse riss sie ihr aus der Hand und oeffnete sie, dann las sie laut:

"Ilse soll Brief abwarten.            Papa."

Das waren nur wenige Worte, die ihre Ungeduld nicht stillen konnten. Ja,
sie brachten sie nur noch mehr in Aufregung, denn alles moegliche las sie
aus der kurzen Zeile heraus. Wie ernste strenge Richter standen die
einzelnen Buchstaben vor ihren Augen. Hart klang der Befehl, den sie
enthielten; daraus schloss sie, wie boese ihre Eltern auf sie sein mussten.

"Nellie," seufzte sie aengstlich, "was werden die Eltern von mir denken?
Sie sind gewiss furchtbar boese."

"Du musst ihnen gleich schreiben," sagte Nellie.

"Erst will ich ihren Brief abwarten; ach, wenn er doch erst da waere!"

Nellie nickte beistimmend und meinte, so waere es auch wohl am besten.

"Komm, wir wollen in meine Stube gehen, _darling_," sagte sie und oeffnete
die Tuere, die in ihr Allerheiligstes fuehrte, das zwischen dem Esszimmer und
ihres Mannes Zimmer an der Eckwand des Hauses lag. Ein kleiner nach aussen
vorspringender Erker verlieh dem Raum eine anheimelnde Gemuetlichkeit.
Nellie hatte ihn dicht mit Blattpflanzen besetzt, davor zwei kleine Sessel
aus Bambusrohr nebst einem ebensolchen winzigen runden Tischchen gestellt
und dadurch ein lauschiges, reizendes Plaudereckchen hergerichtet. Hierhin
noetigte sie jetzt Ilse, die sich rings im Zimmer umsah.

"Es ist entzueckend bei dir," versicherte sie wieder, und trotzdem Nellie
bescheiden abwehrte, freute sie sich doch ueber das ihr gespendete Lob.

"Fred macht es so viel Freude, wenn die Wohnung huebsch ist, da macht es
mich auch Spass," und dabei fuhr sie liebkosend ueber die spiegelblanke
Platte ihres zierlichen Schreibtisches und rueckte an den Figuerchen und
Nippes, die darauf standen.

"Die vielen reizenden Sachen, die du hast, Nellie!"

"Die schenkt mich alle mein Fred. Er ist so gut zu mir, unbeschreiblich
lieb; o Ilschen, was bin ich fuer ein glueckliches Frau. Ich denke nur immer
daran, ob er mit mir auch so gluecklich ist."

Eine so dankbare uneigennuetzige Liebe leuchtete aus ihren Augen, dass Ilse
beschaemt die ihrigen zu Boden senkte; so wie die Freundin eben sprach,
hatte sie noch nie gefuehlt, solche Gedanken waren noch nicht in ihr
aufgestiegen. Dies machte sie doch stutzig. Hatte sie eigentlich jemals
eine Regung des Dankes fuer alle Liebe und Zaertlichkeit Leos gehabt? Nein,
das war ihr nie eingefallen! Und hatte sie sich jemals geprueft, ob auch
sie alles tue, ihn gluecklich zu machen? Nein! gestand sie sich wieder.
Jetzt tauchten zum ersten Male diese Fragen in ihr auf und regten sie zu
ernstlichem Nachdenken an. "Aber Nellie ist eine schwaermerische,
hingebende Natur, und das bin ich nicht und will ich auch nicht sein,"
sagte sie sich schliesslich, und bei diesem Gedanken beruhigte sie sich.
Und doch konnte sie die Augen der Freundin nicht vergessen und beneidete
sie fast im stillen.

"Nellie," fragte sie ploetzlich, "wann kommt denn der naechste Zug von
Moosdorf hier an?"

"Warum, Ilschen? Glaubst du, deine Eltern kommen dich zu holen? Oder
erwartest du deinen Braeutigam?"

"Nein, nein, das denke ich nicht, - ich fragte ueberhaupt nur so," sagte
Ilse erroetend.

Und doch hatte Nellie ihre Gedanken richtig erraten, denn sie erwartete,
ja hoffte mit banger Sehnsucht, dass Leo den Tag nicht vergehen lassen
wuerde, ohne zu ihr zu eilen. Gewiss hatte er jetzt eingesehen, wie unrecht
er ihr tat. Aber wenn er kam, dann wollte sie ihm verzeihen, sie wollte
nicht laenger widerspenstig, sondern nachgiebiger sein als sonst. Das alles
malte sie sich im Geiste aus und konnte doch eine Sorge, eine unbestimmte
Ahnung, dass es vielleicht nicht so kommen wuerde, wie sie sehnlich
wuenschte, nicht unterdruecken.

Die folgenden Stunden waren nicht die behaglichsten fuer Ilse. Sie war in
steter Erwartung, bei jedem Klingeln schreckte sie zusammen. Der
Mittagszug war laengst da. Sie hatte waehrend dieser Zeit wie zufaellig am
Fenster gesessen und auf die Strasse gesehen. So oft eine Gestalt in der
Ferne auftauchte, schlug ihr das Herz, und immer von neuem wurde sie
enttaeuscht. Dann ballten sich ihre Haende fest zusammen, und sie musste sich
beherrschen, um nicht in lautes Weinen auszubrechen. Nellie und ihr Mann
ueberliessen sie sich selbst und ihrer Stimmung. Die beiden, feinfuehlenden
Menschen ahnten, was in ihr vorging und sie bewegte.

Ilse wurde von den selbstquaelerischsten Gedanken geplagt; sie war heute so
viel milder gestimmt als gestern, sie dachte an den geliebten Vater,
welche Angst er wohl um sie ausgestanden, an die Mama, wie sie sich um ihr
Ausbleiben beunruhigt haben mochte; an aller Sorge der lieben Eltern war
sie schuld. Dies innere Gestaendnis machte sie sehr weich, wie die Traenen
verrieten, die in hellen Tropfen auf ihre verschlungenen Haende fielen.

Der Herbsttag neigte sich bereits seinem Ende zu, die Daemmerung war
hereingebrochen - und wieder sass Ilse am Fenster. Ihre Hoffnung, dass Leo
noch kommen wuerde, war gesunken, und nur mechanisch sah sie noch auf die
Strasse hinunter. Die Gestalten, die jetzt schattenhaft vorueber huschten,
verfolgte sie nicht mehr mit ungeduldig klopfendem Herzen, sie war mutlos
geworden! Vor ihrer geaengstigten Seele stand Lucies Bild, und wie es sie
gestern zur Umkehr bewegen wollte, blickte es sie jetzt mit schmerzlichen
Augen an und schien ihr zu sagen: "Er kommt nicht! Du wirst umsonst auf
ihn warten." Ihre aufgeregten Nerven liessen ihr diese Worte fortwaehrend in
den Ohren klingen. Auf einmal empfand sie die Schwere des unglueckseligen
Schrittes, den sie gewagt hatte, und die Angst legte sich gleich einem Alp
auf ihr Herz. Wie eine Erloesung wirkte es daher jetzt auf sie, als zwei
Arme sie zaertlich umschlangen und Nellies Koepfchen sich an ihre heisse
Wange legte. Es war ihr, als wuerde sie aus einem haesslichen Traum
aufgeweckt, und erleichtert holte sie Atem.

"_Darling_," sagte Nellie, "ich habe eine Nachricht von deine liebe Mama."

Ilse fuhr in die Hoehe.

"Wo hast du den Brief, bitte, gib ihn mir," flehte sie foermlich und sah
suchend nach Nellies Haenden.

"Warte nur, Kindchen, ich gebe ihn dir schon; aber erst muss ich mit dir
sprechen; deine gute Mama schreibt so reizend. Sehr aufgeregt waren deine
Eltern ueber deine Flucht, aber sie haben dir verziehen, und du darfst nun
fuer einige Zeit bei mich bleiben; o, wie freue ich mir!"

Ilse horchte gespannt.

"Was steht sonst noch im Briefe?" fragte sie hastig. "Was hat Papa
gesagt?"

"Dein Papa wird dir schreiben, wenn ein Brief von dich angekommen ist. O,
dein Vater ist ein so lieber Herr, er zuernt nicht mehr mit dir,"
versicherte Nellie treuherzig. "Hier lies ihn selbst, das Brief, was sonst
noch darin steht," sagte sie und reichte ihn Ilse hin, die ihn mit
zitternden Haenden aus dem Kuvert nahm. Hastig faltete sie die
engbeschriebenen Blaetter auseinander, suchend ueberflogen ihre Augen Zeile
auf Zeile, und eine schmerzliche Enttaeuschung malte sich in ihren Zuegen,
als sie fertig gelesen hatte. Schweigend legte sie den Brief wieder
zusammen und gab ihn Nellie zurueck.

"Nun, Kindchen," sagte die junge Frau, "freust du dich nicht ueber den
lieben Brief von deine Mama? Wie muessen dir deine Eltern lieb haben! Wie
schoen, dass du bei uns bist! Bleibst du auch gern hier?"

Ilse nickte. "Sehr gern, Nellie, und ich weiss auch," fuhr sie mit erregter
Stimme fort, "dass mich meine Eltern lieben, sehr lieben, mehr wie irgend
jemand auf der Welt. Ich will deshalb auch immer bei ihnen bleiben und sie
nie verlassen!"

"O, Kind -," sagte Nellie vorwurfsvoll; aber Ilse unterbrach sie. "Ja das
will ich, das will ich bestimmt, denn er ist ja doch nur froh, wenn er
mich los ist!" rief sie laut und warf mit bitterem Lachen den Kopf zurueck.

Nellie sah die Freundin erschrocken an, und zurechtweisende Worte draengten
sich auf ihre Lippen. Aber sie sagte nichts, ihr mitleidiges Herz hielt
sie zurueck, als sie sah, wie aufgeregt Ilse war, und dass sie nur mit Muehe
einen leidenschaftlichen Ausbruch zurueckhielt.

"O, _darling_, ich kenne dich nicht wieder," sagte sie leise und sah ihr
traurig in die Augen. Da loeste sich die Spannung von Ilses Gemuet, sie
legte beide Haende vor das Gesicht und brach in heftiges Weinen aus.

"Was hast du, Herz? Sprich doch," bat Nellie, "vertraue mich, ich bin doch
deine geliebte Freundin und verrate dich nicht. Sprich dir aus, Ilschen,
mach dein kleine Herz leichter! Oder darf ich dir sagen, warum du so
weinst? Ist es, weil dein Braeutigam nicht schrieb oder nicht kam, seine
Schatz wieder zu holen? Ist es nicht dies Kummer, was deine Seele drueckt?
Gestehe es mich doch."

Zaertlich und einschmeichelnd klang ihre Bitte, und Ilse wurde dadurch
bezwungen. Sie nickte und lehnte sich an Nellies Schulter, indem sie leise
fortweinte.

"Siehst du, ich dachte es mich wohl, _darling_, aber nun hoere mich an. Ich
bin dein vernuenftige alte Freundin und muss dir ein paar ernste Worte
einreden. Du kennst noch nicht die Maenner, du lernst sie erst verstehen,
wenn du deines Leo kleine Frau bist. Er ist viel zu nachgebend gegen dich;
aber wenn ihr verheiratet seid, wird er nicht immer tun, was lieb Ilschen
will. Das wird im Anfang viel Streitigkeit geben, denn die Maenner wollen
haben, dass wir uns in sie fuegen, weil sie die Herren der Schoepfung sind. O
du, du wirst lernen, wie schoen das ist; denn haben wir uns einiges Mal
gefuegt, so koennen wir das liebe Mann um den kleinen Finger wickeln, und er
merkt es nicht! Darum lieb' Schatz, sei nicht hartnaeckig. Du musst dein Leo
schreiben und ihn bitten, dass er dich verzeiht."

Bis dahin hatte Ilse ruhig zugehoert; nun brauste sie auf, und ihre Augen
funkelten, als sie hochaufgerichtet vor Nellie stand.

"Um Verzeihung bitten?" rief sie spoettisch. "Nellie, du kennst mich
schlecht! Ihn um Verzeihung bitten, nein, dazu bin ich zu stolz. Nellie,
so weit erniedrige ich mich nicht, nie und nimmer!" Sie betonte die
letzten Worte nachdruecklich und fuhr leidenschaftlich mit dem Taschentuch
ueber ihre Augen, die noch von den eben vergossenen Traenen feucht glaenzten,
als wolle sie damit ausdruecken: "er ist es nicht wert, dass ich seinetwegen
Traenen vergiesse."

Nellie sah sie angstvoll an, sie begriff die Freundin nicht.

"O Ilse," sagte sie, "wie kannst du so sprechen? Es ist grosse Unrecht von
dich. Wie hast du mich selbst so oft geschrieben, wie treu und gut dein
Leo ist, wie lieb -"

"Ich bitte dich," fiel ihr Ilse ins Wort und erhob flehend ihre Haende;
"lass uns ueber diese Geschichte schweigen. Ich sehe ja, du bist auch auf
seiner Seite. Ich natuerlich, nur ich habe schuld! Ich soll mir alles
gefallen lassen von ihm, so denkst auch du, Nellie; aber deshalb demuetige
ich mich doch nicht vor ihm!"

Nellie schwieg. Sie merkte, dass jetzt keines ihrer gutgemeinten Worte
etwas fruchten, ja, dass ihr Zureden Ilses Trotz nur verschlimmern koennte.
Aber sie wuenschte in diesem Augenblick sehnsuechtig, dass bald die Zeit
kommen moechte, die Ilse bekehren und aendern wuerde.

Das schrieb sie auch an Frau Anne und versprach ihr, allen Einfluss
aufzubieten, der ihr zu Gebote staende; vorlaeufig aber muesse man den
geliebten Trotzkopf ganz in Ruhe lassen.

Am andern Morgen sass Ilse eifrig schreibend in ihrem Stuebchen, als Nellie
hereintrat.

"Ich schreibe an die Eltern," sagte sie erroetend und kam mit diesen Worten
einer Frage Nellies zuvor. Dann sprang sie auf und ergriff Nellies Haende.

"Wollt ihr mich denn auch wirklich fuer einige Zeit behalten, bin ich euch
nicht zur Last, und ist es auch deinem Manne recht und hast du mich auch
noch ebenso lieb wie frueher, Nellie?"

So liess sie in ihrer lebhaften Weise die Fragen durcheinanderschwirren.
Die junge Frau zog sie an sich.

"O, _darling_, wie kannst du so fragen? Wenn es dich verwoehnte Schosskind
nur bei uns einfache Leute gefaellt, so werden wir froh sein. Wie freue ich
mir auf dein Aufenthalt! Wir wollen eine vergnuegte Zeit durchleben," rief
sie jubelnd. In diesen Jubel stimmte Ilse nicht mit ein, sondern blickte
gedankenvoll vor sich hin. Sie wollte Leo zeigen, dass sie fest bleiben
koenne; dieser Entschluss vollzog sich jetzt in ihrem Innern und verlieh
ihren Zuegen einen trotzigen Ernst.

Der Brief an die Eltern war abgeschickt, und Ilse war sicher, dass er sie
wieder ganz versoehnen wuerde. Sie hatte dieselben herzlich um Verzeihung
gebeten, aber zugleich die instaendige Bitte ausgesprochen, nicht nach dem
Grunde ihrer Flucht zu forschen.

In den naechsten Tagen traf ein grosser Koffer mit Sachen fuer sie ein, worin
ein langer zaertlicher Brief von ihrem Papa lag. Kein Tadel, kein Vorwurf
enthielt derselbe; die sorgende Liebe, die aus jeder Zeile sprach,
beschaemte sie tief. Hatte sie dieselbe wohl verdient?

Am Schlusse des Briefes schrieb der Papa:

"Amuesiere dich nur recht gut bei deiner Nellie, liebes Kind, sei heiter
und vergnuegt, aber bleibe nicht zu lange fort und vergiss nicht deinen
alten Vater!"

Diese Worte ruehrten sie sehr.

Nein, gewiss! Vergessen wuerde sie ihren einzigen guten Herzenspapa nicht.
Leo wurde von ihm mit keiner Silbe erwaehnt, und auch als ihr der andre Tag
einen Brief von Frau Anne brachte, war sie enttaeuscht, denn derselbe
bewahrte ebenfalls tiefes Stillschweigen ueber ihn. Von allem erzaehlten die
Eltern ausfuehrlich, aber ueber Leo schwiegen sie beharrlich. Sie wussten
gewiss, was zwischen ihnen vorgefallen war, und glaubten wohl, es wuerde ihr
peinlich sein, wenn sie diesen Punkt beruehrten. Viel lieber waere es ihr
gewesen, von ihnen darueber zu hoeren, denn sie haette gern gewusst, wie Leo
die Entdeckung ihrer Flucht aufgenommen hatte; aber dennoch wollte sie um
keinen Preis die Eltern danach fragen. Sie nahm sich fest vor, nicht mehr
daran zu denken, ob ihr Leo schreiben wuerde oder selbst kaeme, um sie zu
holen. In ihrem Herzen freilich lebte die sehnsuechtige Hoffnung nach einem
Lebenszeichen von ihm fort und liess sich durch alle ihre Vorsaetze nicht
zurueckdraengen. Ohne dass sie es sich gestand, wuchs ihre Ungeduld von Tag
zu Tag, und sie war schliesslich in einer fieberhaften Aufregung. So oft
der Brieftraeger kam, zitterte sie vor banger Erwartung, jedes Klingeln an
der Tuere liess sie zusammenschrecken. Den Eltern schrieb sie eifrig, fast
taeglich, und erhielt ebenso regelmaessige Antworten. Wenn ein Brief von
daheim ankam, ging sie schnell auf ihr Zimmer, riegelte die Tuer zu und
erbrach ihn mit zitternden Fingern. Sie durchflog die Seiten und wurde
immer von neuem enttaeuscht. Dann stuerzten ihr oft heisse Traenen aus den
Augen, und sie knitterte zornig das unschuldige Papier zusammen.

So schwanden ihr die Tage unter Zweifel und Ungewissheit dahin, und sie
litt schwer darunter. Nellie war ihr eine treue Freundin voll zarter
Aufmerksamkeit. Aber auch sie beruehrte nicht mehr das peinliche Thema. "Es
ist besser, du schweigst," hatte ihr Mann gesagt, als sie wieder einmal
versuchen wollte, ob sie Ilse bewegen koenne, an ihren Braeutigam zu
schreiben. Sie wusste von Ilses Mutter, dass Leo, empoert und zugleich
betruebt ueber die Tat seiner Braut, ihr auf keinen Fall schreiben oder gar
selbst kommen wuerde. Aber sie brachte es nicht uebers Herz, Ilse das zu
sagen. Sie fuerchtete einen neuen leidenschaftlichen Ausbruch und glaubte
Ilses Widerstand dadurch nur noch groesser zu machen. "Armes _darling_, wie
tust du mich leid," sagte sie oft leise, wenn sie in dem blassen Gesichte
der Freundin deren heimliche Kaempfe las, und sie fuehlte mit ihr, wie sie
litt.

Zwei Wochen waren fuer Ilse in Hangen und Bangen verstrichen. Sie hatte
sich bei ihren liebenswuerdigen Freunden vollstaendig eingelebt, und Nellie
hatte es verstanden, sie bisweilen etwas aufzuheitern. Aber dann konnte
sie auch wieder lange schweigend vor sich hinstarren, und die trotzig
aufgeworfene Oberlippe liess erraten, woran sie dachte.

"Ich muss ihr etwas zerstreuen," sagte Nellie zu ihrem Mann. "Sie ist so
blass und hat schwarze Ringels unter den Augen; sie darf nicht mehr so viel
an der Sache denken. Sie ist eine kleine Widerspenstige, und ihr kuenftiger
Mann muss ihr sehr heilen, bis sie eine so sanfte Weibchen wird, wie ich es
bin," fuegte sie mit einem schalkhaften Blick hinzu.

"Ja," lachte Althoff, "wenn man einen so guten Mann hat, wie ich es bin,
der zu allem 'Ja' und 'Amen' sagt, dann ist es leicht, sanft zu sein."

"O, du," drohte Nellie scherzend mit dem Finger, aber er schloss ihr den
Mund mit einem Kusse.

"Heute muessen wir einige Visiten machen," sagte Nellie eines Tages zu
Ilse. "Die Leute betrachten dir schon wie eine verwunschene Prinzessin,
weil ich dich nirgends zeige. Und Florchen, wie wird sie grimmig sein,
wenn sie hoert, dass du bist schon lange bei mich und hast ihr noch nicht
ins 'eigene Heim' besucht. Das ist naemlich ihr Lieblingsausdruck."

Ilse zeigte wenig Lust fuer diese Besuche, liess sich endlich aber doch dazu
bewegen.

Seit dem Abend ihrer Ankunft war sie nur einige Male in der Daemmerung mit
Althoffs spazieren gegangen, heute sah sie die kleine Stadt zum ersten
Male im hellen Tageslicht. Mancher neugierige Blick folgte den beiden.
Frau Doktor Althoff hatte Besuch, und davon wusste man nichts? Das war doch
unerhoert! Wer mochte denn die junge Dame sein? Frau Doktor Althoff hatte
ja gar nicht erwaehnt, dass sie Besuch bekaeme, warum hatte sie das
verschwiegen? So zerbrachen sich Nellies Bekannte, die ihnen begegneten,
den Kopf. In der breiten Hauptstrasse vor einem huebschen Hause machte
Nellie Halt.

"Hier wohnt die Dichterin Frau Doktor Flora Gerber, in dies Haus, eine
Treppe hoch," sagte sie und oeffnete die Haustuere.

Als sie oben angekommen waren, fluesterte sie Ilse zu: "Ilschen, wenn dir
das neugierige Flora nach alles fragt, nach dein Hiersein, dein Verlobten,
lass mir nur machen, ich geb' ihr Antwort."

Wie ein Stein fiel es Ilse bei diesen Worten vom Herzen, denn heimlich
hatte sie schon ueberlegt, ob sie Floras Fragen ausweichen oder sie
beantworten sollte. Sie drueckte Nellie mit einem dankbaren Blicke die
Hand.

Auf Nellies zweimaliges Schellen wurde die Tuere von einem wenig sauberen
Maedchen geoeffnet.

"Sind die Herrschaften zu sprechen?" fragte Nellie.

"Der Herr Doktor sind nicht zu Hause," stotterte das Maedchen verlegen,
"aber ich will mal nachsehen -"

Ohne den Satz zu beenden, verschwand sie eiligst hinter der Tuere. Nach
einem Weilchen erschien sie wieder, riss die gegenueberliegende Stubentuere
weit auf und meldete lakonisch:

"Da sollen Se rein gehen."

Flora war nicht im Zimmer, und Ilse hatte Musse, sich gruendlich darin
umzusehen. Sie bedurfte uebrigens nur weniger Blicke, um einen deutlichen
Eindruck zu gewinnen. Wie viel vermisste hier ihr stark ausgepraegter
Schoenheitssinn! Traulich, harmonisch, geschmackvoll war es bei Nellie,
ungemuetlich, geschmacklos, ein wirres Durcheinander bei Flora! Die Moebel,
gut und neu, entbehrten jeder Pflege, das sah man ihnen nur zu deutlich
an, denn eine graue Staubdecke lag darauf. Die Bilder an den Waenden hingen
schief, die Pflanzen am Fenster und im Blumentisch liessen durstig die
Koepfe haengen, und die gelben vertrockneten Blaetter an den Stengeln gaben
ihnen ein traurig verkommenes Aussehen. Ilse, die eine grosse
Blumenfreundin war, betrachtete sich die Aermsten mitleidig und sah sich
unwillkuerlich nach einer Giesskanne um, ohne jedoch eine solche entdecken
zu koennen. Auf dem Tisch vor dem Sofa, ueber den eine blaue Samtdecke
gebreitet war, welche schief herabhing, lagen eine Menge Buecher, zum Teil
aufgeschlagen, mit Flecken und umgebogenen Ecken, dazwischen
Visitenkarten, Briefe, lose Blaetter in einem wahren Chaos zusammen.

"Nellie, sieh nur," rief Ilse halblaut und zeigte mit der Hand auf diesen
Wirrwar, "das nennt Flora gewiss 'malerisch'."

"O, stoere mir nicht in mein heiliges Andacht," gab Nellie zur Antwort, und
als sich Ilse bei diesen mit Pathos gesprochenen Worten umwandte, sah sie
Nellie mit gefalteten Haenden vor einem Schreibtisch stehen, der seinen
Platz am Fenster hatte.

"Hier schafft unser grosse Dichterin, Ilschen. An was fuer ein herrliches
Mordgeschicht' mag sie wieder dichten," fuhr sie in demselben feierlichen
Tone fort.

Ilse hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen, denn
Nellie war zu komisch.

"Eben hat Florchen dieses Platz verlassen, wir haben ihr gewiss aus ihre
schoenste Gedanken gescheucht," fing Nellie wieder an.

Sie schien mit ihrer Vermutung recht zu haben, denn die Feder glaenzte noch
feucht von Tinte, der Stuhl stand jaeh zur Seite geschoben, und einige
Blaetter, die an der Erde lagen, waren wohl beim eiligen Aufstehen auf den
Boden geflogen. Mit beschriebenen und unbeschriebenen Blaettern war der
ganze Schreibtisch bedeckt, kaum dass die Stelle freigeblieben war, wo ein
ueber und ueber bespritztes Tintenfass thronte, das nicht aussah wie fuer
einen Damenschreibtisch bestimmt.

"Sieh hier, _darling_," sagte Nellie leise und zog die noch immer sich
verwundert umsehende Freundin mit sich fort, "das ist Florchens Mann."

Sie zeigte auf ein Bild, das ueber dem Schreibtisch hing. Ilse trat naeher
heran und sah sich den nicht gerade huebschen aber interessanten Maennerkopf
mit dem kurz geschorenen Haar und Bart voll Interesse an. Sie war noch in
der Betrachtung des Bildes versunken, als sich die Tuere ungestuem oeffnete
und Flora auf der Schwelle erschien. Dieselbe fuhr erstaunt zurueck, als
sie Ilse gewahrte, deren Besuch sie gar nicht vermutet hatte.

                              [Illustration]

"Mein Gott, Ilse, bist du es wirklich, oder ist es dein Geist?" rief sie
theatralisch mit weit vorgestreckten Haenden.

"Beruhige dich, Flora," antwortete Nellie, "komme zu dich, es ist nicht
ihre Geist, es ist die liebe Ilse in wahre Leibhaftigkeit. Sie kam uns auf
recht lange Zeit zu besuchen."

"Das Maedchen sagte mir, es waere noch eine Dame dabei, aber ich hatte
natuerlich keine Ahnung, dass diese Dame Ilse war. Ich dachte, es waere
vielleicht Rosi."

"Wir wollten dir ueberraschen, Flora," erklaerte Nellie.

"Aber nun willkommen, herzlich willkommen im eigenen Heim!" rief Flora und
ging mit geoeffneten Armen Ilse entgegen, die kaum das Lachen verbergen
konnte, weil Nellie sie bei dem 'eigenen Heim' mit dem Ellbogen angestossen
hatte.

"Und nun setzt euch, Kinder," sagte Flora, als die Begruessung vorueber war
und sie sich von dem Erstaunen ueber Ilses ploetzliches Erscheinen etwas
erholt hatte. Sie fuehrte die beiden zum Sofa und liess sich ihnen gegenueber
in einen der blauen Plueschsessel fallen, die um den Tisch standen. "Seid
nur nicht boese, dass ich noch im tiefsten Negligee erscheine,"
entschuldigte sie sich und wies auf ihren allerdings recht primitiven
Morgenrock. Mit einem schwaermerischen Ausblick fuhr sie fort:

"Doch, wenn ich einmal im Schaffensdrang bin, verlaesst mich der Gedanke an
die Wirklichkeit vollstaendig. Was liegt auch an dem elenden Putz und Tand!
Am liebsten huelle ich mich in eine einfache Kutte, nur um die Zeit zu
sparen und mich noch mehr meinen Arbeiten widmen zu koennen."

Sie seufzte leise bei diesen Worten. Ilse und Nellie erwiesen ihr nicht
den Gefallen, auf ihre Phrase vom Schaffensdrang naeher einzugehen. Nellie
schnitt das Thema kurz ab mit der Frage: "Wo ist dein Mann, Flora? Und die
kleine Baby?"

"Ernst macht Krankenbesuche und kommt erst zu Mittag nach Hause," gab
Flora gedehnt zur Antwort, die letzte Frage scheinbar ueberhoerend.

"Ach Kinder," fuhr sie fort, "ihr glaubt nicht, wie entsetzlich schwer es
ist, die Frau eines Arztes zu sein. An was muss man sich da nicht alles
gewoehnen! Der Beruf ist furchtbar prosaisch, entbehrt jeder Poesie. Schon
allein die Karbol- und Jodoformgerueche, in welche sich der Arzt huellen
muss, - puh, unausstehlich!"

Sie schnitt bei dem Gedanken an diese verpoenten Gerueche ein wegwerfendes
Gesicht und hielt sich unwillkuerlich ihr stark parfuemiertes Taschentuch
unter die Nase.

"O, ich finde sie ein sehr schoenes Parfuem, nix rieche ich lieber als
Jodoform und Karbol," sagte Nellie ganz ernsthaft.

Entsetzt sah Flora sie an.

"Pfui, Nellie! das kann dein Ernst nicht sein," rief sie. "Aber freilich,
du warst von jeher eine trockene, nuechterne Natur, du haettest eigentlich
gut zu Ernst gepasst."

"O ja," erwiderte Nellie laechelnd, und aus ihren Gruebchen sah der Schelm
hervor, "und ich glaube, du gut zu mein Alfred, weil er hat ein so fein
Verstaendnis fuer deine Poesien."

Ilse freute sich im geheimen ueber Nellies Schlagfertigkeit, aber ueber
Floras Gesicht ergoss sich eine brennende Roete. Sie fuehlte den Stich aus
Nellies Worten deutlich heraus, denn noch heute konnte sie Doktor Althoffs
Kritik ueber ihre Werke nicht verschmerzen. Zugleich hatte Nellie unbewusst
auf eine kleine Schwaeche angespielt, die sie noch immer fuer ihren frueheren
Lehrer besass. Sie antwortete nicht, sondern verbarg ihren Unmut und wandte
sich an Ilse.

"Wie geht es deinem Braeutigam, du glueckliches Menschenkind?"

Jetzt war an Ilse die Reihe zum Erroeten, und die Verlegenheit trieb ihr
das Blut heiss in die Wangen. Zum Glueck deutete Flora ihr Erroeten ganz
anders; sie fand es entzueckend, reizend, es sollte ihr den Stoff zu einem
Gedicht geben, dessen Titel unbedingt heissen musste: "Das schaemige
Braeutchen." Sie fand diese Idee wundervoll, einzig in ihrer Art, und war
so begeistert davon, dass sie laut ausrief:

"Nun sieh mir nur einer das schaemige Braeutchen an." Und traeumerisch vor
sich hinblickend, fuhr sie fort: "Ja, Ilse, die Brautzeit ist die
poesievollste des ganzen Lebens. In suessem Taendeln verfliessen die Tage, die
angeborene Rauheit des Mannes liegt da noch gebaendigt in den Rosenfesseln
der Liebe, in duftigen Zauber gehuellt vergeht die Zeit, nur der Koerper
beruehrt noch mit fluechtigem Fuss die profane Erde. Der Geist, das Herz, sie
entflohen in himmlische Gefilde und traeumen dort den ewigen Traum der
Liebe, fern vom lauten Getuemmel der Welt, der Prosa des Lebens!"

Nellie und Ilse hatten sich bei diesem poetischen Erguss schon einige Male
verstaendnisinnig angeblickt; aber als Nellie die letzten Worte Floras mit
einem urkomischen Gesicht begleitete, die Augen schwaermerisch
aufgeschlagen und gen Himmel gerichtet, konnte Ilse ihre Heiterkeit nicht
mehr verbergen und fing zu lachen an. Natuerlich stimmte Nellie mit ein.
Flora war empoert ueber den verkehrten Eindruck ihrer Worte und wuetend sah
sie die beiden an.

"Ihr scheint noch ebenso albern und verstaendnislos zu sein wie in der
Pension," sagte sie erregt. "Ich glaubte wirklich, Nellie, du waerst als
Frau vernuenftiger geworden und du, liebe Ilse, scheinst mir ja eine recht
prosaische Braut zu sein. Mein Gedankenflug war eben zu hoch fuer euch, wie
ich merke." Die letzten Worte betonte sie besonders und sah dabei die
beiden herablassend an.

Ilse aergerte sich ueber Flora, sie war ganz ernst geworden und hatte eine
Erwiderung auf den Lippen. Aber Nellie kam ihr zuvor.

"Da haben wir unsere Teil," sagte sie mit der liebenswuerdigsten Miene,
ohne durch Floras Abfertigung im mindesten aus der Fassung gebracht zu
sein. "Florchen, ich werde mich bessern, damit ich mit dich fliegen kann
in deine hohe schoene Land."

Diese spoettischen Worte erregten Floras Zorn noch mehr.

"Nimm mir nicht uebel, Nellie," rief sie, "aber in dir lebt auch nicht ein
Funke von Poesie, du ziehst alles in den Staub und Schmutz herab."

Ilse war ausser sich ueber diese Schmaehung ihrer geliebten Freundin.

"Nun ist es aber genug, Flora!" rief sie heftig, doch weiter kam sie auch
diesmal nicht, denn die Tuere wurde geoeffnet, die intelligente Dienstmagd
erschien und meldete, Herr Referendar Lueders wuensche Frau Doktor zu
sprechen.

Flora schnellte wie elektrisiert empor.

"Wie furchtbar fatal, - Herr Lueders und ich noch in Morgentoilette. Aber,
er ist ja unser Hausfreund. Ich koennte mich schon so vor ihm zeigen."

Sie trat vor den Spiegel und besah sich musternd, aber nicht ohne
Wohlgefallen.

"Was meint ihr?" fragte sie, "kann ich ihn so empfangen?"

"Ich meine nicht," antwortete Ilse in ihrer gewoehnlichen Offenheit. "Es
ist doch schon Mittag jetzt, und dann, denke ich, darf man im Morgenrock
ueberhaupt keine Herren empfangen."

"So denkt man wohl bei euch auf dem Lande," entgegnete Flora gereizt,
indem sie Ilse ueber ihre Schultern hinweg einen mitleidigen Blick zuwarf.
"Ich muss gestehen, das nenne ich enge Ansichten. Haette ich nur meine
hochelegante Matinee an, dann natuerlich wuerde ich Herrn Lueders sofort
empfangen. Sage Herrn Referendar, ich liesse ihn bitten einzutreten, ich
wuerde sofort erscheinen," wandte sie sich zu dem Maedchen, das stumpfsinnig
und bewegungslos an der Tuere stand, der Dinge harrend, die da kommen
sollten.

"Adieu, Flora, wir muessen gehen," sagte Nellie und erhob sich.

                              [Illustration]

"Nein, auf keinen Fall! Bitte, bleibt nur noch so lange, bis ich
zurueckkomme, bitte," bat Flora dringend und verschwand eiligst, weil die
Tuere weit aufging und Herr Lueders erschien. Nellie wollte mit einem
hoeflichen Grusse an ihm vorbei gehen, er kam aber schnell auf sie zu und
machte ihr eine tiefe Verbeugung.

"Gnaedige Frau," sagte er, "ich bin beglueckt, Sie hier zu treffen; darf ich
mich nach Ihrem Befinden erkundigen."

Nellie antwortete kuehl.

"O, ich danke, ich befinde mich sehr wohl. Ilse," wandte sie sich zu
dieser, "darf ich dir Herrn Referendar Lueders vorstellen, - Fraeulein
Macket."

"Eine grosse Ehre," sagte er verbindlich mit einer neuen eleganten
Bewegung.

"Wir wollen uns noch einen Augenblick setzen, bis Flora kommt," sagte
Nellie.

Ilse bemerkte, dass sie gegen diesen Herrn merkwuerdig zurueckhaltend war,
ganz gegen ihre gewoehnliche liebenswuerdige Art. Er gefiel auch ihr nicht;
sie konnte ihn jetzt, waehrend er sich mit Nellie unterhielt, pruefend
betrachten. Das glatte Gesicht war nicht unschoen, aber ausdruckslos, die
hellen blauen Augen erschienen ihr geradezu unangenehm. Er hatte blonde
Haare, blonde Augenbrauen, blonde Wimpern und vom hellsten Blond war auch
das kleine Schnurrbaertchen, das in zwei steif abstehende und kunstvoll
gedrehte Spitzen auslief. Die Gesichtsfarbe war maedchenhaft zart und
rosig. Ohne dass sie es wollte, draengte sich Ilse der Vergleich auf
zwischen ihm und ihrem Braeutigam. Wie kraftvoll und energisch war dessen
Gestalt gegen die des zierlichen Herrchens, das keine Spur von
Maennlichkeit und Ernst zeigte. Jetzt wandte er sich zu ihr und rueckte an
seinem Kneifer, der auf der kleinen, etwas aufgestuelpten Nase keinen
rechten Platz finden konnte.

"Wie lange weilen gnaediges Fraeulein schon in unsern Mauern?" fragte er und
sah ihr dabei keck ins Gesicht, dass sie unwillkuerlich den Kopf zurueckwarf
und ihn von oben herab unnahbar anblickte. Sie fand ihn in diesem
Augenblick unausstehlich, so dass sie sich Muehe geben musste, seine Fragen
artig zu beantworten, und froh war, als Floras Eintreten der Unterhaltung
ein Ende machte.

"Mein lieber Herr Lueders, verzeihen Sie nur, bitte, bitte, dass ich Sie
warten liess," rief sie ihm entgegen mit kindlich gefalteten Haenden und
demuetigem Augenaufschlag.

"Wie koennte ich Ihnen boese sein," sagte er mit Nachdruck und fuehrte ihre
Hand an seine Lippen.

Flora hatte in grosser Eile Toilette gemacht, das sah man, und ebenso
geschmacklos wie vorher, auch das fiel sofort auf. Die Haare trug sie
jetzt hoch aufgetuermt, was ihren ohnedies grossen Kopf noch groesser
erscheinen liess.

Das schwarze Kleid, das sie trug, war ueberreich mit Perlen besetzt, von
denen schon viele die Flucht ergriffen und kahle Stellen zurueckgelassen
hatten. Aber fuer solche Kleinigkeiten hatte die geniale Flora keinen Blick
und jetzt besonders nicht, denn ihre Aufmerksamkeit nahm der Referendar in
Anspruch. Er hatte aus seiner Tasche ein Heft gezogen und ueberreichte ihr
dasselbe.

"Ich habe mich an den Kindern Ihrer Muse wahrhaft ergoetzt," sagte er,
"seit lange habe ich nichts von so tiefem Inhalt, so poetischem Wert
gelesen. Ich bewundre Ihre Phantasie, Ihren Geist, gnaedige Frau."

Flora schwamm in einem Meer von Seligkeit, ihr Gesicht strahlte, und
triumphierend sahen ihre Augen zu den Freundinnen hinueber.

"Seht, es gibt doch noch Menschen, die mich und meine Werke verstehen,"
schienen sie zu sagen.

"Wie freue ich mich, dass Ihnen die kleinen Bluemchen, die ich in dem
Gaertchen meiner Poesie pflueckte, gefallen," sagte sie bescheiden. "Macht
es Ihnen Spass, so gebe ich Ihnen ein groesseres Opus zum Lesen mit, ich bin
gerade damit fertig geworden."

Sie stand auf, es zu holen, und diese Gelegenheit benuetzte Nellie und Ilse
sich auch zu erheben, um sich zu verabschieden. Flora hielt sie jetzt auch
nicht laenger mehr zurueck; es war ihr offenbar ganz erwuenscht, dass sie
gingen. Sie kuesste beide mit ueberwallender Zaertlichkeit, trug Nellie
tausend Gruesse fuer den strengen Gebieter und Ilse ebensoviel an ihren
Braeutigam. Als sie von der Tuere zurueck ins Zimmer trat, fing sie noch
gerade den bewundernden Blick auf, den Herr Lueders Ilse nachsandte. Das
stimmte ihre gehobene Laune etwas herab.

Als Ilse und Nellie schon auf der Treppe waren, fiel es ersterer ein, dass
sie ja einen Schirm mitgebracht hatte. Sie gingen deshalb zurueck, fanden
ihn aber nicht mehr auf dem Platz, wo sie ihn hingestellt hatten.

"O, wahrscheinlich hat ihn das saubere Dienstbot weggestellt, ich werde
ihr fragen," sagte Nellie und ging in die Kueche, die am Ende des Korridors
lag. Gleich darauf rief sie:

"Komm, Ilschen, sieh dir mal die kleine Stiefkind von Flora an, - o, ist
es nicht eine suesse Baby?"

Sie hatte das kleine Wesen schon auf dem Arme, als Ilse hereintrat, welche
als Kinderfreundin, die sie war, das Kind nun ebenfalls liebkoste und
streichelte. Es war ein reizendes kleines Maedchen von vier Jahren, mit
dunklen Augen und dunklem lockigen Haar. Aengstlich und schuechtern sah es
die beiden an und bog sich bei ihren Liebkosungen abwehrend zurueck, indem
sie die Haendchen fest gegen Nellies Brust stemmte.

"Bitte, Nellie, gib mir die Kleine nur ein einziges Mal," quaelte Ilse,
"ich mag Kinder so schrecklich gern. Meinen kleinen Bruder schleppe ich so
viel herum, dass Mama oft schilt, denn sie will nicht, dass er so viel
getragen wird. Der suesse kleine Kerl, ob er sich wohl nach mir sehnt, oder
mich schon vergessen hat?"

Sie seufzte bei diesen Worten, und in dem sehnsuechtigen Gedanken an das
Bruederchen nahm sie Nellie das Kind so heftig aus dem Arm und presste es so
stuermisch an sich, dass es jaemmerlich zu schreien anfing und mit Haenden und
Fuessen die groessten Anstrengungen machte, von Ilses Arm zu kommen.
Erschrocken liess diese es auf den Boden gleiten, Nellie aber kniete neben
ihm nieder und fragte es:

"Wie heisst du denn, _darling_?"

Die Kleine antwortete nicht, weder auf diese noch auf ihre weiteren
Fragen. Sie zog sich in eine Ecke zwischen dem Tisch und Kuechenschrank
zurueck, und sah sich die beiden mit trotzig verschlossenen Blicken an. Dem
armen kleinen Wesen fehlte die liebende, sorgende Hand der Mutter. Das
fleckige Kleidchen aus dunklem schwerem Stoff, die schmutzige Schuerze aus
grellbuntem Kattun bewiesen, dass ihr Anzug ohne Lust und Liebe gewaehlt
war.

"Arme Baby," sagte Nellie leise und sah mitleidig auf das Kind.

"Findest du nicht," fragte Ilse, "dass sie Aehnlichkeit mit unserer suessen
Lilli hat? Ihre Augen haben denselben schwermuetigen Ausdruck. Ist Flora
denn nicht sehr gluecklich ueber dieses reizende Kind?"

"O, ich glaube nicht," meinte Nellie, "es ist nie die Rede von die kleine
Kaethe, sie besorgt sich wenig um ihr. - Nun aber, Ilschen, es ist die
hoechste Zeit, dass wir fortgehen, sonst kommt Fred nach Hause und findet
mich abwesend."

Nellie beugte sich zu dem Kinde nieder und griff nach ihren Haendchen,
Kaethe entzog sie ihr aber schnell und versteckte sie auf dem Ruecken.

Als sie ueber den Vorplatz gingen, hoerten sie Floras laute, etwas
weinerliche Stimme; sie schien in lebhafter Unterhaltung mit Herrn Lueders
begriffen zu sein. Auf der Strasse hing sich Nellie an Ilses Arm und lachte
mit dem ganzen Gesicht.

"Ein schoener Besuch, nicht wahr, Ilschen?" fragte sie heiter. "Wie gefaellt
dich Flora als Frau und Mutter? Ist sie nicht noch eine ebenso
verschraubte Person wie frueher?"

"Noch schlimmer ist sie geworden," stimmte Ilse bei. "Ich finde sie zu
laecherlich! Hast du wohl bemerkt, wie holdselig sie den Referendar
anlaechelte, als er ihre Werke lobte? Und hast du sein spoettisches Gesicht
gesehen?"

"O, ich habe alles gesehen, _darling_, ich habe auch eine scharfe Blick.
Dieser Lueders, ich mag ihn gar nicht, er ist keine Gentleman, er ist nicht
richtig."

"Er ist nicht richtig?" fragte Ilse erschrocken, "hat er denn schon mal im
Irrenhaus gesessen?"

"O nein," lachte Nellie, "du verstehst mich nicht."

"Ja, aber du sagst doch, er waere nicht richtig, und das heisst so viel als:
er hat seinen vollen Verstand nicht."

"_Darling_, ich meine ja ganz anders, ich denke, er ist nicht richtig,
weil er nicht die Wahrheit sagt."

"Ach so," rief Ilse, "nun geht mir ein Licht auf; du meinst, er ist nicht
aufrichtig?"

"Ja, ja," bestaetigte die junge Frau, "so heisst das Wort, der ich nicht
finden konnte."

Dieses Missverstaendnis belustigte beide aufs hoechste, sie kamen immer
wieder darauf zurueck und mussten immer von neuem darueber lachen. In
heiterster Laune langten sie zu Hause an.

"Herr Doktor ist schon lange da," empfing sie das Maedchen.

"O weh," fluesterte Nellie, "da haben wir die Zeit verfehlt. Wie viel ist
denn die Uhr, ich habe kein Begriff."

"Gleich zwei Uhr," berichtete das Maedchen. "Der Herr Doktor hat schon oft
nach den Damen gefragt."

Auf dem Vorplatz kam ihnen Nellies Mann entgegen, und man sah es ihm an,
dass ihn die Ungeduld unwillig gemacht hatte.

"Wo bleibst du denn so lange?" fragte er verstimmt, "ich warte nun schon
seit ein Uhr auf dich. Du weisst doch, liebes Kind, dass ich die
Puenktlichkeit liebe und es vor allen Dingen nicht in der Ordnung finde,
wenn die Frau ihren Mann warten laesst."

Er hatte Ilse nicht bemerkt, die sich bei seinen Worten aengstlich hinter
einem Kleiderschrank versteckt hielt, und glaubte wohl, dass sie schon in
ihr Zimmer gegangen waere. Sie blieb in ihrem Versteck, bis das Ehepaar
fortgegangen war, und huschte dann in ihr Stuebchen.

"Das war aber stark," sagte sie vor sich hin, "das haette mir mein Mann
nicht bieten duerfen; ich haette mir das nicht so ruhig gefallen lassen. Es
war doch recht dumm von Nellie, dass sie ihm keine Antwort gab."

Das Maedchen unterbrach sie in ihrem Selbstgespraech und rief sie zum
Mittagessen.

"Das wird ein heiterer Mittag werden," dachte Ilse, "Doktor Althoff ist
schlechter Laune und Nellie doch sicherlich auch nach diesem Empfang."

Zoegernd trat sie ins Esszimmer. Doktor Althoff stand am Fenster und
trommelte gegen die Scheiben. Er drehte sich bei ihrem Grusse nur fluechtig
um und nickte ihr zu. Nellie stand schon am Tisch und fuellte die Suppe
auf.

"Kommt, Ilschen und Fred, wir wollen essen," rief sie freundlich und
setzte ihnen die dampfenden Teller hin. Doktor Althoff war, wie Ilse
richtig vermutet hatte, in uebler Laune. Er ass schweigend, und fuer Nellies
Fragen hatte er nur einsilbige Antworten. Erstaunt sah Ilse, dass Nellie
sich durch sein Benehmen nicht stoeren liess und gleichmaessig freundlich
blieb. Sie verstand die Freundin nicht. Sie wuerde im gleichen Falle
einfach vom Tisch aufgesprungen und hinausgegangen sein. Aber auch noch
ein freundliches Gesicht machen, wie Nellie es tat, das wuerde sie auf
keinen Fall vermocht haben.

Das Mittagsmahl verlief wenig gemuetlich fuer die drei.

Ilse, durch Althoffs Schweigsamkeit eingeschuechtert, wagte kaum ein Wort
zu sagen, nur Nellie war wie sonst, man sah ihr auch nicht den leisesten
Unmut an.

Als der Tisch abgeraeumt war, sollte wie gewoehnlich der Kaffee in Doktor
Althoffs behaglichem Arbeitszimmer getrunken werden.

"Lieber Fred, der Kaffee ist fertig," sagte Nellie, "wollen wir nicht
trinken?"

Er zog seine Uhr heraus.

"Nein, es ist schon viel zu spaet," entgegnete er kurz. "Ich kann keinen
Kaffee mehr trinken; es ist hoechste Zeit, dass ich gehe. Adieu."

Ohne Ilse die Hand zu reichen und Nellie den ueblichen Abschiedskuss zu
geben, ging er fort. Ilse sah, wie der jungen Frau eine heisse Blutwelle
ins Gesicht stieg und ihre Augen sich mit Traenen fuellten. Sie naeherte sich
ihr voller Mitleid und umschlang sie. Aber Nellie schob sie sanft zurueck
und eilte ihrem Gatten nach. Sie macht sich rein zu seiner Sklavin, dachte
Ilse erbittert. Nun bittet sie ihn wohl gar noch um Verzeihung; ich
begreife sie einfach nicht.

Nach kurzer Zeit kam Nellie zurueck, und in ihrem vergnuegten Gesicht sah
man keine Spur von Erregtheit mehr. Sie nahm Ilse gegenueber Platz, welche
am Fenster sass.

"Arme Ilse," sagte sie schelmisch, "du hast dir heute mittag gewiss recht
gemopst mit uns langweilige Menschen; sei nicht boese."

"Wie sollte ich boese sein, Nellie? Ich fasse nur nicht -" hier stockte sie
und sprach nicht weiter.

"Was fassest du nicht?" fragte Nellie.

"Nun, ich fasse nicht," sagte Ilse, "wie du dir so viel gefallen lassen
kannst von deinem Manne. Das ist mir rein unbegreiflich."

"Du bist noch eine kleine unverstaendliche Person," gab Nellie zur Antwort.
"Du wirst auch noch lernen zu schweigen, wenn dein Mann mal boes ist."

"Das werde ich nie, niemals!" beteuerte Ilse lebhaft.

"Du wirst," fiel ihr Nellie entschieden ins Wort. "Fred hat oft viel Aerger
mit die Jungens in der Schule und wenn er nach Hause kommt, darf ihn sein
kleine Frau nicht auch aergern. Heute hat er so grosse Verdruss gehabt, das
arme Mann. Du bist noch so jung, Kindchen, du verstehst noch nix von die
Ehe, von das Benehmen der Frau gegen ihre Mann."

Ilse lachte! "Das ist himmlisch! Du bist gerade zwei Jahre aelter als ich
und tust immer, als wenn du meine Grossmutter waerst."

"O, ich habe Erfahrung," rief Nellie, "und kenne die Welt mit die Menschen
besser als du, Baby."

"Ja, du bist meine einzige kluge Nellie," sagte Ilse, sie umschlingend.
"Aber wenn dein Mann mal wieder boese gegen dich ist, bekommt er es mit mir
zu tun."

Nellie hatte sie durch ihre Worte zwar nicht bekehrt, und sie gab ihr
nicht recht, denn sie wollte nicht die Sklavin ihres Mannes werden, aber
im Grunde ihres Herzens bewunderte sie doch die Freundin und ihre
Selbstbeherrschung.

                                  * * *

Seit dem Besuche bei Flora war wieder eine Woche verstrichen. Das
Doktorpaar hatte schon nach einigen Tagen einen Gegenbesuch gemacht, und
Floras Mann hatte Ilse ausserordentlich gut gefallen. Er war klug und
liebenswuerdig und hatte ein ruhiges, sicheres Benehmen. Bei Floras
ueberschwenglichem Unsinn schwieg er meistens, und es erschien dann in
seinem Gesicht ein Ausdruck, als ergebe er sich in das Unvermeidliche, das
zu aendern er aufgegeben hatte.

"Wie kam nur der nette Mann dazu, sich in Flora zu verlieben, Nellie?"
fragte Ilse. "Ich begreife das nicht."

"O," meinte diese, "Florchen wird sein Herz mit ihre schoene Liebesgedichte
gefangen haben. Wir muessen ihr gelegentlich ueber ihre Verlobung
ausforschen. Mich tut der arme Mann leid und die kleine Baby; Flora macht
ihnen kein Glueck, weil sie nichts wie dummes Zeug im Kopf hat." -

An einem Sonntagmorgen sass das junge Althoffsche Ehepaar mit Ilse
gemuetlich am Kaffeetisch, als das Maedchen einen Brief fuer Nellie
hereinbrachte.

"Eine grosse Neuigkeit!" rief sie, als sie ihn gelesen hatte. "Ratet, ich
sage nix," und geheimnisvoll sah sie zu Ilse hinueber, deren Blicke
aengstlich fragend auf ihr ruhten. Was mochte der Brief fuer eine Nachricht
enthalten, von wem mochte er sein? Ihr Herz pochte in heftigen Schlaegen,
und wieder tauchte die Hoffnung in ihr auf: es ist vielleicht eine
Nachricht von ihm, und er meldet sein Kommen an. Die erwartungsvolle
Aufregung, in der sie die erste Zeit hier verbracht hatte, war nach und
nach einer bitteren Ruhe gewichen. Sie zerfloss nicht mehr in
leidenschaftlichen Traenen, wenn Briefe von den Eltern eintrafen, die
nichts von Leo enthielten, und sie schreckte auch nicht mehr bei jedem
Klingeln zusammen. Nur abends, wenn sie im Bette lag, scheuchten noch
haeufig angstvolle Gedanken den Schlaf von ihren mueden Lidern, und sie
waelzte sich dann manchmal ruhelos auf ihrem Lager umher. Schwarz wie die
Nacht erschien ihr dann die Zukunft, sie kam sich einsam und verlassen vor
und schlief unter Traenen ein. -

Ilse wagte nicht, Nellie, welche sich mit ihrem Manne herumneckte, nach
dem Inhalt der Karte zu fragen.

Doktor Althoff, der nach langem Hin- und Herraten, das ihm jedesmal ein
lakonisches "Falsch" von seiner Frau eingetragen hatte, ungeduldig
geworden war, nahm schliesslich Nellie den Brief aus der Hand.

"O, was seid ihr Maenner neugierig," sagte sie lachend. Er las den Brief
und warf ihn dann auf den Tisch.

"Wenn es weiter nichts ist," sagte er mit enttaeuschter Miene, "ich dachte
Wunder, was der Brief enthielte! Also Pastors wollen uns heute besuchen,
das ist die ganze interessante Neuigkeit. Na, das wird einen heiteren
Sonntag geben," setzte er mit sauersuesser Miene hinzu.

Ilse hatte gespannt auf jedes seiner Worte gelauscht, sie war von neuem
enttaeuscht, und doch loeste es sich wie ein Alp von ihrer Brust.

"Ilschen," wandte sich Nellie jetzt zu ihr, "die artige Rosi mit ihre
Pfarrersmann wird uns heute besuchen. Freust du dich nicht?" Sie nahm den
Brief wieder an sich und las ihn nochmals. "Durch Flora hat Rosi von dein
Hiersein gehoert und freut sich riesig dich wiederzusehen," teilte sie Ilse
mit. "Sie fahren mit der Kutsche, schreibt mich Rosi, um acht Uhr von den
Dorf weg; wann sind sie also hier, Fred?"

Sie musste ihre Frage wiederholen, denn er las in der Zeitung und hatte
nicht zugehoert.

"Um acht Uhr fahren sie fort," berechnete er, - "vielmehr sind sie
fortgefahren, da werden sie gegen elf Uhr hier sein."

"O, dann haben wir noch viele Zeit," meinte Nellie, "dann koennen wir in
Ruhe Vorbereitungen zu Ehrwuerdens Empfang machen. Hilfst du mir, Ilschen?"

"Natuerlich, Nellie! Ich bin riesig gespannt, Rosi wiederzusehen. Sie ist
gewiss eine unterwuerfige Frau, eine demuetige Magd, wie sie im Buche steht,
geworden."

Die Kaffeestunde wurde heute abgekuerzt, denn Nellie musste fuer das
Fruehstueck und Mittagsmahl sorgen. Geschaeftig eilte sie mit dem
Schluesselkoerbchen klappernd hin und her, bald war sie in der Kueche, bald
im Zimmer. Jetzt kam sie mit einem Pack Tischzeug herein, legte dasselbe
auf den Esstisch und fing an zu decken. Ilse stand mit verschraenkten Armen
daneben und sah ihr zu.

"Nellie, weisst du noch, wie ungeschickt ich mich in der Pension benahm,
als ich zum ersten Male den Tisch decken sollte? Jetzt mache ich solche
'Dienstbotenarbeiten' ganz gern; so geschickt wie du bin ich natuerlich
noch nicht und werde es auch nie sein."

"O, _darling_," erwiderte Nellie, "wenn du erst ein kleines Hausfrau bist,
wirst du alles schoen machen, viel schoener als ich es -"

Ilse liess sie den Satz nicht beenden. Das Wort Hausfrau hatte sie peinlich
beruehrt und machte sie verlegen. "Nein," rief sie schnell, "nie, nie! Ich
bin ein ungeschicktes, plumpes Bauernmaedchen gegen dich."

"O, o," sagte Nellie, indem sie bei diesen uebertriebenen Worten erstaunt
aufblickte, "wie kannst du dich unterstehen, eine liebe Freundin von mir
so schlecht zu machen, das verbitte ich mich. Komm, hier hast du eine
Obstschale und hier den Obst von dem Bueffet. Da sind auch einige
Weinblaetter noch, du musst ihr malerisch zwischen die Fruechte gruppieren."

"Ich will versuchen, ob ich die Blaetter malerisch gruppieren kann," lachte
Ilse.

"O du kannst," entschied Nellie, "du hast ein gross malerisch Sinn."

Der Fruehstueckstisch war fertig, und die Obstschale prangte in der Mitte.
Nellie ueberschaute alles noch einmal mit pruefendem Blicke.

"Wir haben unser Sach gut gemacht," sagte sie befriedigt zu Ilse, "wir
duerfen uns dieser Lob spenden. Vor artig brave Rosi duerfen wir uns aber
auch keine Blossheit geben."

"Das ist klassisch: Blossheit geben. Bloesse meinst du wohl, Nellie?"
verbesserte Ilse heiter. "Du hast oft Ausdruecke zum Totlachen, aber sie
klingen in deinem Munde furchtbar niedlich und suess!"

"O, du furchtbar niedliches Ilsekind," neckte Nellie, "du musst nicht ueber
mich lachen, wenn ich falsch spreche, du musst mir ausbessern."

Es war eine kleine Koketterie von der jungen Frau, dass sie sich oft nicht
die Muehe gab, die richtigen Worte zu finden, weil sie genau wusste, wie
drollig und komisch es klang, wenn sie so gebrochen deutsch sprach.

Nellie verschwand jetzt eiligst, um ihren hellblauen Morgenrock mit einem
Hauskleide zu vertauschen.

"Du musst mir rufen, wenn du den Wagen kommen hoerst," rief sie Ilse noch
zu, die sich ans Fenster gesetzt hatte und nun nachdenklich auf die Strasse
hinabschaute.

Mit gemischten Empfindungen sah sie Rosis Ankunft entgegen. Sie freute
sich, die Pensionsfreundin wiederzusehen, aber der Gedanke, dass sie wieder
peinliche Fragen nach ihrem Verlobten ueber sich ergehen lassen muesse, wie
bei Flora, beunruhigte sie schon im voraus. Sie kam sich wie eine
Schuldige vor, die ihre Schuld vor der Welt verbergen musste, und dieses
Gefuehl war ihr schrecklich. Gegen elf Uhr hoerte sie fernes Wagenrollen und
schnell rief sie nun die Freundin herbei.

                              [Illustration]

"Das Landpastorkutsch erregt grosse Aufsicht," sagte Nellie und wies auf
die Fenster der Nachbarhaeuser, die mit Neugierigen besetzt waren, welche
das herannahende Wagengebaeude in Augenschein nehmen wollten. Langsam
bewegte sich dasselbe vorwaerts und unterbrach jaeh die sonntaegliche Stille
durch das Gerassel, welches es auf dem holperigen Strassenpflaster
verursachte. Zwei schwerfaellige dicke Gaeule wurden von dem Kutscher durch
Zureden und Peitschenhiebe angetrieben, ohne dass es ihm gelungen waere, sie
aus ihrem Phlegma aufzuruetteln. In unregelmaessigen Schwankungen bewegte
sich der grosse, ueber und ueber mit Schmutz bedeckte Wagen, dessen
ehrwuerdiges Alter nicht zu verkennen war, vorwaerts; die einstmals
wahrscheinlich blauen, jetzt bis zur Unkenntlichkeit verschossenen
Gardinen waren zugezogen, und umsonst reckten sich die Haelse der
Neugierigen krampfhaft aus, in dem Bemuehen die Insassen zu sehen.
Diejenigen, welche dem Althoffschen Hause gegenueber und dicht daneben
wohnten, harten es bequemer; denn als der Wagen hielt, konnten sie ohne
Genickverrenkung erkennen, wer ihm entstieg.

Also Althoffs bekommen Besuch, das war ja hoechst interessant! Leider
konnte man seine Neugierde nicht genuegend befriedigen, denn die zwei
Personen, welche den Wagen verliessen, wurden nicht, wie man erwartet
hatte, draussen an der Pforte in Empfang genommen, sondern verschwanden
sogleich hinter der Haustuere. Man haette sich die beiden so gern erst
genauer betrachtet, gerne gewusst, welches Kleid die Dame unter ihrem
Mantel trug, und den Schnitt desselben geprueft. Auch konnte man unter dem
dichten Schleier, den sie vor das Gesicht gezogen hatte, nicht erkennen,
ob sie jung oder alt, huebsch oder haesslich war. Kurz und gut, man war
enttaeuscht, wie die verwitwete Frau Sekretaer, welche Althoffs gegenueber
wohnte, durch das aergerliche Zuschlagen ihres Fensters deutlich bewies.

"Komische Moden fuehrt die junge Frau da drueben ein," sagte sie zu ihrer
verbluehten Tochter. "Bisher war es Sitte, dass man seinen Gaesten
entgegenging; wie unpassend, ihnen nicht mal beim Aussteigen behilflich zu
sein! Na, wie ich das finde!" Sie begleitete ihre Worte mit einem
missbilligenden Kopfschuetteln und setzte sich wieder an ihren Naehtisch.

"Ja, das kommt mir auch merkwuerdig vor," pflichtete das aelteste Maedchen
bei. "Uebrigens kann es uns ja ganz egal sein, was die da drueben machen und
tun."

Und doch war es ihr nicht gleichgueltig, was "die da drueben" taten, denn
sie war eine scharfe Beobachterin ihres Gegenueber. Das glueckliche junge
Ehepaar weckte so oft ein geheimes Sehnen in ihrem Herzen, mancher Seufzer
entstieg dann ihrer Brust und voll Bitterkeit dachte sie, dass ihr, der
alten Jungfer, niemals ein solches Glueck erbluehen wuerde. -

Drueben war die Begruessung vorueber, und Althoffs sassen mit ihren Gaesten
bereits am Fruehstueckstisch. Die beiden Ehepaare waren im lebhaften
Gespraech, und Ilse hatte daher Musse, sich ihre Schulfreundin und deren
Mann gruendlich zu betrachten. "Genau, wie sie Nellie geschildert hat,"
dachte sie in ihrem Innern. Rosi hatte sich wenig veraendert, nur strenger
waren ihre Zuege geworden, und die Haare glaenzten vielleicht noch heller
als frueher in ihrer Glaette. Tadellos wie immer war ihre Haltung und von
fast kloesterlicher Einfachheit ihr Anzug. Das schwarze Kleid sah doch
recht trist und altmodisch aus, und wie steif war der weisse Strich am
Kragen, den die goldene Brosche zusammenhielt, welche schon in der Pension
aller Entsetzen gewesen war. Auch der Herr Pastor im langen, schwarzen,
tabakduftenden Rock wurde von Ilse einer eingehenden Pruefung unterworfen,
ihrem scharfen Blick entging nichts. In dem gutmuetigen Gesicht beruehrte
ein liebenswuerdiger Zug aeusserst angenehm, aber ueber den schuechternen
Ausdruck in seinen blauen Augen musste Ilse unwillkuerlich laecheln. Und wie
unbeholfen waren seine Bewegungen, als er sich jetzt mit der Hand ueber
seine duennen blonden Haare strich und dann die goldene Brille zurecht
rueckte.

Rosi riss Ilse endlich aus ihren Betrachtungen.

"Liebe Ilse," sagte sie freundlich, "ich freue mich, dir nun muendlich noch
zu deiner Verlobung gratulieren zu koennen. Ich nehme den waermsten Anteil
an deinem Glueck. Wann heiratet ihr denn?"

"O, noch lange nicht," stiess Ilse hervor und wurde blutrot, denn sie
bemerkte, dass der Pastor bei diesem Gespraech zu ihr herueber blickte,
wahrscheinlich wollte auch er seinen Glueckwunsch hinzufuegen. O, diese
Wuensche fuer ihr Glueck erschienen ihr wie der bitterste Hohn, und die
Heuchelei, die Verstellung, mit der sie dieselben hinnehmen musste,
widerstanden ihrer ehrlichen Natur.

"Ach, ich dachte, ihr wuerdet schon bald heiraten! Nellie, sagtest du mir
nicht, die Hochzeit sollte im Fruehjahr oder Sommer sein?" fing Rosi das
peinliche Verhoer wieder an.

Ilse sass wie auf Kohlen, verstohlen blickte sie zu Nellie hinueber, welche
diesen flehenden Wink auch verstand und ihr zu Hilfe kam. Rosis Frage
scheinbar ueberhoerend, nahm sie eifrig einen Teller mit Aufschnitt vom
Tisch und reichte ihr denselben hin.

"Bitte, iss noch, Rosi," noetigte sie lebhaft, "denn wenn wir nachher in der
Stadt umherlaufen und Besorgungen machen wollen, musst du dir erst tuechtig
satt essen."

"Ja, liebe Frau," wandte sich der Pastor jetzt an sie, "was meinst du, ich
denke, du machst deine Besorgungen mit Frau Doktor und Fraeulein Ilse, und
wir treffen uns nachher im Ratskeller, wo wir beiden Herren einen
Fruehschoppen trinken wollen."

Rosi sah ihren Mann mit so erstaunten Augen an, dass er ganz verlegen
wurde, sich einige Male raeusperte, wobei er die Fingerspitzen auf den Mund
legte und schliesslich nach einer kleinen Pause die Worte hervorstotterte:

"Doktor Althoff machte mir naemlich den Vorschlag."

"Frau Pastorin," fiel dieser ihm in die Rede, "Sie haben wirklich einen
ganz durchtriebenen Gatten. Jetzt schiebt er alle Schuld auf mich, waehrend
er es war, der mich zum Fruehschoppen verleiten wollte."

Rosi verzog bei diesem Scherz keine Miene.

"Ich denke, wir bleiben besser zusammen," sagte sie entschieden zu ihrem
Mann, "und dann, du weisst doch, in Wirtshaeuser gehe ich grundsaetzlich
nicht."

Ilse sah verwundert zu ihr hin. War das denn die sanfte, fuegsame Rosi von
frueher?

"O," rief Nellie, "du armes Rosi, wie bedaure ich dir, denn in der Kneip
ist es zu schoen. Oft gehe ich mit Fred und einige gute Freunde ins
Wirtshaus, und dann trinken wir Bier zusammen. O, das ist fein! Und das
Comment hat mir Fred auch gelehrt, ich kann es gut - pass auf!"

Sie sah Rosi mit schelmischer Herausforderung an, erhob ihr Glas und hielt
es dem Pastor entgegen.

"Herr Pastor, trinken Sie auf mein Wohl, dann werde ich mir _a tempo_
loeffeln," rief sie lustig.

Er wurde ueber und ueber rot wie ein junges Maedchen, aber dem lieblichen
Gesicht der jungen Frau konnte er nicht widerstehen. Er nahm sein Glas und
stiess mit ihr an. Er wollte auch etwas sagen, aber das Wort blieb ihm in
der Kehle stecken, als er einen verstohlenen Blick auf seine Frau warf.

Sie stimmte nicht mit ein in das froehliche Lachen Althoffs und Ilses,
sondern richtete sich noch steifer auf, und ihre Zuege blieben unbeweglich.
In ihrem Innern dachte sie mit Unwillen: "Nellie ist doch recht
burschikos."

"Ich denke, wir brechen jetzt auf, lieber Adolf," sagte sie sanft aber
bestimmt und stand auf. "Wir haben eine Menge Besorgungen; es moechte sonst
zu spaet werden."

Die andern erhoben sich pflichtschuldigst.

"Kommen Sie mit in mein Zimmer, Herr Pastor," sagte Althoff. "Bis die
Damen fertig sind, wollen wir eine Zigarre rauchen." Der Pastor begruesste
diese Aufforderung mit grosser Freude, denn er fuerchtete jetzt ein
Alleinsein mit seiner Frau.

Nellie war in die Kueche gegangen, um fuer das Mittagessen noch einige
Anordnungen zu treffen. Ilse hatte Rosis Sachen vom Vorplatz hereingeholt
und belustigte sich nun ueber die Umstaendlichkeit, mit der die Frau
Pastorin ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte.

Sie war doch noch ganz die pedantische Rosi aus der Pension! Die Baender
des Kapothutes wurden zu einer streng symmetrischen Schleife zusammen
gebunden, dann feuchtete sie die Fingerspitzen mit der Zunge an und strich
mit denselben ueber den Scheitel, damit jedes sich vorwitzig
hervordraengende Haerchen in seine Schranken zurueckgewiesen wurde. Eine
innere Unruhe ergriff Ilse bei diesen Anstalten. Wie konnte man nur beim
Anziehen so langweilig sein. Wenn sie sich ihren Hut aufsetzte, blickte
sie nur fluechtig in den Spiegel, um zu wissen, ob er schief oder gerade
sass, und damit Punktum! Endlich war Rosi fertig, und die Reise konnte nun
losgehen.

Als alle zum Ausgehen geruestet auf dem Vorplatz standen, nahm Rosi eine
Tasche vom Kleiderstaender herunter und hing sie sich ueber den Arm.

"O, dieses entsetzliche Tasch nimmt sie mit," fluesterte Nellie Ilse zu und
betrachtete das Ding mit misstrauischen Augen.

Schoen war die Tasche nicht, das konnte man nicht behaupten, aber desto
groesser, von grober grauer Leinwand, worauf mit lila Wolle in Kettenstich
die Worte gestickt waren: "_Bon voyage_".

"Willst du den Sack mitnehmen, Rosi!" machte Nellie ihren Gefuehlen Luft.
"Du brauchst nicht," fuegte sie freundlich hinzu, "die Kaufleute schicken
gern alle Ware ins Haus."

"Einen Sack brauchst du diese Tasche nun nicht gerade zu nennen, Nellie,
wenn du sie auch nicht schoen findest," erwiderte Rosi gereizt und zog die
Geschmaehte noch fester ueber ihren Arm.

"O, sei nicht boese, ich kenne in der deutsche Sprach noch oft nicht die
richtige Worte", entschuldigte sich die junge Frau, und der Schalk lachte
aus ihren Augen.

"Das scheint so," meinte Rosi kuehl und ging voran.

Verschiedene Einkaeufe waren schon besorgt und die Pakete in die verpoente
Tasche gewandert, die sich behaglich in die Weite und Breite dehnte.

"Hier moechte ich noch eine Arbeit fuer meinen Mann zu Weihnachten kaufen,"
sagte Rosi leise zu den beiden Freundinnen und blieb vor einem
Stickereiladen stehen.

"Lieber Adolf," wandte sie sich zu ihrem Manne, "du bleibst wohl hier so
lange vor dem Laden stehen; ich moechte etwas kaufen, was du nicht sehen
sollst. Sei auch so gut und halte die Tasche so lange."

Sie wollte ihm damit die lila '_bon voyage_' in die Haende geben, aber Ilse
riss sie ihm fast fort. Sie fand Rosis Zumutung ihrem Manne gegenueber
empoerend.

"Bitte, Herr Pastor, lassen Sie mir die Tasche," bat sie, als er sie ihr
fortnehmen wollte, "es wuerde doch zu laecherlich aussehen, wenn Sie das
Ding hielten."

"Sie sind zu guetig," stammelte der Pastor, "aber Rosi moechte doch gern,
dass ich die Tasche hielte; bitte, geben Sie."

Ilse war jedoch schon hinter der Ladentuere verschwunden und gesellte sich
zu Nellie und Rosi, welche bereits eifrig mit dem Ladenfraeulein
verhandelten.

Hilflos sah ihr der Pastor nach.

"Ob es Rosi wohl recht ist, dass ich die Tasche hergab?" sagte er halblaut,
und sein aengstlich fragendes Gesicht war so komisch, dass sich Doktor
Althoff abwenden musste, um nicht laut aufzulachen.

"Wollen wir nicht ein wenig auf und ab gehen," sagte Althoff, als sie eine
Weile gewartet hatten, "die Damen scheinen lange zu waehlen; ich kenne das
schon von meiner Frau her."

"Wenn Sie meinen, Herr Doktor," entgegnete der Pastor zaghaft. "Nun ja,
wie Sie wollen. Ich hoffe jedoch, die Damen werden bald fertig sein."

Er trat an die Ladentuere heran und sah durch das Fenster. Die drei Damen
schienen noch nicht ans Fortgehen zu denken. Auf dem Ladentische vor ihnen
lag eine unendliche Menge Sachen ausgebreitet, unter denen die Wahl recht
schwierig sein mochte, denn sie wanderten von Hand zu Hand und wurden
eingehend besichtigt, worauf die drei Koepfe zu einer eifrigen Beratung
dicht zusammenrueckten. Der Pastor ueberzeugte sich, dass die Damen wohl noch
lange nicht fertig sein wuerden, und ging deshalb auf Althoffs Vorschlag
ein. Langsam spazierten die beiden Herren auf und ab und jedesmal, wenn
sie an dem Laden vorbei kamen, warf der Pastor forschende Blicke in das
Innere desselben.

"Es dauert recht lange, bis die Damen fertig sind," meinte er.

"Ja," lachte Althoff, "das kenne ich schon, wenn Frauen einkaufen, muss man
Geduld haben. Uebrigens da faellt mir ein, ich moechte Ihnen gern das Rathaus
zeigen, dessen Renovierung jetzt sehr fortgeschritten ist. Es wird
wirklich huebsch, kommen Sie."

Er fasste den Pastor unter den Arm und zog den halb Widerstrebenden mit
sich fort.

"Ja, ich saehe es gern, aber Verehrtester, wenn wir dann unsre Frauen nur
nicht verfehlen."

"Aber ich bitte Sie, in diesem kleinen Nest kann man sich ja gar nicht
verfehlen."

Nach einigem Zoegern willigte der Pastor ein.

Das alte Rathaus im neuen Schmuck gefiel ihm und mit Interesse betrachtete
er alle Giebel und Tuermchen des gotischen Baues.

"Und innen muessen Sie es auch besichtigen," sagte der Doktor, "die
Vorhalle ist sehenswert. Jetzt sind die Fresken an den Waenden auch bis auf
einen kleinen Teil fertig."

Sie stiegen die Steintreppe empor, betraten den mit Fliesen ausgelegten
Fussboden der grossen Vorhalle, unterwarfen die neuen Gemaelde einer
eingehenden Kritik und schritten dann weiter. Die ausgebauten Erker mit
den Butzenscheiben und den Holzbaenken ringsherum waren nicht veraendert und
die bis zur Haelfte der Hoehe mit Eichenholz getaefelten Waende hatte der
Pastor auch schon frueher bewundert. Nur auf den Gesimsen, die mit alten
Kruegen und Glaesern besetzt waren, entdeckte er manches noch nicht gesehene
Stueck und blieb davor stehen. Althoff kam es vor, als betrachte er die
schweren Humpen nicht einzig und allein mit dem Interesse des
Kunstkenners, und da er sich dabei auf seinen eigenen durstigen Gedanken
ertappte, fragte er scherzend:

"Was meinen Sie, Herr Pastor, wollen wir nicht einen solchen Humpen auf
das Wohl unserer Frauen leeren?"

Erschrocken sah sich der Angeredete um.

                              [Illustration]

"Wir haben es hier naemlich sehr bequem," fuhr Doktor Althoff fort, "wir
brauchen nur diese kleine Treppe hinunterzugehen und koennen uns unten an
einem herrlichen Fruehschoppen laben."

Der Pastor stand noch immer unschluessig da.

"Ja, aber meine Frau," warf er ein, "sie weiss dann nicht, wo ich geblieben
bin, und darum moechte ich es lieber nicht tun."

"Ich schicke einen Kellner mit einem Zettel nach dem Laden, wo die Damen
sicher noch sind," beschwichtigte ihn Althoff, "kommen Sie nur. Es gibt
hier ein famoses Spatenbraeu."

"So?" sagte der Pastor und zeigte sich bei dieser verlockenden Aussicht
schon geneigter, mitzugehen; "ach ja, gutes Bier habe ich lange nicht
getrunken. Wir trinken abends stets Tee."

Dabei fiel ihm seine Frau wieder ein, und er war wieder voll Zweifel, ob
er mitgehen sollte.

"Wenn es meiner Frau nur recht ist," sagte er unentschlossen.

"Ihre Frau Gemahlin wird sich freuen, dass ich Sie zu einem Glas Bier
ueberredet habe."

"Nun ja denn, vielleicht freut sie sich," sagte er schliesslich, obgleich
er innerlich vom Gegenteil ueberzeugt war. Aber der Wunsch, mal wieder eine
gemuetliche Kneipstunde zu verleben, kam seiner Phantasie zu Hilfe, und er
sagte nochmals, um seine Zweifel zu verscheuchen: "Vielleicht freut sie
sich." Und doch folgte er dem Doktor die schmale Treppe mit dem Gefuehl
hinunter, als ob er auf verbotenen Wegen wandle. -

Rosi hatte nach langem Waehlen ihren Einkauf beendet und war sehr vergnuegt
darueber, denn sie hatte gefunden, was sie suchte, naemlich ein Paar
angefangene Morgenschuhe und einen geschnitzten Pfeifenstaender, der noch
mit einer gestickten Borte verziert werden sollte. Sie fand die
Morgenschuhe besonders schoen und konnte nicht begreifen, dass Nellie und
Ilse ihr rieten, doch ein andres Muster zu waehlen. Ihr gefielen diese
roten Rosen, welche sie mit schwarzer Wolle ausfuellen wollte, ganz
besonders gut. Als sie aus dem Laden auf die Strasse traten, sah sich Rosi
suchend um.

"Wo sind denn die Herren geblieben? Ich sehe sie ja garnicht."

"Vielleicht ist dein Mann auch in eine Laden und kauft schoene
Weihnachtsdinge fuer dir," meinte Nellie, "wir wollen die Strasse
hinuntergehen und in die Ladens schauen."

Sie gingen weiter; aber die beiden Herren waren nirgends zu entdecken.

"Ich begreife das nicht," sagte Rosi kopfschuettelnd, "Adolf wollte doch
bestimmt auf mich warten."

"Dein Mann wird sich ja auch schon finden," meinte Ilse, welche sich ueber
Rosi aergerte, da diese ihre gute Laune durch den kleinen Zwischenfall
schon wieder ganz eingebuesst hatte.

Rosi ueberhoerte diese Worte, denn ihre Aufmerksamkeit wurde durch etwas
andres in Anspruch genommen. Sie sah erwartungsvoll auf Nellie, der soeben
von einem Jungen ein Zettel uebergeben worden war, welchen sie eifrig las.

"O, das ist fein," rief sie und reichte Rosi den Zettel. "Unsre Maenner
sind im Rathauskeller und Alfred schreibt, wir moechten sie dort abholen."

"Was," brauste Rosi auf und knitterte den Zettel zusammen, "Adolf sitzt im
Wirtshaus, heute am Sonntagmorgen!"

Weiter sagte sie nichts, wurde aber blutrot und ging mit schnellen
Schritten vorwaerts. Nellie und Ilse wechselten einige verstaendnisvolle
Blicke, und aus Nellies Schelmenaugen leuchtete etwas wie heimliche
Schadenfreude ueber die angefuehrte Rosi.

"Hast du noch etwas zu besorgen, Rosi?" fragte sie die aufgeregte
Pastorin, "sonst koennen wir gleich nach das Rathaus gehen."

"Ich begreife dich nicht, Nellie," gab Rosi unwillig zur Antwort. "Wir
sind doch keine Studenten, dass wir in die Kneipe gehen koennen. Willst du
deinen Mann abholen, dann tue es; bitte, entschuldige aber, wenn ich nach
Hause gehe."

"O, wir lassen dir nicht allein gehen, Rosi, natuerlich gehen wir mit,"
entgegnete Nellie.

Eine rechte Unterhaltung kam zwischen den dreien nicht wieder zustande.
Nellie und Ilse machten einige schwache Versuche, mit Rosi ein Gespraech
anzufangen, aber sie antwortete kurz und einsilbig.

"Ich kenne unsre 'artige Rosi' ja gar nicht wieder," fluesterte Ilse der
Freundin zu.

"O, ich erstaune mich auch ueber ihr," gab diese ebenso leise zur Antwort,
"was hat sie, dass sie ihr Mann nicht in der Kneip laesst? Sie ist eine
Tyrann!"

Auf dem Nachhauseweg verbarg Rosi ihre Verstimmtheit hinter einer
ungemuetlichen Schweigsamkeit, aber man sah ihr an, wie es in ihr kochte
und wie sie sich nur muehsam bezwang, ruhig zu erscheinen.

Desto gemuetlicher war die Stimmung in dem Ratskeller, wo die beiden Herren
in dichte Rauchwolken gehuellt in einer behaglichen Ecke sassen. Dem Pastor
mundete das Bier nach langer Entbehrung herrlich, er war in eine redselige
Laune gekommen und plauderte von alten Zeiten, als er noch ein froehlicher
Studiosus war.

"_Tempi passati!_" sagte er mit einem leisen Seufzer. "Aber hier ist es
auch gemuetlich," fuhr er dann fort, indem er sich noch fester in seine
Sofaecke zuruecklehnte und in Erinnerungen versunken dem blauen Dampf
seiner Zigarre zusah, wie dieser in die Hoehe stieg und langsam zerrann.

"Nicht wahr, das Bier schmeckt Ihnen?" fragte Althoff.

"O, das ist famos! Seit meiner Studienzeit habe ich es nicht so gut
getrunken."

Und er liebaeugelte mit dem frisch gefuellten Glase, das vor ihm stand, und
aus dem er dann einen tiefen Trunk tat. -

Der Doktor hatte oefter nach der Tuere gesehen, da er noch immer hoffte,
Nellie wuerde die Pastorin ueberredet haben, sie abzuholen.

"Ich dachte, Ihre Frau wuerde sich noch haben bewegen lassen,
hierherzukommen," sagte er zum Pastor und fuegte erklaerend hinzu, als er
dessen erstaunt fragende Augen auf sich gerichtet sah: "Ich hatte meiner
Frau naemlich geschrieben, dass wir die Damen hier erwarteten."

"So, so, das hatten Sie geschrieben? Werter Herr Doktor, meine Frau geht
in kein Wirtshaus, sie sagte es ja noch heute morgen."

"Das war doch nur Scherz," fiel Althoff ein.

"Nein, ach nein, in solchen Dingen scherzt meine Frau nicht."

Ein bedauernder Zug glitt bei diesen Worten ueber die Zuege des Pastors, von
denen jetzt die ruhige Behaglichkeit verschwunden war. Der Gedanke an
seine Frau machte ihn unruhig, er sah nach der Uhr und meinte, es waere die
hoechste Zeit, dass sie gingen; energisch trieb er jetzt zum Aufbruch, an
den er noch eben zuvor nicht gedacht hatte.

"Ich moechte doch meine Frau nicht warten lassen," sagte er, indem er sich
seinen Ueberzieher anzog. Unterwegs schwaermte er noch immer von dem schoenen
Fruehschoppen und erklaerte scherzend, dass er bald mal wieder kommen wuerde,
allein schon des guten Bieres wegen.

Als sie am Althoffschen Hause angelangt waren, ueberlegte er im stillen,
wie er Rosi am besten beschwichtigen koennte und was er zu ihren Vorwuerfen
sagen wollte. Er stieg zoegernd die Treppe hinauf und dachte: "Wie wird sie
mich wohl empfangen?" Aber Rosi empfing ihn besser, als er erwartete.
Nellie und Ilse hatten es fertig gebracht, sie zu besaenftigen, ihnen
verdankte es der Pastor, dass er von seiner Frau zwar foermlich und
gemessen, aber wenigstens ohne die erwartete Gardinenpredigt begruesst
wurde. Mit keinem Worte erwaehnte sie, wo er gewesen war, und als Nellies
Mann lebhaft bedauerte, dass die Damen nicht nachgekommen waeren, schwieg
sie auch. Der Pastor atmete erleichtert auf und setzte sich in bester
Stimmung mit den uebrigen zu Tische. Es schien, als erwarteten ihn heute
lauter Genuesse. Doktor Althoff hatte einen feinen alten Wein aus dem
Keller geholt und forderte lebhaft zum Trinken auf.

"Frau Pastor," sagte er zu Rosi, "Sie muessen aber besser trinken. Sie sind
ja wahrhaftig noch beim ersten Glase. Nehmen Sie sich ein Beispiel an
Ihrem Gatten, dessen Trunkfestigkeit ich heute morgen bewundert habe. Und
zu spasshaft ist es, dass er noch obendrein behauptet, er koenne jetzt nichts
mehr vertragen, als Student haette er - nun, ich gebrauche die Worte Ihres
Gatten - einen ganz anderen Stiefel vertragen koennen."

Der Pastor rueckte unruhig auf seinem Stuhle hin und her und sah seine
Frau, die nicht von ihrem Teller aufblickte und kein Wort erwiderte, scheu
von der Seite an. Warum schwieg sie heute nur so beharrlich? Es wurde ihm
nachgerade unheimlich, da es doch sonst ihre Art nicht war. Wenn nur der
Doktor auf ein andres Thema kommen wollte, aber immer wieder fing er an,
alle moeglichen Studentenfahrten zu erzaehlen, die der Pastor ihm diesen
Morgen in froehlicher Kneiplaune zum besten gegeben hatte. Die
bedeutungsvollen Blicke, die er ihm zuwarf, schien er nicht zu verstehen,
ja als er ihn mit dem Fusse anstiess, zog er den seinigen schnell fort, als
waere er aus Versehen dagegen gestossen. Nellie und Ilse unterhielten sich
koestlich und hoerten aufmerksam zu, aber seine Frau verzog keine Miene.

"Wenn sie nur einmal ein Wort sagte," dachte er, ihre Ruhe kam ihm zu
unnatuerlich vor. Bis jetzt wusste sie noch nichts von allen seinen lustigen
Streichen. Er hatte sie ihr wohlweislich verschwiegen, denn ihr
pedantischer Sinn wuerde dieselben doch nicht begriffen haben. Und doch,
wie schoen war seine lustige Studentenzeit gewesen, wie uebermuetig hatte er
damals sein koennen. Aber das war schon lange, lange her!

Zum zweitenmal heute wurden diese Erinnerungen lebhaft in ihm wachgerufen.
Von seinen Jugendlieben hatte er dem Doktor leichtsinnigerweise auch
erzaehlt; wenn er wenigstens davon schwieg, aber in demselben Augenblick
schlug auch schon das Wort "Flammen" an sein Ohr, und mit ahnungsloser
Breite erzaehlte Althoff, wieviel reizenden Maedchen jener nachgelaufen
waere. Der Pastor senkte bei diesen Erzaehlungen die Augen wie ein junges
Maedchen, denn er fuehlte, dass jetzt Rosis Blick strafend auf ihm ruhte.
Verlegen griff er immer wieder zu seinem Weinglas und stuerzte einige
Glaeser voller Hast hinunter. Er suchte nach einem Ausweg, dem Gespraech
eine andre Wendung zu geben. Aengstlich sann er darueber nach, stand dann
ploetzlich auf und schlug mit dem Messer an sein Glas. Als Rosi ihres
Mannes geroetete Wangen und glaenzende Augen sah, sprang sie auf und ging zu
ihm.

"Bitte, lieber Adolf, setze dich wieder," sagte sie anscheinend sanft und
legte die Hand auf seine Schulter. Da drehte er sich herum und wollte den
Arm um sie schlingen, aber unwillig wich sie zurueck.

"Ich wollte mich nur bei unsern liebenswuerdigen Wirten fuer die freundliche
Aufnahme bedanken, Roeschen," sagte er laechelnd. "Fuer die wirklich reizende
Aufnahme, die wir hier gefunden haben." Ohne sich von Rosis strengem
Gesicht beirren zu lassen, fuhr er zu dem jungen Ehepaar gewendet fort:
"Sie muessen uns auch recht bald besuchen, und dann kommen wir auch wieder
zu Ihnen, denn es ist zu schoen hier. Der Wein ist koestlich, das Essen
schmeckt so gut und Sie, lieber werter Herr Doktor, sind ein so praechtiger
Mann," hier erhob er seine Stimme, "und die Frau Doktor ist eine kleine
famose Frau. Ach, so etwas haben wir nicht auf unsrem einsamen Lande. -
Roeschen, lass mich doch," wehrte er seine Frau ab, die sich ihm wieder
genaehert hatte und ihn zum Schweigen bringen wollte, "ich muss doch den
guten braven Leuten danken! Komm Schatz, gib mir einen Kuss."

Er breitete die Arme aus und wollte sie kuessen, aber nun riss Rosis Geduld,
sie stiess ihn unsanft zurueck und lief zum Zimmer hinaus.

Der Pastor bemerkte kaum den Unwillen seiner Frau.

"Herr Doktor, die lustige Studienzeit soll leben!" rief er, indem er
Althoff sein Glas entgegenhielt, und in seliger Stimmung begann er das
alte Burschenlied zu singen:

"_Gaudeamus igitur, Juvenes dum sumus._"

"O, wie dumm von sie," sagte Nellie halblaut, stand auf und ging Rosi
nach. Sie fand sie im andern Zimmer, aufgeloest in Traenen.

"Was hast du?" fragte Nellie, "warum weinst du?"

"Du fragst auch noch," schluchzte die Pastorin, "und weisst recht gut,
warum ich weinen muss? Meinst du, es ist mir angenehm, dass sich mein Mann
so betraegt?"

"O," gab ihr Nellie entschieden zur Antwort, "dein Mann hat ein gut
Betragen. Was macht es, er hat ein klein Schwips und ist lustig, das
schadet doch nix?"

"Wenn seine Amtsbrueder das saehen, er muesste sich ja zu Tode schaemen!"

"Lass doch die dumme Amtsbrueder, sie wissen ja nichts davon. Komm Rosi, geh
wieder hinein und tue, als waere nichts geschehen. Es ist gewiss das
kluegste, was du tun kannst."

Sie fasste die Weinende unter den Arm und wollte sie fortziehen, aber Rosi
entwand sich ihr schnell und sagte beleidigt:

"Du denkst ueber solche Sachen eben anders, als ich, liebe Nellie; ich kann
mich aber nicht so leicht darueber hinwegsetzen. Ich gehe nicht mit! Bitte,
schicke das Maedchen nach unsrem Wagen, dass er sofort kommt; ich will nach
Hause fahren."

"O nein, du musst noch bleiben," rief Nellie.

"Nein, auf keinen Fall," entschied Rosi kategorisch und achselzuckend
schwieg Nellie. Sie aergerte sich ueber Rosis Halsstarrigkeit und merkte,
dass ihre Bitten nichts ausrichten wuerden. Im stillen glaubte sie auch, dass
nach diesem Auftritt keine rechte Stimmung wieder aufkommen wuerde, und
deshalb gab sie dem Maedchen den Auftrag, den Wagen zu bestellen, ohne Rosi
noch weiter zum Bleiben zu noetigen.

"Es tut mir leid, dass du fort willst," sagte sie zu ihr, die mit dem
Taschentuche ihre geroeteten Augen trocknete.

"Ja, mir auch, Nellie, aber glaube mir, es ist das beste, wenn wir fahren;
habe vielen Dank fuer deinen freundlichen Empfang. Und nun komm, ich will
meinem Mann sagen, dass der Wagen gleich da sein wird."

Den Pastor schien das Verschwinden seiner Frau nicht tief beruehrt zu
haben. Er unterhielt sich lebhaft mit Althoff und hatte mit Ilse
wiederholt auf das Wohl ihres Braeutigams angestossen, was ihr jedesmal eine
tiefe Roete in die Wangen trieb.

Rosi beherrschte sich und zeigte ein anscheinend ruhiges Gesicht, als sie
ins Zimmer trat. Sie trug ihren Hut in der Hand und ihren Mantel ueber dem
Arm und legte beides auf einen Stuhl.

"Lieber Adolf," sagte sie, zu ihrem Manne tretend, "willst du dich zurecht
machen, ich habe den Wagen bestellt und er wird sogleich vorfahren."

"Was, Roeschen, geliebtes Weibchen, du willst schon fort?" fragte er.

"Ich bitte dich, Adolf, komm, es ist die hoechste Zeit, dass wir uns auf den
Weg machen."

Krampfhaft nahm sie sich zusammen, und unheimlich sanft klang ihre Stimme.

Aber Adolf hatte noch keine Lust zum Gehen. So heiter und fidel war er
seit Jahren nicht gewesen. Lustig sang er:

  "Nach Hause gehn wir nicht,
  Nach Hause gehn wir nicht,
  Nach Hause gehn wir lange nicht - -"

"Aber Adolf, Adolf, ich begreife dich nicht," unterbrach ihn Rosi, "so
komm doch nur, ich will fort!"

"Bleiben Sie doch noch, Frau Pastorin," bat Althoff jetzt, aber ein
verstaendnisvoller Blick seiner Frau bedeutete ihn, dass er seine Bitte
nicht wiederholen solle. Rosi antwortete auch gar nicht darauf; voller
Verzweiflung zupfte sie ihren Mann verstohlen am Aermel und trieb
fortwaehrend zum Aufbruch.

Aber alle Versuche, ihn zum Aufstehen zu bewegen, prallten an ihm ab.

"Nein, ich bleibe hier, du kannst allein fahren," erklaerte er mit einer
geradezu hartnaeckigen Entschiedenheit und blieb sitzen. Rosi war ausser
sich und kaempfte von neuem mit den Traenen.

Der gutherzigen Nellie tat sie nun doch leid, sie schlang ihren Arm um sie
und fuehrte sie fort.

"Zieh dich deine Sachen an, dein Mann kommt dann schon," sagte sie und gab
ihr den Mantel.

"Das kommt von dem Wirtshausgehen," fuhr die empoerte Pastorin heraus, mit
einer Miene, als haette sie in dieser Beziehung schon die truebsten
Erfahrungen in ihrer jungen Ehe gemacht.

Nellie laechelte, aber sagte nichts. Rosi war zu aufgeregt, in ihren
Ansichten zu erhaben und halsstarrig, als dass sie ihr eine andre Meinung
haette beibringen koennen.

Ilse meldete jetzt, dass der Wagen vorgefahren sei. Von neuem ging Rosi zu
ihrem Manne.

"So, ich bin fertig, willst du nun kommen?"

Er ruehrte sich nicht vom Platze.

"Aber Adolf," draengte sie wieder mit weinerlicher Stimme.

Lachend sah er sie an. Als er aber ihre heissen roten Wangen und ihre
zornig funkelnden Augen bemerkte, erhob er sich endlich.

"Ich bliebe so gern noch bei den guten Leuten, es ist so reizend hier;
warum muessen wir denn schon fort, Roeschen? Was hast du denn fuer Eile?"

Unter solchen Beteuerungen und Fragen, die er fortwaehrend wiederholte,
machte er sich zum Aufbruch bereit. Rosi verfolgte seine Bewegungen mit
angstvollem Gesicht, es kam ihr vor, als ginge er unsicher die Treppe
hinunter, als waere sein Gang schwankend! Es war zu schrecklich, wie konnte
er sich so weit vergessen! Sie war froh, dass es schon fast dunkel draussen
war, da sah ihn wenigstens niemand.

"Roeschen," sagte der Pastor unten zu ihr, "sage dem Kutscher, dass der
Wagen aufgemacht wird, ich moechte beim Fahren in die Sterne sehen."

Sie gab keine Antwort und riss die Wagentuere auf.

"Sage dem Kutscher, dass er den Wagen aufmacht, Kind," wiederholte er.

"Ich glaube, Herr Pastor," warf Althoff ein, "zum Fahren im offenen Wagen
ist es heute abend zu kuehl, Sie koennten sich erkaelten."

"Ich begreife ueberhaupt nicht, wie du auf diese Idee kommst, lieber
Adolf," sagte Rosi unliebenswuerdig, "wir sind doch nie im offenen Wagen
gefahren. Aber bitte, nun beeile dich und steige ein, damit ich dir die
Sachen zureichen kann." Sie draengte ihn zur Wagentuere. Er stieg aber nicht
ein, sondern erklaerte mit Bestimmtheit: "Der Wagen soll offen sein, sonst
fahre ich nicht mit!"

"Herr Pastor, Ihre Frau hat recht," legte sich nun Nellie ins Mittel, die
bei seinem Widerstand in Rosis Gesicht ein Ungewitter aufziehen sah, "es
ist keine schoene Luft diese Abend, ein ander Mal koennen Sie der Sterne
besehen."

Sie sprach das erloesende Wort, denn der Pastor bestand nicht laenger auf
seinem Willen. Er ging auf Nellie zu und drueckte ihr die Hand.

"Frau Doktor, vielen Dank, es war zu schoen, zu schoen," versicherte er voll
Begeisterung. Und dann umarmte er Althoff, als naehme er Abschied,
mindestens um nach Amerika zu gehen; dann uebermannte ihn die Ruehrung, er
konnte nicht mehr sprechen und stieg in den Wagen. Rosi sprang hinter ihm
her, machte schnell die Tuere zu, als haette sie Angst, dass er wieder
entschluepfen koennte, und trieb den Kutscher zur Eile an. Sie sah noch
fluechtig aus dem Fenster und nickte den draussen Stehenden zu, dann zog sie
die verblichenen Gardinen dicht zusammen. Die schwerfaelligen Gaeule, durch
einige Peitschenhiebe angetrieben, zogen langsam an, und die grosse Kutsche
rumpelte von dannen.

Als die drei wieder im Zimmer waren, warfen sich Nellie und Ilse ungestuem
ins Sofa und brachen in ein unbaendiges Gelaechter aus.

"Ihr seid doch noch recht alberne Kinder," sagte Althoff kopfschuettelnd.
Aber Nellie sprang auf, hing sich an seinen Hals und drehte ihn im Kreise
herum.

"Kein strenge Wort, Fred," rief sie lustig, "ich muss mir erst auslachen
ueber den Pastoren-Ehepaar."

"Ich finde, dass es hier nichts zu lachen gibt, Nellie," sagte er ernst.
"Diese Szene zwischen den beiden war sehr peinlich, und ich habe mich ueber
Rosi geaergert. Ich kenne sie nicht wieder; aus dem fuegsamen sanften
Maedchen ist eine herrische, anspruchsvolle Frau geworden, die mit ihren
pedantischen, verkehrten Ansichten ihrem Manne das Leben schwer zu machen
scheint."

"Ich bin auch erstaunt, wie sehr sich Rosi veraendert hat," sagte Ilse.
"Sie hat ihren Mann vollstaendig unter dem Pantoffel."

"O, wie wird es das arme Mann jetzt in die Gardinenkutsch' schlecht
ergehen," rief Nellie. "Ich moecht nicht in seine Fell sitzen, wie viel
artige Redens wird ihn Rosi halten. O, und er war so lustig, er tut mich
leid!"

"Rosi hat nicht nur toericht, sondern auch unrecht gehandelt; sie haette mit
Scherz ueber die Sache weggehen sollen, statt durch ihr Fortlaufen solche
Ungemuetlichkeit hervorzurufen. Nur durch ihr albernes Benehmen ist es so
weit gekommen. Sie hat sich laecherlich gemacht. Es ist durchaus unwuerdig
von einer Frau, wenn sie stets ihren Willen durchsetzen will."

Ilse war bei diesen Worten ihres frueheren Lehrers nachdenklich geworden.
Hatte sie bis jetzt auch stets ihren Willen durchsetzen wollen und dachte
sie nicht, dass es in der Zukunft auch so sein muesste? Ja, Doktor Althoff
hatte recht, es machte einen laecherlichen, unwuerdigen Eindruck, wenn die
Frau herrschte und der Mann sich fuegte. Heute hatte sie sich davon
ueberzeugen koennen. Ein Pantoffelheld, wie graesslich, nein, den moechte sie
nicht zum Manne haben. Und doch, wenn sich Leo jetzt und kuenftig immer
ihrem Willen fuegen sollte, wuerde er etwas anderes sein? Haette sie nicht so
gedacht, waere es so weit gekommen? Waere es nicht besser gewesen, sie haette
nachgegeben? Vergab sie sich dadurch etwas? Fiel es ihr unangenehm auf,
wenn sich Nellie den Wuenschen ihres Mannes in bereitwilligster Weise fuegte
und war sie deshalb eine untergeordnete Natur ohne selbstaendigen Willen?
Nein, durchaus nicht, Nellie war nur klug, sie verstand es, fuegsam zu
sein, und erreichte durch ihr Nachgeben mehr, als durch eigensinnigen
Widerstand; das hatte Ilse schon oft bemerkt. - Ein Gefuehl der Reue wallte
ploetzlich heiss in ihr auf, und sie gestand sich, dass alles anders waere,
wenn sie nur das eine Mal nachgegeben haette.

"Du bist ja so still geworden," sagte Nellie, "an was denkst du?"

"Ach, an gar nichts," gab sie ausweichend zur Antwort.

"Nellie," fragte sie dann nach einer Weile ploetzlich, "nicht wahr, du
magst es doch auch nicht leiden, wenn der Mann unter dem Pantoffel steht?"

"O, eine Pantoffelmann ist mich zum Totlachen, ich verachte ihn," rief die
junge Frau. -

Ilse ertappte ihre Gedanken an diesem Abend noch oft bei Leo, und die
ganze Nacht traeumte sie von ihm. Sie war mit ihm zusammen, er sah aber
ganz anders aus, als sonst, seine hohe Gestalt hatte etwas von der
Unterwuerfigkeit des Pastors, und zu allem, was sie sprach, sagte er: "Ja,
ganz wie du wuenschest, mein Kind." Das fand sie schrecklich und wurde
schliesslich aergerlich, bis er ihr sagte: "Du willst ja, dass ich mich dir
in allem fuegen soll. Nur weil ich es nicht tat, hast du mich doch
verlassen." Sein blasses, demuetiges Gesicht brachte sie zur Verzweiflung,
und sie flehte ihn auf den Knien an, dass er doch wieder anders werden
moechte, so wie er frueher war; sie wollte sich auch aendern und sie koennten
dann wieder so gluecklich sein wie frueher. Als sie hierauf sehnsuechtig die
Arme nach ihm ausstreckte, um ihn an ihr Herz zu druecken, griff sie in die
leere Luft, - das Traumbild war verschwunden. Da quaelte sie die Reue und
entlockte ihr heisse Traenen, und als sie endlich aufwachte, fuehlte sie, dass
sie wirklich geweint hatte, und der Traum zog noch einmal beaengstigend an
ihrem Geist vorueber. Sie fragte sich, ob sie, wenn er jetzt kaeme, ihn wohl
mit offenen Armen empfangen wuerde? Ja, ach wie gern, antwortete ihr Herz.
- "Aber er kommt ja nicht," dachte sie traurig, "denn er liebt mich nicht
mehr. Und doch wollte ich anders werden, kaeme er mich zu holen, aber mich
so weit erniedrigen und ihn um Verzeihung bitten, nein, das kann ich
nicht, das darf er nicht von mir verlangen." -

                                  * * *

Leo litt unsagbar unter der Trennung von seiner Braut.

Wie Ilse hoffte, dass er ihr schreiben oder zu ihr kommen wuerde, so
begruesste auch er jeden neuen Tag in der Hoffnung, ein Lebenszeichen von
ihr zu erhalten und jeden Abend ging er enttaeuscht zur Ruhe. Eine rastlose
Unruhe ergriff ihn schliesslich, er versuchte sich durch eine angestrengte
Taetigkeit zu betaeuben, aber es fehlte ihm die Lust am Arbeiten. Er suchte
Zerstreuungen, aber er hatte kein Vergnuegen daran. Nichts half ihm, sein
jetziges Leben ertraeglicher zu machen, die peinvollen Zweifel zu
verscheuchen, die in ihm auftauchten. Sollte er sich in Ilse geirrt haben?
Diese Frage quaelte ihn unzaehlige Male, und doch, - nein, nein, das war ja
nicht moeglich, so zuversichtlich kann man nicht auf einen Menschen bauen,
um dann getaeuscht zu werden. Aber warum schwieg sie? Glaubte sie wirklich,
dass er nach diesem Fall eine Versoehnung zwischen ihnen herbeifuehren
koennte? Er hatte fest darauf gerechnet, dass sie einsehen wuerde, wie
unrecht sie ihm getan habe, und dass sie umkehren wuerde auf dem
gefaehrlichen Wege, den sie beschritten hatte. Sie unterwarf seine Liebe
einer harten Pruefung. War sie derselben so sicher, oder war sie ihr
gleichgueltig?

Sein verschlossenes, veraendertes Wesen fiel seinen Eltern auf, doch ohne
Arg, den wahren Grund nicht ahnend, schoben sie es auf sein angestrengtes
Arbeiten, das er auf ihre besorgten Fragen vorschuetzte. Sie waeren tief
betruebt gewesen, haetten sie gewusst, was zwischen dem Brautpaar vorgefallen
war. Leo hatte ihnen gelegentlich kurz erzaehlt, dass Ilse einige Zeit bei
ihrer Freundin zubrachte und bei seinen seltenen Besuchen im Elternhause
wusste er das Gespraech immer von seiner Braut abzulenken. Eines Tages
erklaerte er seinen Eltern, dass er sich einige Zeit Urlaub genommen habe,
da er fuehle, wie er der Erholung, der Auffrischung beduerfe. Deshalb habe
er vor, fuer einige Wochen mit einem Freunde nach Paris zu gehen, der dort
seine Studien fortsetzen wolle.

Herr und Frau Gontrau waren ueber den ploetzlichen Entschluss wohl etwas
verwundert, aber Herr Gontrau billigte ihn vollstaendig und fand es sehr
lobenswert, dass er Ilsens Abwesenheit zu dieser Reise benuetzte. Frau Annes
kluge und diplomatisch abgefasste Briefe an Gontraus liessen keinen Argwohn
in ihnen aufkommen. Sie bestellte ihnen Gruesse von Ilse, entschuldigte ihr
Schweigen auf die beste, glaubhafteste Art und vertroestete sie immer von
neuem auf einen baldigen Brief, dessen Ausbleiben sie dann wieder durch
alle moeglichen Ausfluechte erklaeren musste; Ilse hatte naemlich auf ihre
Anfrage, ob sie Leos Eltern, die so viel und oft nach ihr fragten, nicht
einmal schreiben wolle, geantwortet, dass ihr dies unmoeglich sei. Und Frau
Anne dachte, es waere am Ende auch besser, wenn sie nicht schriebe, denn
das Gezwungene, was ein Brief unter diesen Verhaeltnissen haben wuerde,
musste die Eltern Leos, denen sie stets eine kindliche Liebe entgegen
gebracht hatte, und die mit so grosser Zaertlichkeit an der Schwiegertochter
hingen, doch befremden.

Leo reiste fort, nachdem er sich zuvor noch von seinen Schwiegereltern
verabschiedet hatte. Seit jenem Abend war er nur selten bei ihnen gewesen.
Zwischen seinem Schwiegervater und ihm war eine Spannung entstanden, denn
Herr Macket konnte es ihm nicht verzeihen, dass er seinem Liebling nicht
nachgereist war und ihn wiedergeholt hatte. Frau Anne war es zwar
gelungen, ihren Mann davon zu ueberzeugen, dass Leo ueber Ilsens kuehnen
Streich nicht mit Leichtigkeit hinweg gehen koennte, aber die Sehnsucht
nach seinem Kinde packte ihn oft zu heftig und dann konnte er einen
heimlichen Groll gegen Leo nicht ganz unterdruecken, wenn er schliesslich
auch einsah, dass derselbe ungerecht war.

Leo hatte seit jener Nacht nicht wieder mit seiner Schwiegermutter ueber
Ilse gesprochen, und auch sie erwaehnte sie nicht. Frau Anne teilte Nellie
mit, dass Leo nach Paris gereist waere. "Was wird Ilse dazu sagen?" schrieb
sie. "Ich fuerchte, sie wird mit dieser Reise wenig einverstanden sein. Ich
aber halte eine Zerstreuung, eine Ausspannung fuer Leo notwendig, denn er
ist blass und ernst geworden, und ich lese in seinem Herzen, wie schwer der
Kummer auf ihm lastet. Wann wird dieser Zustand ein Ende nehmen? Ich hege
die besten Hoffnungen fuer Ilses Bekehrung, aber manchmal zage ich doch,
und dann denke ich voll Angst und Zweifel, wenn sie nun ihren Trotz nicht
bricht, was wird dann? Leo gibt diesmal nicht nach, das weiss ich, denn an
einem einmal gefassten Entschluss haelt er mit eiserner Beharrlichkeit fest.
Sollen die beiden jungen Menschen eines unglueckseligen Missverstaendnisses
wegen fuer ihr ganzes Leben ungluecklich werden? Es waere schrecklich, und
diese Strafe zu hart fuer Ilsens Unbeugsamkeit. Auf Sie, liebe Frau Doktor,
baue ich am meisten und ich glaube, dass es Ihnen am besten gelingen wird,
unser Kind auf den richtigen Weg zurueckzufuehren. Sie haben einen grossen
Einfluss auf Ilse, welche Sie schwaermerisch liebt, und darum hoffe ich
innig, dass Sie es vermoegen, ihren Trotz zu brechen. Ich leide sehr unter
den jetzigen Verhaeltnissen und mag das meinem Manne nicht zeigen, dem die
Trennung von Ilse ohnedies so schmerzlich ist. Darum komme ich zu ihnen,
kleine Frau, und schuette mein Herz aus und hole mir Trost bei Ihnen! Der
Himmel gebe, dass sich noch alles zum Besten wende!

                                                Ihre muetterliche Freundin
                                                    Anne Macket."

Und Nellie verstand es, Trost zu spenden. Sie schrieb Frau Anne umgehend
wieder, und in ihrer drolligen gemuetvollen Weise schilderte sie ihr die
Beobachtungen, welche sie bei Ilse anstellte.

"Es geht schon besser mit sie," hiess es in dem Briefe, "sie versinkt in
eine tiefe Nachdenken und tut Fragen an mir, bei denen ich in ihr Inneres
schaue. O, zagen Sie nicht, Ilschen liebt ihren Braeutigam noch, und wenn
man sie in Ruhe laesst, wird sie eines Tages eine Einsicht haben und seine
Verzeihung erbitten. Von der Reise nach Paris sage ich ihr nix, denn ich
glaube auch nicht, dass sie dieser Reise gern sieht!" - -

                                  * * *

Bei Flora war grosse Gesellschaft! Die Gaeste waren schon zum Teil
versammelt, als Althoffs mit Ilse eintraten. Sie wurden von Flora
stuermisch begruesst, und dann stellte sie Ilse vor, deren neue Erscheinung
mit Neugierde gemustert wurde. Eine Dame in mittleren Jahren in steifem
hartblauem Seidenkleid und grellrosa Rosen im Haar und vor der Brust, die
ihre nicht mehr jugendliche Gesichtsfarbe unvorteilhaft hervorhoben,
naeherte sich Ilse sofort und ueberhaeufte sie mit einer Menge Fragen, so dass
das junge Maedchen kaum zu Atem kommen konnte und nicht imstande war, sie
alle zu beantworten. Sie hatte auch gar keine Lust dazu, denn die
Neugierde dieser Dame war ihr zu unangenehm, und sie wunderte sich, dass
Nellie, welche daneben stand, oft statt ihrer in der liebenswuerdigsten
Weise die gewuenschte Auskunft gab, und als sie von der Dame fuer einen der
naechsten Nachmittage zum Kaffee eingeladen wurde, bereitwilligst zusagte.

"Da gehe ich aber nicht mit," dachte Ilse. Zu Nellie sagte sie spaeter
leise: "Wer ist denn eigentlich diese schreckliche Frau, die alles wissen
muss? Ich haette ihr an deiner Stelle keine ihrer neugierigen Fragen
beantwortet."

"O, waer ich ein dummes Ding," entgegnete Nellie mit schlauem Laecheln,
"denn diese Dame ist die Frau vom Direktor, hat viel Einfluss auf ihr Mann,
und wenn ich unfreundlich bin gegen ihr, muss arme Fred buessen. Ich mag ihr
auch nicht, aber ich bin klug."

"In ihren Kaffee brauchen wir aber doch nicht zu gehen, nicht wahr?"

"Natuerlich, _darling_, da muessen mir hin und uns fein brav benehmen,"
neckte Nellie die Freundin.

Ein junger Mann trat in diesem Augenblick zu den beiden und reichte Ilse
den Arm, um sie zu Tisch zu fuehren. Es war der Assistent von Floras Mann,
Doktor Andres, dessen liebenswuerdiges Benehmen und kluges, vornehmes
Gesicht Ilse schon vorhin bei der Vorstellung aufgefallen war.

Im altdeutschen Esszimmer stand die lange gedeckte Tafel, die Ilse
schnellen Blickes ueberflog. Zwei Lampen, deren schwaches Licht durch rosa
Lampenschirme noch mehr gedaempft wurde, standen zu beiden Enden des
Tisches. In der Mitte prangte ein phantastisch aufgeputzter Tafelaufsatz,
mit Blumen und Fruechten in wirrem Durcheinander gefuellt, der sein Haupt
bedenklich nach der einen Seite neigte. Das war Florchens Werk, man sah es
auf den ersten Blick. Jeder fand auf seinem Platz einen von Flora
verfassten Vers, in einem Blumenstraeusschen versteckt. Mit strahlenden Augen
erntete sie jedes Lob ein, das ihr ueber ihre dichterische Begabung
gespendet wurde; freilich die spoettischen Mienen dabei bemerkte sie nicht.
Ilses Verschen besang in ueberschwenglicher Weise die junge Braut. Sie las
den Zettel und legte ihn dann erroetend neben sich hin. Ihr gegenueber sass
Flora mit dem jungen Referendar, den sie damals getroffen hatte, als sie
ihren ersten Besuch bei Flora machte. Er hatte eben das zusammengefaltete
Papier aus seinem Blumenversteck hervorgezogen und las mit laechelnder
Miene den fuer ihn bestimmten Vers. Erwartungsvoll sah ihn Flora an und
liess sich dann mit vielem Behagen seine suesslichen Schmeicheleien gefallen.
Das war ein Scherzen und Lachen, Flora schien waehrend der ganzen Zeit bei
Tische nur Auge und Ohr fuer ihren Nachbar zu haben. Wie unvorteilhaft sah
die junge Frau heute wieder aus! Ueberladen mit Spitzen und Blumen war ihr
Anzug. Unwillkuerlich musste Ilse an Floras griechische Haarfrisur denken,
damals als sie in der Pension die erste Tanzstunde mit Herren hatten. Es
war doch zu komisch gewesen, wie sie da alle vor der Tuer standen und die
mutwillige Grete dem klassisch frisierten Haupt einen Stoss gab, dass es
gegen die Tuere flog. Ein vergnuegtes Laecheln huschte bei dieser Erinnerung
ueber Ilsens Gesicht.

"Sie scheinen an etwas sehr Angenehmes zu denken," unterbrach die Stimme
des jungen Arztes ihre Gedanken, waehrend er die jugendlich frische
Maedchengestalt im einfachen weissen Kleide mit Wohlgefallen betrachtete.

"Natuerlich, Herr Doktor," rief Flora ueber den Tisch herueber, "Fraeulein
Ilse denkt an etwas sehr Schoenes, an ihren Braeutigam naemlich." Und der
Referendar hob sein Glas in die Hoehe und hielt es ihr entgegen.

"Der Glueckliche soll leben," sagte er. Eine heisse Roete stieg in Ilses
Wangen, zoegernd nahm sie ihr Glas und stiess mit ihm an. Der helle Ton der
beiden Glaeser toente wie ein schriller Missklang in ihrem Ohre, und der
Blick, den ihr der junge Mann dabei zugeworfen hatte, war so
durchdringend, als suchte er in ihrer Seele zu lesen, was sie in diesem
Augenblick bewegte. Verlegen schlug sie die Augen nieder, aber selbst
durch die gesenkten Lider fuehlte sie seine brennenden Blicke auf sich
gerichtet.

"Gnaediges Fraeulein, darf auch ich mir erlauben, auf das Wohl Ihres Herrn
Braeutigams anzustossen?"

Wie liebenswuerdig klang diese Bitte ihres Nachbars! Ohne Scheu sah Ilse
auf und blickte in ein Paar ruhige ernste Augen, denen sie nicht
auszuweichen brauchte.

"Ich danke Ihnen," sagte sie leise und griff nach ihrem Glase.

Doktor Andres glaubte ihr nichts lieberes erweisen zu koennen, als wenn er
in dem Gespraechsthema fortfuhr; denn wovon konnte man eine Braut besser
unterhalten, als von ihrem Braeutigam? Er fragte, wie lange Ilse schon
verlobt waere, wann sie heiraten wuerde und was ihr Verlobter waere. Sie
haette ihm vielleicht unbefangener geantwortet, wenn sie die Augen ihres
Gegenueber nicht unablaessig auf sich ruhen gefuehlt, wenn sie nicht
empfunden haette, mit welcher Aufmerksamkeit jedes ihrer Worte drueben
belauscht wurde.

"Ich habe unter meinen Studiengenossen einen sehr lieben Freund," sagte
der Arzt zu Ilse, "der auch Jurist war und jetzt schon laengere Zeit
wohlbestallter Assessor ist. Vor ungefaehr zwei Jahren bekam ich seine
Verlobungsanzeige, und er kuendigte mir dabei mit wenigen Zeilen einen
ausfuehrlichen Brief an, der bald eintreffen sollte, aber bis heute noch
nicht erschienen ist. Die alten Beziehungen scheinen zu erkalten, wenn man
verliebt und verlobt ist, wahrscheinlich nehmen die Liebesbriefe zu viel
Zeit in Anspruch. Sie muessen das ja aus Erfahrung wissen, gnaediges
Fraeulein. Ich bin von Heidelberg, wo wir einige Semester zusammen
studierten, nach Berlin gegangen und seit einem halben Jahre bin ich hier
am Hospital Assistent des Doktor Gerber. - Mein Freund wird sich wundern,
wenn ich naechstens von hier aus einen Angriff auf ihn ausueben werde, denn
ich moechte gern mal wieder etwas von ihm hoeren. Vielleicht ist er schon in
den Hafen der Ehe eingelaufen und ein biederer, solider Ehemann geworden.
Ich kann ihn mir als solchen nicht vorstellen, er war ein urfideles Haus,
ein famoser Korpsbruder, der gute Gontrau."

Es war ein Glueck, dass er sich eben jetzt zur Seite wandte, weil ihm seine
Nachbarin eine Schuessel reichte, und dass er deshalb nicht bemerken konnte,
wie Ilse bei der Nennung dieses Namens zusammenfuhr und blass wurde. Und
wieder begegnete sie den forschenden Blicken des Referendars, der wie auf
der Lauer zu sitzen schien und dem, trotz der lebhaften Unterhaltung mit
Flora, nichts von dem Gespraech des ihm gegenuebersitzenden Paares entging.
Ilses Zusammenschrecken bei dem bewussten Namen interessierte ihn
augenscheinlich aufs hoechste. Was fuer eine Bewandtnis mochte es damit
haben? Ploetzlich ueberflog ein triumphierendes Laecheln seine Zuege, er
beugte sich zu Flora hinueber und fragte sie, wie der Braeutigam von
Fraeulein Macket hiesse. Trotzdem er leise gesprochen hatte, hoerte Ilse doch
seine Frage, und voller Angst, dass ihr Nachbar Floras Antwort vernehmen
koennte, richtete sie schnell einige gleichgueltige Worte an ihn.
Erleichtert atmete sie auf, als gleich darauf die Tafel aufgehoben wurde
und der junge Doktor sie in das andre Zimmer fuehrte. Sie haette so gerne
Nellie gesprochen, aber die Freundin hatte ihr mit einem innigen
Haendedruck freundlichst zugenickt und sass jetzt neben einer alten Dame,
mit der sie sich eifrig unterhielt. So musste sie sich denn bis spaeter
gedulden und kam der Aufforderung eines jungen Maedchens, neben ihr Platz
zu nehmen, gerne nach. Die Herren hatten sich zum Teil in das Rauchzimmer
zurueckgezogen, und Flora huepfte von einem zum andern. Sie wollte durchaus
die liebenswuerdige Wirtin spielen, was ihr aber schlecht gelang, denn
durch ihr fahriges Wesen versetzte sie ihre Gaeste mit in Unruhe.

"Sie muessen uns etwas vorsingen," wandte sie sich jetzt an das junge
Maedchen neben Ilse, die jedoch gegen diese Zumutung eifrig Einsprache
erhob, da sie ganz heiser waere und so lange nicht gesungen haette. Mit
diesen ueblichen Ausreden suchte sie sich frei zu machen, aber Flora liess
nicht locker.

"Sie muessen, Liebste," entschied sie schliesslich kurzweg und ging in ein
kleines Nebengemach, wo ein Klavier stand, das sie oeffnete. Nachdem sie
noch die Lichter angezuendet und aus einem Schrank einen Stoss Noten
hervorgeholt hatte, den sie auf das Instrument warf, kam sie zurueck und
zog die junge Dame, die ihr wie ein Opferlamm folgte, mit sich fort. Eine
geraume Zeit stoeberten die beiden in den ungeordneten Noten herum, und als
sie endlich etwas Passendes gefunden hatten, ertoente ein lauter Akkord,
der energisch um Ruhe zu bitten schien. Die Unterhaltung im Damenzimmer
verstummte denn auch sofort, und die Herren in Doktor Gerbers Zimmer
daempften ihre Stimmen. Einen Genuss konnte man die nun folgende
musikalische Auffuehrung nicht nennen, denn die gaenzlich ungeschulte Stimme
war nur duenn und klein, und der ebenso mangelhafte Vortrag konnte dafuer
nicht entschaedigen. Man brauchte ja nur das junge Maedchen mit der
schlechten Haltung und der eingefallenen Brust anzusehen, aus der
unmoeglich ein freier Ton hervorquellen konnte. Die Damen hatten ihre
Plaetze verlassen und sich in dem Musikzimmer im Halbkreis dicht hinter der
Saengerin gruppiert, was dieselbe vollends befangen machte und aus der
Fassung brachte. Sie kam denn auch mehrere Male aus dem Takt, und es
erklangen infolgedessen solche Disharmonien, dass einige der Zuhoererinnen
das Taschentuch vor den Mund nahmen, um ihre Heiterkeit zu verbergen. Ilse
fand den Gesang abscheulich, und da sie sich dabei langweilte, schlich sie
sich leise von der offenen Tuere, in welcher sie gestanden hatte, fort und
trat an ein kleines Tischchen, das neben dem Blumentisch stand und mit
Buechern und Bildern bedeckt war. Dorthin setzte sie sich und blaetterte
mechanisch in den Buechern.

Es war ihr sehr erwuenscht, jetzt nicht sprechen zu muessen, denn der
Gedanke, dass der junge Mediziner ein Freund Leos war, beschaeftigte sie
unaufhoerlich. Sie entsann sich jetzt auch, von Leo den Namen Andres oefter
gehoert zu haben. Gerne haette sie sich bei Tisch noch von ihm erzaehlen
lassen, ihn nach manchem gefragt, aber der scharfe Beobachter gegenueber
laehmte ihre Zunge. Der Gesang hatte jetzt auch teilweise die Herren
herangelockt, nur Floras Mann liess sich in seinem lebhaften Gespraech mit
einem Kollegen nicht stoeren, und er musste es sich daher gefallen lassen,
dass seine Frau ihn zur Ruhe verwies.

"Dieses ewige Fachsimpeln von dir ist schrecklich," sagte sie halblaut und
scheinbar im Scherz. "Du solltest doch auch fuer hoehere Genuesse zugaenglich
sein, lieber Ernst."

"Du weisst, Kind," antwortete er freundlich, "ich bin nun einmal ein
Musikbarbar. Weil ich absolut nichts davon verstehe, habe ich auch kein
Interesse dafuer."

"Ja, leider," sagte Flora, ihm verdriesslich den Ruecken wendend, und ging
wieder in das andre Zimmer.

"Es ist traurig," sagte sie mit einem vielsagenden Blick zu Herrn Lueders,
"wenn alle Poesie, alles Hoehere in dem Materiellen und Nuechternen
untergeht. Mein Mann hat fuer nichts weiter Sinn als fuer seine Kranken."

Der Referendar gab ihr eine zerstreute Antwort, er hatte jetzt Wichtigeres
zu sehen und zu hoeren, als Flora mit ihrem Klagelied. Scheinbar ganz in
die Musik vertieft, sass er auf einem Sessel und hatte den Kopf in die Hand
gestuetzt, als wollte er sich von nichts ablenken lassen, was ihm den
koestlichen Genuss stoeren koennte. Durch seine Finger aber sah er unverwandt
nach dem kleinen Tisch hinueber, wo Ilse sich eingehend mit Doktor Andres
unterhielt, der sich eben zu ihr gesetzt hatte. Ilse war heimlich darueber
erfreut gewesen, denn nun bot sich vielleicht die Gelegenheit, ihn
nochmals nach Leo zu fragen, und sie sann darueber nach, wie sie das
Gespraech auf ihn bringen koennte, ohne dass er es auffaellig faende.

"Sie lieben wohl die Musik nicht, gnaediges Fraeulein?" richtete der junge
Mann das Wort an sie. "Ich vermute dies wenigstens, weil diese Buecher Sie
viel mehr zu interessieren scheinen, als der Gesang."

"O doch," erwiderte Ilse schnell, "aber offen gestanden, diese Stimme und
der Vortrag sind doch zu schlecht, finden Sie nicht auch?"

Er nickte lachend.

"Uebrigens ist mein Urteil gaenzlich unzulaenglich," meinte er dann, "denn
ich habe es nur bis zu den Kneipliedern gebracht und selbst diese sang ich
falsch; ich habe deswegen auch von meinen Heidelberger Freunden manchen
Spott ertragen muessen."

                              [Illustration]

Ilse bebte vor innerer Erregung; jetzt konnte sie ihn wohl nach Leo
fragen, ohne dass er Argwohn schoepfen wuerde.

"In Heidelberg ist es wohl sehr schoen?" fragte sie unbefangen.

"O," rief er entzueckt, "wenn es ein paradiesisches Stueck Erde gibt, so ist
es Heidelberg. Sie muessen es sehen und kennen lernen und werden mir recht
geben. Wenn ich mich mal verheiraten sollte, dann wuerde ich meine
Hochzeitsreise entschieden nach Heidelberg machen."

"Diesen guten Rat koennen Sie ja ihrem Freunde geben," unterbrach ihn jetzt
Ilse, "von welchem Sie mir vorhin erzaehlt haben, der verlobt ist und dem
Sie naechstens schreiben wollen. Wie hiess er doch, Gontring? Verzeihen Sie,
ich habe den Namen wieder vergessen."

"Gontrau," verbesserte er.

"Richtig, Gontrau," wiederholte sie leise und schlug die Augen nieder,
damit diese ihm nicht verrieten, welche Heuchlerin sie in diesem
Augenblick war.

"Gontrau und ich," fuhr der Doktor fort, dem man die Freude an diesem
Gespraech auf dem Gesichte las, "haben eine herrliche Studienzeit in
Heidelberg verlebt. Er war ein ausgelassener lustiger Mensch; wie viel
tolle Streiche haben wir zusammen ausgefuehrt! Gontrau ist ein huebscher
Kerl, und die Heidelberger Schoenen waren nicht blind dagegen, sondern
machten ihm foermlich den Hof."

"Ach?" fragte Ilse etwas zoegernd. Diese Eroeffnungen waren ihr ja hoechst
interessant! Bisher war sie nie auf den Gedanken gekommen, dass auch andre
Maedchen sich in Leo verliebt haben koennten und umgekehrt.

"Hat Ihr Freund den jungen Damen auch die Kur geschnitten?" forschte sie
weiter.

"Nun natuerlich," antwortete er mit Lachen, "ein flotter schneidiger
Student wird doch fuer die Huldigungen der Damenwelt nicht unempfindlich
bleiben, noch dazu in Heidelberg, wo es so reizende Maedchen gab, als wir
dort studierten. Gontrau stellte uns immer in den Schatten, bei Baellen,
Partien, Schlittenfahrten, ueberall war er die Hauptperson. Den einen
Winter hatte er sich sterblich in eine junge Amerikanerin verliebt, welche
die Freundin einer Professorentochter und bei dieser zum Besuch war."

Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit hoerte Ilse zu, und als er schwieg,
fragte sie schnell:

"Sagen Sie mir, bitte, wirklich richtig verliebt war Ihr Freund in das
junge Maedchen?"

So eindringlich war diese Frage, und in ihrer Stimme klang ein leises
Beben, dass der junge Mann sie verwundert anblickte.

Sie merkte es und bezwang sich, wieder ruhig zu erscheinen.

"Bitte, sagen Sie," wiederholte sie moeglichst unbefangen, aber mit schwer
unterdrueckter Neugierde, denn es brannte ihr auf der Seele, das weitere zu
wissen.

"Ja, wirklich richtig verliebt war er." Doktor Andres gebrauchte Ilses
eigene Worte und sprach sie mit Betonung aus, innerlich belustigt ueber
ihre kindliche Frage. "Er hat ihr die schoensten Blumen geschickt, und wir
hatten ihn sogar in Verdacht, dass er ihr Gedichte gemacht hat."

Gewiss sind das dieselben, die er mir nachher geschickt hat, dachte Ilse,
und ein Gefuehl eifersuechtiger Abneigung gegen diese Nebenbuhlerin stieg in
ihr auf. - Leo hatte dieselbe nie erwaehnt, - warum nicht? Ob sie wohl
huebsch war?

"Wie sah denn das junge Maedchen aus?" fragte sie laut. "War sie schoen,
blond oder dunkel, gross oder klein? Bitte, bitte, beschreiben Sie mir
dieselbe!"

Wieder musste der junge Arzt laecheln, denn Ilses Neugierde kam ihm so echt
weiblich vor; er konnte ja nicht wissen, dass hinter dieser 'weiblichen
Neugierde' ein berechtigtes tiefes Interesse versteckt war.

"Sie fragen aber gruendlich," sagte er lachend. "Man merkt, dass Sie eine
Juristenbraut sind. Hier haben Sie die Personalbeschreibung der jungen
Dame, also: sie war mittelgross, zierlich und grazioes. Sie hatte dunkle
Haare und wundervolle schwarze, wahrhaft phaenomenale Augen -"

"Also wirklich schoen," unterbrach ihn Ilse.

"Ja, auffallend liebreizend, dabei klug, aber etwas kokett. Sie war sich
zu genau bewusst, wie verfuehrerisch sie war."

"Ihr Freund lag ihr natuerlich zu Fuessen?"

"Wenn Sie das woertlich meinen, gnaediges Fraeulein, so habe ich Gontrau in
dieser Situation allerdings niemals gesehen; aber es ist wohl moeglich,
denn er war ein feuriger Anbeter."

Haette der junge Mann nur eine Ahnung gehabt, welchen Sturm seine Worte in
dem Herzen seiner Nachbarin hervorriefen, er haette gewiss geschwiegen. Aber
es plauderte sich zu angenehm ueber alte Erinnerungen, besonders da Ilse
eine so eifrige Zuhoererin war. -

"Liebte denn das junge Maedchen Ihren Freund auch?" fragte sie weiter.

"O, natuerlich! Der begeisterte Verehrer gefiel ihr sehr gut, das haben ihm
ihre schwarzen Augen oft genug verraten. Es wuerde mich nicht gewundert
haben, wenn sie sich verlobt haetten, aber die Amerikanerin reiste dann
wieder fort, und 'aus den Augen, aus dem Sinn'. Er hat sie jetzt gewiss
laengst vergessen, diese seine Studentenliebe. Dass seine Zuneigung keine
ernstliche war, beweist ja schon seine Verlobung mit einer andern."

Ilse war aufgestanden, denn sie konnte ihre immer wachsende Aufregung
nicht mehr verbergen.

"Mir ist es auch unbegreiflich, dass sich Ihr Freund nicht mit jener Dame
verlobt hat," sagte sie mit blitzenden Augen. "Wie konnte er es wagen,
sich mit einer andern zu verloben? Das ist doch merkwuerdig, das ist
unrecht! Er haette seiner ersten Liebe treu bleiben muessen; warum hat er es
auch nicht getan? Gewiss ist er doch jetzt recht, recht ungluecklich
geworden?"

Ihre Stimme erstickte unter hervorbrechenden Traenen, und sie stuetzte
zitternd die Hand auf den Tisch.

Doktor Andres sprang nun ebenfalls in hoechster Bestuerzung auf.

"Aber, mein Fraeulein," rief er ganz ratlos und erschrocken, "was ist denn
geschehen? Ich verstehe Sie nicht, erklaeren Sie mir doch Ihre Aufregung!
Habe ich Sie beleidigt? Ich bitte Sie, so sprechen Sie doch," draengte er,
als Ilse ihm keine Antwort gab und noch immer mit den Traenen kaempfte. Sie
antwortete nicht.

"Habe ich Sie denn beleidigt?" fragte er nochmals mit verzweifelter Miene,
ohne jede Ahnung, was er angestiftet hatte.

Sie schuettelte schweigend den Kopf.

"Kennen Sie denn das junge Maedchen, oder vielleicht meinen Freund
Gontrau?" fragte er endlich, denn er hatte sich ueberlegt, dass zwischen ihr
und einer dieser Personen doch irgend eine Beziehung sein muesste.

Von seinem Platze aus hatte der Referendar das Gespraech der beiden
belauscht, nichts war ihm davon entgangen, und er benutzte diesen
Augenblick, um naeher zu treten.

"Dachte ich es mir doch, als ich Sie mit dem gnaedigen Fraeulein so eifrig
im Gespraeche sah, dass von Assessor Gontrau, dem gluecklichen Braeutigam des
Fraeuleins, die Rede sein wuerde," sagte er scheinbar harmlos und
unbefangen, aber ein haessliches Laecheln umspielte seinen Mund.

Ilse war bei seinen Worten jaeh erblasst, und eine namenlose Verlegenheit
bemaechtigte sich ihrer. Mit unverhohlener Verachtung sah sie Lueders an;
als sie aber seinen triumphierenden Blicken begegnete, wandte sie sich
erschrocken ab. Was wollte er von ihr? Sie kannte ihn ja kaum und er sie
auch nicht. Warum sah er sie so sonderbar an? O Gott, wenn er ihre
Unterhaltung mit dem Doktor gehoert hatte! Und was sollte sie jetzt zu
diesem sagen, wie sich entschuldigen? In ihrer peinlichen Verlegenheit
wagte sie nicht aufzublicken, denn sie fuehlte, dass ihr die Schamroete heiss
in die Wangen gestiegen war. Sie betrachtete es als ein Glueck, dass Flora
jetzt dazu kam und sie aus ihrer Pein erloeste.

Die junge Frau suchte den Referendar. Die Saengerin schien jetzt kein Ende
finden zu koennen, nachdem sie nach so langem Straeuben einmal den Anfang
gemacht hatte. Fuer jedes Lied erntete sie viel Beifall und dieser
begeisterte sie zu immer neuen Vortraegen. Nun wollte sie gern die
Trompeterlieder von Riedel singen, welche sie sich aber nicht selbst
begleiten konnte. Herr Lueders sollte deshalb die Begleitung uebernehmen. Er
war damit durchaus nicht einverstanden, denn es war ihm viel interessanter
zu erfahren, wie Ilse sich aus der Affaere ziehen, was sie zur Aufklaerung
sagen wuerde. Dass zwischen ihr und ihrem Braeutigam etwas vorgefallen war,
unterlag fuer ihn keinem Zweifel mehr, und zu gern haette er des Raetsels
Loesung, die ihm jetzt sehr nahe zu sein schien, vernommen.

Mit Ausreden und Ausfluechten suchte er daher Floras Aufforderung zu
entkommen. Er koenne nicht begleiten, gab er vor, er spiele zu stuemperhaft
und sei besonders heute nicht zum Spielen aufgelegt. Aber Flora liess sich
nicht zurueckweisen.

"Sie Heuchler!" rief sie und schlug ihm kokett auf die Schulter, "nur
Schmeicheleien wollen Sie hoeren, warten Sie nur! Zur Strafe muessen Sie uns
nachher noch etwas deklamieren, wissen Sie, das kleine Gedicht von mir,
das so unverdiente Gnade vor Ihren Augen gefunden hat. Kommen Sie,
Boesewicht!"

Sie legte ihren Arm in den seinigen, und widerstrebend ging er mit, im
Innern wuetend auf Floras Dazwischenkommen.

Die beiden jungen Leute hatten wenig auf Floras Geschwaetz geachtet. Ilse
stand noch immer stumm und wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Sie
ueberlegte fortwaehrend, was sie Andres sagen solle; musste er sich denn
nicht mit vollem Recht ueber ihr Schweigen wundern? Sollte sie ihm die
Wahrheit gestehen? Nein, das ging nicht, sie muesste sich unsagbar vor ihm
schaemen. Sie wusste keinen Rat und hatte nur den einen Wunsch, aus dieser
so peinvollen Lage befreit zu werden. Wenn nur Nellie kaeme! Sass sie denn
noch immer nebenan im Musikzimmer?

Suchend schweiften ihre Blicke umher.

"Suchen Sie jemand, gnaediges Fraeulein?" fragte Andres, "soll ich Ihre
Freundin rufen?"

Sie schuettelte den Kopf.

"Nein, bitte bleiben Sie," bat sie fast flehend.

Ihm war die Lage, in der er sich befand, gleichfalls hoechst unangenehm,
und er haette derselben gern ein Ende gemacht. Aber durfte er fortgehen, da
sie ihn so flehentlich bat, zu bleiben? Dass sein Freund Gontrau wirklich
der Braeutigam der jungen Dame war, daran konnte er nach Ilses Erschrecken
nicht zweifeln. Haette sie auch sonst dem Referendar nicht widersprochen,
oder, wenn ein Irrtum vorlag, denselben aufgeklaert? Warum hatte sie ihm
verschwiegen, dass sie die Braut Gontraus war, was sollte das bedeuten? Die
ihm eigene wahre Herzensbildung sagte ihm aber, dass er sie nicht fragen
duerfe, ohne sie peinlich, ja vielleicht schmerzlich zu beruehren.

So standen denn die beiden wieder eine Weile schweigend nebeneinander.
Ilse spielte mit dem Blatt einer Faecherpalme und Andres betrachtete eine
Photographie, welche auf dem Tische stand.

Im Nebenzimmer sang das junge Maedchen in den schmelzendsten Toenen und mit
einer fast ans Weinen grenzenden Ruehrung die Klage Margarethas: "O Lieb',
wie bist du bitter, o Lieb', wie bist du suess!"

So wenig Ilse sonst zu sentimentalen Anwandlungen geneigt war, heute
fanden diese Worte ein Echo in ihrem Herzen. Ja, suess war auch ihr die
Liebe erschienen, aber musste sie nicht jetzt die Bitterkeit kosten? Wenn
sie die Menschen fuer eine glueckliche Braut hielten, war es nicht eine
Luege, dass sie es mit laechelndem Gesichte zu bestaetigen schien? Musste sie
nicht sagen: "Ihr taeuscht euch, ich bin nicht gluecklich, ich bin
ungluecklich, tief ungluecklich?" War denn wirklich der Grund ihres
Zerwuerfnisses mit Leo wichtig genug, um solche Folgen zu haben, dass sie
nun Komoedie spielen musste, was sie in die aergsten Verlegenheiten brachte,
ihr die groesste Pein bereitete? "Ach, waere es doch nicht so weit gekommen,
haette ich mich nicht zu der unglueckseligen Flucht hinreissen lassen!" So
dachte sie jetzt in ihrem Innern und seufzte schmerzlich auf.

Die schweigsame Nachbarin wurde dem Doktor auf die Dauer ungemuetlich, und
als er ihren Seufzer vernahm, ergriff er die Gelegenheit und fragte, ob er
sie vielleicht zu den andern Damen fuehren solle.

Sie nickte zustimmend und legte ihre Hand in seinen Arm, doch nach dem
ersten Schritt blieb sie schon wieder stehen. Was sollte er von ihr
denken, wenn sie ihm nach ihrem vorausgegangenen Betragen kein erklaerendes
Wort sagte? Er wuerde sie mindestens fuer recht albern halten. Sie fuehlte,
dass seine Blicke fragend auf ihr ruhten. Ja, sie musste ihr raetselhaftes
Benehmen entschuldigen.

Sie sah zu ihm empor und blickte in seine Augen, die ernst und
teilnahmvoll auf sie gerichtet waren und eine edle Seele, ein feines
Zartgefuehl verrieten. Sie haette sehr bedauert, von dem ihr so
sympathischen jungen Manne falsch beurteilt zu werden, was sie nach diesem
Zwischenfall ja gar nicht anders erwarten konnte. Und darum wollte sie
sprechen, so schwer es ihr auch fiel. "Bitte, Herr Doktor," sagte sie
leise, "wir wollen uns noch einen Augenblick setzen, ich muss Ihnen etwas
sagen."

Er erfuellte ihre Bitte und sah sie voller Erwartung an. Eine kleine Pause
entstand, denn Ilse konnte sich nicht entschliessen, Leos Namen ueber die
Lippen zu bringen, den sie in der letzten Zeit gar nicht mehr
ausgesprochen hatte, den sie wie ein Geheimnis tief verborgen im Herzen
trug. "Sie halten mich gewiss fuer recht kindisch," begann sie endlich, "und
wissen nicht, was Sie von mir denken sollen. Ja, es ist wahr, Assessor
Gontrau ist mein Braeutigam. Es war nur ein Scherz von mir, wenn ich Ihnen
das nicht gleich sagte. Ich wollte gern Ihre Ueberraschung sehen, wenn Sie
es dann von mir erfuhren, und da - da aergerte ich mich so, dass Herr Lueders
mir den Spass verdarb."

Der Augenblick hatte Ilse diese Ausrede eingegeben, und sie wunderte sich
jetzt selbst, wo sie den Mut hergenommen hatte, dieselbe auszusprechen.
Hinterher schaemte sie sich ihrer Luege und blickte verlegen vor sich
nieder. Sie hatte gegen ihre Natur gehandelt, denn Offenheit war eine
grosse Tugend von ihr. Daher kam sie sich veraechtlich vor und schwankte, ob
sie dem Doktor nicht die Wahrheit eingestehen solle, denn er hatte sie
doch sicher ohnedies schon durchschaut. Aber als sie in sein Gesicht
blickte, in dem sie keinerlei Zweifel ueber ihre Worte entdeckte, als sie
in seine unbefangenen Augen sah, die jetzt mit einem freudigen Ausdruck
auf sie gerichtet waren, da schwieg sie doch. Herzlich streckte er ihr die
Hand entgegen und rief vergnuegt:

"Wie freue ich mich, die Braut meines lieben Gontrau kennen gelernt zu
haben! Von Herzen wuensche ich Ihnen zu solchem Manne alles Glueck. Aber
bitte, Fraeulein, nun erzaehlen Sie mir von ihm. Wie geht es ihm, was tut
und treibt er? Sobald ich Zeit habe, werde ich ihm schreiben."

Andres glaubte wirklich an Ilses Erzaehlung, und dass ihre Aufregung nur aus
dem Aerger ueber den verdorbenen Scherz entstanden war. Deshalb plauderte er
mit aller Unbefangenheit weiter und merkte nicht wie peinlich die junge
Braut die Fragen nach ihrem Verlobten beruehrten. Sie sass wie auf Kohlen
und antwortete, so geschickt sie konnte. Aber auf die Dauer wurde es ihr
aeusserst schwer, die Diplomatin zu spielen, zu der sie nicht geboren war.
Sie wurde immer verwirrter, gab zerstreute Antworten, und als der Doktor
sie fragte, ob sie und Leo sich taeglich schrieben, und bat, sie moechte ihn
in ihrem naechsten Briefe von ihm gruessen, da brachte sie es nicht mehr ueber
das Herz, sich noch weiter zu verstellen.

"Ich - ich," stammelte sie, "schreibe meinem Braeutigam nicht und kann ihn
deshalb auch nicht von Ihnen gruessen."

Er glaubte, sie scherze und fragte lachend, ob sie ihm denn ueberhaupt
niemals schriebe.

Nun war es mit ihrer Fassung ganz zu Ende.

"Nein," wiederholte sie erregt, "ueberhaupt nicht! Ach, ich bitte,
schweigen Sie, ich kann Ihnen jetzt nicht erklaeren, jetzt nicht sagen -"

Sie brach ab, denn zum ersten Male schaemte sie sich ihres Zerwuerfnisses
mit Leo aus tiefstem Herzensgrunde; es kam ihr unwuerdig vor, und in dieser
Stimmung wusste sie nichts andres zu tun, als ihr Taschentuch
herauszunehmen und wie ein Kind zu weinen.

Erschrocken und erstaunt ueber dieses neue Raetsel, das ihm seine Nachbarin
aufgab, war Andres aufgesprungen, und er empfand es wie eine
Erleichterung, als in diesem Augenblick Nellie hereintrat, welche die
Freundin holen wollte, da ein allgemeiner Aufbruch stattfand. Sie war
nicht wenig ueberrascht, Ilse in dieser Verfassung vorzufinden. Fragend
blickte sie auf den jungen Arzt, der ihr mit einem Achselzucken
antwortete, als wollte er sagen: "ich weiss auch nicht, was dieses bedeuten
soll." Er entfernte sich hierauf rasch und die beiden Freundinnen waren
allein.

"Um Gottes willen, Ilschen," fluesterte Nellie, "fasse dich, die Leute
duerfen dir so nicht sehen. Was hast du, was ist geschehen?"

"Ach Nellie, ich habe mich furchtbar blamiert," schluchzte Ilse, "lass mich
jetzt, ich erzaehle dir alles, wenn wir zu Hause sind."

"Tu der dumme Tuch ins Tasch; die andern kommen, was sollen sie von dich
denken? Sieh nur, wie der Referendar dir prueft."

"Der unverschaemte Mensch," fuhr Ilse auf, "was faellt ihm ein? Er fixiert
mich fortwaehrend, schon bei Tische hat er kein Auge von mir verwandt, der
freche Bursche!"

"Still, Ilschen, nicht so laut," mahnte Nellie die Aufgeregte, "er hoert
ja, was du sagst."

"Und wenn er es hoert," sagte Ilse absichtlich laut, mit einem drohenden
Blick auf Lueders, "er soll es hoeren, ich wuerde es ihm auch ins Gesicht
sagen."

Nellie hielt ihr den Mund zu. Sie war ueber Ilses Heftigkeit nicht sehr
verwundert, kannte sie dieselbe doch hinlaenglich und wusste, dass sie ebenso
entschieden in ihren Abneigungen, wie in ihren Zuneigungen war.

Die uebrige Gesellschaft umstand im Kreis die Wirte und nahm mit vielen
Komplimenten Abschied.

"Nimm dir zusammen, wir muessen gehen," sagte Nellie leise zu Ilse.

"Na, was habt ihr beide denn wieder zu tuscheln?" fragte Althoff, der
jetzt zu ihnen trat. "Kommt, Kinder, alle machen einen schoenen Knix, jetzt
ist die Reihe an uns. Ilse, Sie sehen ja so elegisch aus, was ist Ihnen
denn? Hat Florchen Ihnen etwa ihre Gedichte zu lesen gegeben und sind Sie
davon so geruehrt geworden?"

Ilse lachte gezwungen zu diesem Scherz, denn ihr war nichts weniger als
laecherlich zu Mute, fuehlte sie sich doch beschaemt und unzufrieden, dass sie
sich soweit hatte hinreissen lassen, kurz und gut, sie wurde von den
selbstquaelerischsten Gedanken heimgesucht und dadurch in hoechst
unbehagliche Laune versetzt.

Auf dem Heimweg, den man gemeinschaftlich antrat, haette sie zu gern den
jungen Arzt noch gesprochen, denn ihr Benehmen ihm gegenueber lag ihr
bleischwer auf der Seele.

Einer nach dem andern trennte sich von der Gesellschaft. Zuletzt hatten
Althoffs nur noch Andres und den Ilse so verhassten Referendar, welche
beide in ihrer Naehe wohnten, zu Begleitern.

"Wenn dieser Mensch doch nicht mitginge," dachte Ilse; er machte es ihr
unmoeglich, mit Andres noch ein Wort zu sprechen, denn er wich nicht von
dessen Seite.

Als sie vorm Hause angelangt waren, kam ihr noch eine guenstige Gelegenheit
zu Hilfe, ihr Herz zu erleichtern.

Althoff richtete eine eingehende juristische Frage an Lueders, und Nellie,
am Arm ihres Mannes, hoerte dem Gespraeche zu. Diesen Augenblick benutzte
Ilse, sich dem jungen Arzt zu naehern und ihm hastig zuzufluestern:
"Verzeihen Sie mir mein dummes Betragen von heute abend. Nicht wahr, Sie
halten mich fuer recht kindisch?"

"Aber mein Fraeulein!" rief er etwas verlegen ueber dieses offene
Bekenntnis. "Warum sollte ich Ihnen boese sein? Ich -"

"Still!" unterbrach sie ihn, und ihre Augen blickten scheu zur Seite, denn
die Unterhaltung zwischen den beiden Herren war beendet.

"Gute Nacht!" sagte Ilse und reichte Andres freundlich die Hand, waehrend
sie Lueders eine foermliche Verbeugung machte, ohne seine ihr
entgegengestreckte Hand zu beachten; sie haette sich nicht entschliessen
koennen, sie zu beruehren, einen solchen Widerwillen floesste ihr dieser
Mensch ein.

Noch lange sass sie in ihrem Stuebchen und dachte nicht daran, sich
auszuziehen. Die Vorgaenge des Abends erregten sie noch zu sehr, als dass
sie haette schlafen koennen, wenn sie sich auch zur Ruhe gelegt haben wuerde.
Von Nellie hatte sie sich schnell getrennt, ohne ihr eine weitere
Aufklaerung zu geben. Heute konnte und wollte sie nicht mehr von der
Geschichte sprechen. Desto mehr beschaeftigte dieselbe ihre Gedanken. Sie
konnte sich nicht beruhigen, dass sie sich so dumm benommen hatte.

Wenn der Doktor nur nicht von den Liebesgeschichten angefangen haette, die
ihr doch unmoeglich gleichgueltig sein konnten. Sie hatte niemals darueber
nachgedacht, ob Leo wohl schon eine andere Neigung gehabt haben mochte,
bevor er sich in sie verliebte. Und nun erfuhr sie zufaellig, dass er ein
flotter Kurmacher gewesen war und dass ihn die jungen Maedchen sehr
umschwaermt hatten. Zum zweiten Male ertappte sie sich heute abend auf
einem eifersuechtigen Gefuehle, das ihr bis dahin voellig unbekannt gewesen;
auf der andern Seite aber beruehrte sie es doch nicht unangenehm, dass Leo
so begehrenswert erschien. Nur die schoene Amerikanerin wollte ihr nicht
aus dem Sinn. Wieder stieg die Frage in ihr auf: warum hat er dir nie
etwas davon erzaehlt? Warum hat er diese Bekanntschaft verschwiegen? Gewiss
ist ihm die Erinnerung an das schoene Maedchen schmerzlich, die wohl so viel
schoener und klueger war, als du.

Unwillkuerlich trat Ilse vor den Spiegel und betrachtete sich eingehend. Es
war ihr nie eingefallen, daran zu denken, ob sie wohl fuer Leo huebsch genug
waere; nie hatte sie Wert darauf gelegt, sich fuer ihn besonders zu
schmuecken, wie das andre Braeute fuer den Braeutigam tun. Aber heute pruefte
sie ihr Gesicht Zug fuer Zug, und verglich sich im geheimen mit der
reizenden Amerikanerin, deren Bild ihre Phantasie ihr so lebhaft
vorfuehrte, als haette sie dieselbe schon in Wirklichkeit gesehen. Sie fand
sich grundhaesslich gegen ihre Phantasiegebilde, welches sie mit einem
ueberlegenen Laecheln anzublicken schien. Sicher hatte Leo eine Photographie
seiner Angebeteten, die er immer bei sich trug, womoeglich auf dem Herzen.
Die Augen, so hatte Doktor Andres gesagt, waeren geradezu 'phaenomenal'
gewesen. Wieder verglich sie im Spiegel die ihrigen damit, und wieder fiel
der Vergleich zur groessten Unzufriedenheit aus.

Ein leises Klopfen an der Tuer hatte Ilse in der eifrigen Betrachtung ihres
Spiegelbildes ganz ueberhoert. Nellies Stimme liess sie zusammenfahren.

                              [Illustration]

"Warum siehst du dich denn so in den Spiegel, _darling_, mit so boese
Augen, dass ich mir fuerchten muss?"

Ilse war betroffen zurueckgetreten in groesster Verlegenheit, die aber von
Nellie nicht bemerkt wurde, weil sie an ganz etwas anderes dachte.

"Es ist gut, dass du nicht schon schlaefst und ich dein suesses Schlummer
stoeren muss," sagte sie, "denn Ilschen, ich habe eine grosse Neuigkeit, die
ich nicht bis morgen frueh bei mich behalten konnte, ohne dass du ihr weisst.
Lies hier dieses Brief!"

Ilse zitterte. "Eine grosse Neuigkeit," so sagte Nellie und brachte einen
Brief. Von wem war er, was fuer eine Neuigkeit mochte er enthalten? Dann
schalt sie sich toericht, dass sie bei der geringsten Gelegenheit an Leo
dachte, als ob jede Neuigkeit von ihm handeln, jeder Brief von ihm kommen
muesste. Er dachte gewiss nicht daran, ihr zu schreiben, ja vielleicht hatte
er sie schon vergessen. Bei diesem tragischen Gedanken fuehlte sich Ilse so
weich werden, dass sie sich abwandte, damit Nellie ihr Gesicht nicht saehe.

Diese hatte inzwischen den Brief aus dem Kuvert genommen und entfaltet.

"Du ratst nicht, von wem er kommt, _darling_. Denke dich nur, er ist von
unsre Orla!"

"Von Orla?" fragte Ilse erstaunt.

"Ja, von ihr. Aber hier lies."

Sie reichte ihr mit diesen Worten die eng beschriebenen Blaetter mit den
energischen, fast maennlichen Schriftzuegen.

"Lies laut vor," bat Nellie, "ich habe ihn so in der Flucht gelesen, weil
neugieriges Fred ihn haben wollte."

Ilse las wie folgt:






Liebste Nellie!

Ich sehe im Geiste dein erstauntes Gesicht beim Empfang dieser Epistel,
denn leider ist unser brieflicher Verkehr seit deiner Verheiratung
gaenzlich eingeschlafen. Mein langer Brief, welcher dir meine Glueckwuensche
dazu brachte, blieb unbeantwortet. Aber du kennst mich wohl hinreichend,
um zu wissen, dass ich ganz und gar kein Talent zur Empfindlichkeit besitze
und trotz deiner Schweigsamkeit nicht einen Augenblick an deiner
Freundschaft gezweifelt habe, von der ich heute den ausgiebigsten Gebrauch
machen moechte. Doch davon spaeter! Vor allen Dingen, liebe Nellie, wie geht
es dir und deinem Gatten? Ich hoffe, dass euch diese Zeilen im besten
Wohlsein antreffen. Ich denke viel an euch beide gluecklichen Menschen und
goenne euch von Herzen alles Gute dieser Erde, mit dem Wunsche, das
Schicksal moechte euch immer so gnaedig gesinnt bleiben.

Du wunderst dich, wie ich in diese bei mir so ungewoehnliche Stimmung
geraten bin? Du sollst eine Erklaerung haben. Warum fiel ich auch nicht
sofort mit der Tuere ins Haus und hielt mich erst bei grossen Umschreibungen
auf! Doch der Mensch ist nun einmal so wunderlich und haelt sich das
unangenehme gern so lange wie moeglich fern. Mit wenigen Worten will ich
dir erzaehlen, wie uebel mir das Geschick mitgespielt hat. Du weisst ja,
liebe Nellie, mein Grossvater war reich, im Wohlstand bin ich aufgewachsen
und erzogen. Mein Grossvater glaubte dem einzigen Kinde seiner Tochter, das
nur zu frueh elternlos geworden, nichts versagen zu duerfen, er hat mich in
jeder Beziehung verwoehnt. Ich dachte, obwohl sonst, wie du ja weisst, eine
skeptische Natur, das muesste so sein und koenne niemals anders werden. Aber,
dass aus einer reichen Erbin mit einem Schlage ein armes Maedchen werden
kann, muss ich an mir selbst nun bitter genug erfahren.

Ich will dir brieflich nicht auseinandersetzen, auf welche Weise wir unser
ganzes Vermoegen verloren haben. Mein armer Grossvater ist vollstaendig
fassungslos, und das mit anzusehen, ist mein groesster Kummer. Der Mann, der
noch so lebensfrisch war, ist gebrochen; er bildet sich ein, mein ganzes
Glueck zerstoert zu haben und quaelt sich mit den groessten Vorwuerfen, trotzdem
ich ihm immer wiederhole, dass ich, jung und kraeftig wie ich bin, es wage,
mit dem Leben aufzunehmen.

Das sage ich uebrigens auch nicht nur ihm zum Trost, es ist meine wahre
Meinung, die ich damit ausspreche. Ich zage nicht, und Sorge macht mir nur
die Zukunft meines alten Grossvaters, dem es ein schwerer Gedanke ist, nun
von seinem Sohne abhaengig zu sein, obgleich mein Onkel und dessen Frau ihn
in der liebevollsten Weise aufnehmen werden.

Mein Onkel hat glaenzende Einnahmen; er hat aber vier Kinder und fuehrt ein
grosses Haus, denn mit der Aussicht auf die erhebliche Erbschaft seines
Vaters brauchte er ja nicht ans Sparen zu denken.

Auch mir haben meine Verwandten in liebenswuerdigster Weise ihr Haus
geoeffnet und mir ein Heim darin angeboten. Doch ich habe ihnen erklaert,
dass ich mich auf meine eigenen Fuesse stellen wollte, und mein Onkel hat mir
eine ansehnliche Summe zu meiner Ausbildung zur Verfuegung gestellt. Mit
meinen sogenannten 'noblen Passionen' ist es nun natuerlich vorbei; ich
ritt und fuhr mit grosser Leidenschaft, war ueberhaupt dem Sport sehr
ergeben. Tempi passati! Mein Reitpferd, ein Goldfuchs, ist bereits fuer
einen hohen Preis verkauft, und auch fuer mein Pony-Dreigespann habe ich
schon einen Kaeufer gefunden. Die schoenen Tiere kommen zum Glueck in gute
Haende, das macht mir die Trennung von ihnen leichter! Aber wohin gerate
ich? Ich glaube wahrhaftig, ich fange an zu klagen und doch liegt mir
nichts ferner als das!

Gute Freunde haben mir geraten, eine Gouvernantenstelle anzunehmen, oder
Gesellschafterin zu werden; dagegen straeubte ich mich mit aller Energie!
Wenn ich mich auch vor den Verhaeltnissen beugen muss, so moechte ich mich
doch nicht von den Stimmungen launenhafter Damen und den Unarten
verzogener Kinder abhaengig machen. Und dann, du weisst ja, bin ich zu offen
und sage, wenn man mich danach fragt, jedem die Wahrheit ins Gesicht.
Diese Tugend oder Untugend, wie man will, passt aber nicht fuer eine
Gouvernante oder Gesellschafterin. Nein, um keinen Preis ein solches Los!
Meine guten Ratgeber haben sich auch schliesslich ueberzeugen lassen, dass
ich fuer solche Stellen nicht passe, und billigen jetzt einen andern Plan,
den du gleich erfahren sollst. Erschrick aber nicht zu sehr, wenn ich ihn
dir mitteile.

Ich will mich naemlich immatrikulieren lassen und zwar fuer die medizinische
Wissenschaft, die mich von jeher sehr interessiert hat; vielleicht, weil
mein Vater ein bedeutender Arzt war, erbte ich diese Neigung. Ich weiss,
dass eine lange Zeit vergehen wird, bis meine Studien beendet sein koennen,
aber ich schrecke davor nicht zurueck. Meine Verwandten sind mit meinem
Vorhaben einverstanden, und ich beabsichtige in Zuerich mein erstes
Semester anzutreten.

Jetzt kann ich endlich meine Bitte anbringen, nach dieser langen
Einleitung, die nun einmal unumgaenglich notwendig war. Die grosse
Verehrung, die ich fuer deinen Mann, meinen frueheren Lehrer, empfinde, hat
den lebhaften Wunsch in mir wachgerufen, wieder seine Schuelerin zu werden
und die Zeit bis Ostern, wo ich nach Zuerich gehe, damit auszufuellen, dass
ich unter seiner Leitung die Luecken in meinen Kenntnissen auszufuellen
suche.

Seitdem ich die Schule verlassen habe, bin ich nicht untaetig gewesen: aus
Liebhaberei nahm ich noch regelmaessig Stunden in allen moeglichen Faechern
der Wissenschaft und hoffe deshalb, dass ich deinem Manne nicht zu grosse
Muehe machen werde. Ersuche ihn in meinem Namen, reiflich zu ueberlegen, ob
er gesonnen ist, meine Bitte zu erfuellen, was mich sehr gluecklich machen
wuerde, denn ich habe die groesste Hochachtung vor dem Wissen und
paedagogischen Talente deines Gatten. Und ist er dann entschlossen, liebe
Nellie, meinem Wunsche nachzukommen, dann verliere keine Zeit und
benachrichtige mich sofort. Ich mache mich bereit, jeden Tag von hier
abreisen zu koennen, und werde mich nach einer zusagenden Antwort von euch
gleich auf die Eisenbahn setzen. Du bist wohl so gut und erkundigst dich
nach einer passenden Pension fuer mich, bei netten Leuten. Du bist ja so
praktisch, dass ich dir alles weitere ueberlasse. Meine Verwandten gruessen
dich und deinen Mann unbekannterweise herzlich. Ich freue mich sehr,
_notabene_, wenn etwas daraus wird, euch wiederzusehen und bleibe mit den
freundschaftlichen Gruessen fuer euch beide, stets

St. Petersburg 17/29. 10. 18 ..
                                                            deine treue
                                                         Orla Sassuwitsch.






"Arme Orla," sagte Nellie bedauernd, als Ilse zu Ende gelesen hatte, "ich
hatte ihr stets so gern."

"O, ich auch!" rief Ilse. "Aber weisst du, Nellie, ich hatte immer ein
bisschen Angst vor ihr; sie ist so klug und sieht einen so durchdringend
und scharf an, als koennte sie die geheimsten Gedanken erraten. Zur
Studentin passt sie famos! Ob sie wohl noch raucht? Was sagt denn dein Mann
dazu, dass sie studieren will, ist er damit einverstanden?"

"O, Fred will ihr gern das Unterricht geben, er meint nur, es waere ein
grosser Schritt von einer Frau, zu studieren, und will ihr das auch
vorstellen. Doch ich sage ihm, Orla hat eine feste Kopf; was sie will, das
tut sie, du kannst ihr nicht abbringen. Morgen schreibe ich ihr gleich,
sie soll kommen; wir nehmen ihr herzlich gern auf. Und nun, gute Nacht,
_darling_, ich bin muede von die langweilige Flora-Gesellschaft und auch du
hast schlafrige Augen."

Die Freundin war schon laengst fort, und Ilse hatte sich gleichfalls zur
Ruhe begeben, lag aber noch wachend im Bette; die Erinnerung an den
ereignisreichen Abend raubte ihr den Schlaf. Orlas Schicksal beschaeftigte
sie lebhaft. Orla, eine Studentin, das war doch zu interessant! Was wird
Flora dazu sagen und die artige Rosi, welche die freidenkende und
energische Russin niemals verstanden hatte, sie wird ueber diese
Emanzipation gewiss ausser sich sein.

Als Gott Morpheus unsre kleine Ilse endlich in seine Arme schloss, traeumte
sie lauter wunderliches Zeug. Orla stand in Maennerkleidern vor ihr und
hatte das Cereviskaeppchen flott auf das eine Ohr gesetzt. Mit einem kurzen
Spazierstoeckchen schlug sie an ihre hohen Stulpenstiefeln und blies aus
einer Zigarette zierliche blaue Ringeln in die Luft. Dann wieder erschien
Leo in Ilses Traeumen. Er lag zu den Fuessen der schoenen Amerikanerin, die
ihn mit ihren schwarzen Augen verfuehrerisch anblickte. Ilse wurde bei
diesem Anblick von einer wilden Eifersucht ergriffen, sie wollte
dazwischen fahren, war aber wie festgebannt und konnte sich nicht vom
Flecke ruehren. -

Den Brief an Orla hatte Nellie am andern Tage in aller Fruehe geschrieben;
die Antwort war sofort in einem kurzen Telegramm erfolgt, das die Worte
enthielt: "Ich werde Montag abend 81/2 Uhr dort eintreffen.

                                                                    Orla."

Nach einer Wohnung fuer dieselbe hatte sich Nellie nicht umgesehen, denn
selbstverstaendlich wuerde sie die Freundin nicht ausquartieren; sie sollte
vielmehr das Fremdenstuebchen mit Ilse teilen. Die bevorstehende Ankunft
Orlas war jetzt ein lebhafter Gespraechsgegenstand. Flora fand die Idee,
dass Orla studieren wollte, 'einfach genial' und war so begeistert darueber,
dass sie behauptete: wenn sie nicht 'Hymens Fesseln' baenden, wie sie sich,
stets poetisch, ausdrueckte, wuerde sie ebenfalls studieren, wenn sie auch
nicht gerade die medizinische Wissenschaft zu ihrem Studium waehlen moechte,
die nach ihrer Meinung nun einmal alles Ideale in der menschlichen Brust
ersticke.

"Orla und ich verstanden uns von jeher gut, wir sind sozusagen 'geistig
verwandt'," sagte sie zu Nellie und Ilse, "ich freue mich deshalb
schrecklich, sie wiederzusehen."

Im stillen dichtete sie an einem Sonett, welches sie in einem Blumenstrauss
versteckt zum Empfange ueberreichen wollte und in dem sie in
ueberschwenglichster Weise eine Heldin der Zukunft besang.

"Wisst ihr noch, Kinder," fragte sie die Freundinnen, "wie Orla die
wirklich grossartige Rede unter dem Lindenbaum hielt, und wie ich ihr
damals schon prophezeite, dass einst etwas Grosses aus ihr wuerde? Ich habe
mich nicht getaeuscht, ich ahnte, dass sie sich ueber das Niveau des
alltaeglichen Lebens erheben wuerde. Ihre gross angelegte Natur strebt nach
Hoeherem, mit kraeftiger Hand zerreisst sie die engen Fesseln der
Weiblichkeit und stellt sich den Maennern an die Seite. Ich begreife sie,
ich verstehe sie voll und ganz, denn wer so wie ich den Drang nach etwas
andrem, besserem in sich fuehlt, der leidet bestaendig unter dem Druck der
grauen Alltaeglichkeit, welche eine nuechterne, kalte Oede im innersten
Gemuet hinterlaesst."

Ihre wasserblauen Augen waren bei dieser schoenen Rede schwaermerisch gen
Himmel gerichtet, und sie bemerkte deshalb nicht, dass Nellie unwillig den
Kopf schuettelte.

"O Flora," sagte diese ernst, "du versuendigst dir. Wie darfst du von einer
kalte, graue Oede in dein Inneres sprechen und hast ein so guten Mann, ein
herziges Baby -, o, wie suess ist das Kind! Waer es mein, wie wollte ich ihr
hegen und pflegen. Warum hast du es so wenig um dir? Du musst mit die
Kleine spielen, ihr schoene Geschichtens erzaehlen, wie wir es mit unsere
kleine Lilli taten."

"Verschone mich mit deinen weisen Reden," unterbrach sie Flora beleidigt,
aber doch etwas verlegen. "Eine so alberne Mutter, wie du sie eben
schilderst, bin ich Gott sei Dank nicht. Das Kind ist gut versorgt. Habe
keine Angst, liebe Nellie, ich bin mir der heiligen Mutterpflichten wohl
bewusst."

Das war wieder echt, wie Flora gesprochen, theatralisch und ueberspannt. Es
war ihr offenbar unangenehm, dass Nellie hiervon angefangen hatte, und sie
gab deshalb dem Gespraech moeglichst schnell eine andre Wendung. In ihrem
Innern dachte Nellie, dass sie es mit den 'heiligen Mutterpflichten' doch
wohl nicht so genau naehme; das kleine verschuechterte, nachlaessig
gekleidete Stiefkind war der sprechendste Beweis dafuer. Es war nicht
froehlich und vergnuegt wie andere Kinder, ein wehmuetiger Ernst lag in
seinen grossen Augen, und der kleine Mund war trotzig fest geschlossen. Nur
wenn Kaethchen bei ihrem Vater war, dann strahlte sie und ein glueckliches
Laecheln machte das Kindergesicht unendlich liebreizend. Um die Mittagszeit
stand sie schon lange, bevor er kam, am Fenster und wartete auf ihn. Sah
sie ihn kommen, so lief sie ihm entgegen und hing an seinem Halse. Ueber
sein ernstes Gesicht flog es dann wie Sonnenschein, er kuesste und liebkoste
die Kleine.

"Du verwoehnst Kaethe einfach grenzenlos," warf ihm Flora einmal vor, "sie
ist bereits furchtbar verzogen, ein schrecklich unartiges Kind, man hat
seine liebe Not damit."

"Flora, du vergisst, wie lange das Kind mutterlos gewesen ist," sagte er,
und man sah ihm an, wie weh ihm ihr hartes Urteil ueber seinen Liebling
tat, "ich konnte mich neben meiner Praxis wenig um dasselbe bekuemmern, es
war fremden Haenden ueberlassen. Ist es da wunderbar, dass seine Erziehung
vernachlaessigt ist? Habe doch Geduld mit ihm."

Er wollte noch hinzusetzen: und bekuemmere dich mehr darum, aber er sagte
nichts, denn er kannte Floras Empfindlichkeit. Im Anfang ihrer Ehe, als er
seine Frau immer am Schreibtische sitzend vorfand, wenn er nach Hause kam,
hatte er sie sanft aber instaendig gebeten, sich mehr um den Haushalt zu
bekuemmern, denn nie war das Essen zur rechten Zeit fertig, und wenn es auf
den Tisch kam, war es nur zu oft ungeniessbar. Da kam er aber schoen an, sie
warf ihm vor, er sei doch gar zu materiell und das Essen spiele bei ihm
die Hauptrolle.

Er war mit Scherz ueber diese unangenehme Bemerkung hinweggegangen und
hatte freundlich zu ihr gesagt: "In den Mussestunden, liebes Kind, kannst
du so viel schreiben als du willst, aber nie darfst du darueber die
Pflichten der Hausfrau und Mutter versaeumen."

Das nahm Flora sehr uebel und tagelang sprach sie kein Wort mit ihm. Aber
ihre Lebensweise aenderte sie in keiner Beziehung, ja seine Vorwuerfe regte
sie nur zu neuen Taten an, in langen Gedichten klagte sie ihr Leid, dass
sie eine missverstandene Frau sei. Sie dachte nur an sich; was lag auch
daran, dass ihr Mann, wenn er hungrig und muede nach Hause kam, keine
Behaglichkeit vorfand, und sich dann in sein Zimmer zurueckzog? Wie konnte
man ueberhaupt so prosaisch sein und sich durch solche Dinge die Laune
verderben lassen! Sein liebevolles Zureden, seine eindringlichen Vorwuerfe,
nichts half, um Flora zu aendern. Da riss dem sonst so gutmuetigen Manne die
Geduld, er bat nicht mehr, er verlangte, und es kam zu heftigen Szenen
zwischen den beiden Eheleuten. Flora spielte dann die schwer Beleidigte.

Doktor Gerber hatte nicht geahnt, als er noch verlobt war und Flora ihn
mit ueberschwenglichen Gedichten ueberschuettete, die er nur fluechtig las,
dass er einst unter dieser poetischen Ader zu leiden haben wuerde. Er sah es
fuer eine Spielerei an, die ein Ende nehmen wuerde, wenn erst ernste
Pflichten an die junge Frau herantraeten. Wie bitter wurde er enttaeuscht!
Aus der sanften, hingebenden Braut, die ihn schwaermerisch anzubeten
schien, in der er eine treue Lebensgefaehrtin, eine sorgende Mutter fuer
sein Kind zu finden hoffte, wurde eine unfuegsame, selbstsuechtige Frau,
welche Mann und Kind vernachlaessigte und sich obenein noch gekraenkt
fuehlte, dass er ihrer dichterischen Beanlagung so wenig Interesse schenkte
und so geringes Verstaendnis entgegenbrachte. "Sie mit ihrer idealen Natur
passe nun einmal nicht in diese profane Welt," so troestete sie sich
schliesslich. Ihr Mann ertrug jetzt alles mit ruhiger Ergebung, nachdem
seine Liebe und Guete, dann seine Strenge, ja selbst sein Zorn nichts
gefruchtet hatten. Er ging seinem anstrengenden Berufe nach und sagte
nichts mehr; Flora war froh, dass sie keine Vorwuerfe mehr hoeren musste und
Ruhe hatte. Einen Verehrer ihrer Muse hatte sie in dem Referendar
gefunden, dem sie unter vielen Seufzern ihr Schicksal klagte und wie hart
es sei, von dem eigenen Manne verkannt zu werden.

"Ich habe mir meine besondere Welt geschaffen, in der ich lebe," sagte sie
zu Lueders, "denn wer versteht mich? Ausser Ihnen niemand," fuegte sie mit
einem gefuehlvollen Augenaufschlag hinzu. Auf Nellie blickte sie mit einer
gewissen Geringschaetzung herab, sie ging ja, nach ihrer Meinung
wenigstens, vollstaendig in ihrem Mann und den Haushaltungssorgen auf.

Als sie ihr das einmal sagte, hatte Nellie erwidert: "Tut nix, von schoene
Gedichte und Romans kann mein Mann nicht satt werden, ich bin nun mal ein
prosaisches Frau, liebe Dichterin."

"Orla wird mit ihren geistigen Interessen wenig Anklang bei Nellie
finden," dachte Flora im stillen und meinte, es waere eigentlich besser,
Orla wohne bei ihr. Sie beneidete Althoffs grenzenlos um ihren
interessanten Besuch und nahm sich vor, mit Orla sehr viel zu verkehren.
Ihrem Freunde, dem Referendar Lueders und ihren Bekannten erzaehlte sie mit
grosser Wichtigkeit und Ausfuehrlichkeit von der bevorstehenden Ankunft der
jungen Russin, die eine intime Freundin von ihr sei, da sie beide
sozusagen 'geistesverwandt' waeren, dass sie zusammen in der Pension gewesen
seien, und wie sich Orla schon damals durch ihre hervorragende Begabung
ausgezeichnet haette. Sie umgab deren Persoenlichkeit mit einem Nimbus, der
darauf berechnet war, seinen glaenzenden Schein vorteilhaft auf sie selbst
zurueckzuwerfen. Da war es denn bald stadtkundig geworden, welchen Besuch
Althoffs erwarteten, und man sah demselben mit Spannung und Neugierde
entgegen, ja sogar die Maenner waren begierig, die junge Dame kennen zu
lernen!

                                  * * *

Nun war Orla schon einige Tage bei den Freunden, und da sie sich muede und
abgespannt von der Reise fuehlte, ging sie nicht aus dem Hause, ahnungslos,
wie sehnsuechtig man im Staedtchen auf ihr Erscheinen wartete und wie sehr
sie die Geduld der Neugierigen auf die Folter spannte. Flora kam fast
jeden Tag; sie war natuerlich auch auf dem Bahnhof gewesen, als Orla ankam,
hatte diese ueberschwenglich umarmt und ihr den Strauss mit dem bewussten
Gedicht in die Hand gedrueckt. Orla nahm diese Begruessung etwas kuehl und
verwundert auf, war sie doch gerade mit Flora nie vertraut gewesen, deren
Natur ihr vollkommen unverstaendlich und unsympathisch war. Dagegen freute
sie sich aufrichtig, Ilse wiederzusehen.

"Nellie," hatte Ilse vor Orlas Ankunft gesagt, "bitte, erzaehle Orla nur
gleich alles -, du weisst schon, die Geschichte mit der Flucht. Wenn sie
mich nach Leo fragte, das waere mir schrecklich, denn gerade ihr gegenueber
schaeme ich mich doppelt, sie kann gewiss nicht begreifen, dass ich eines
lumpigen Streites wegen fortlaufen konnte, sie denkt so erhaben ueber alles
Kleinliche."

Nellie hoerte mit heimlicher Genugtuung und Freude die Freundin an und
sagte zu ihrem Manne: "Du Fred, Ilschen ist auf die Besserung, sie nennt
den Streit mit ihre Schatz schon 'lumpig' und meint eine solche
'Kleinigkeit' koenne Orla nicht begreifen."

Die drei Freundinnen hatten sich viel zu erzaehlen, und manche Stunde wurde
mit alten Erinnerungen verplaudert. Waren diese im Grunde doch noch so
frisch und neu; nur zwei Jahre lagen dazwischen und die hatten keine davon
verwischen koennen. Die kurze Spanne Zeit hatte aber manche Veraenderungen
hervorgebracht, namentlich wollten Orla die drei wuerdigen Hausfrauen unter
den Pensionsschwestern nicht recht in den Sinn.

"Ich komme mir gegen euch ehrbare Frauen - Ilse rechne ich mit - wie ein
Wickelkind vor," sagte sie scherzend.

"Na Orla," neckte Ilse, "wie lange wird es dauern, und du bist auch
verlobt und verheiratet, du bist so huebsch und klug -"

"Um Gottes willen, Ilse," fiel ihr Orla in die Rede, "du willst mir doch
nicht etwa Schmeicheleien sagen, Kind! Du weisst doch, dass ich sie hasse."

Aber Ilse lag es fern, der Freundin schmeicheln zu wollen. Aus ihren
Worten sprach die aufrichtigste Bewunderung und sie war viel zu offen,
jemand etwas Angenehmes zu sagen, wenn es nicht ihre wirkliche Meinung
war. Die ganzen Tage her hatte sie Orla verstohlen angeblickt, denn sie
fand sie jetzt noch viel huebscher, als in der Pension. Sie war groesser und
voller geworden, dabei schlank und biegsam wie eine Tanne. Besonders gut
gefiel Ilse Orlas 'interessante Blaesse', und in der Tat bot der matte,
aber warme Teint im Verein mit den dunklen geistvollen Augen, dem kurzen,
leichtgelockten Haar ein unendlich anziehendes und reizvolles Bild. Ihr
Profil war scharf geschnitten, ein keckes Stumpfnaeschen verlieh ihrem
Gesicht etwas Pikantes, und den kleinen vollen Mund mit den stolz
geschwungenen Lippen hatte Flora schon in der Pension als 'vollendet
klassisch' besungen. Trotz einer gewissen Schroffheit in Orlas Wesen
konnte sie hinreissend liebenswuerdig sein und jedermann bezaubern.

Am Tage nach ihrer Ankunft hatte sie den Freunden alles erzaehlt, was sie
Trauriges betroffen hatte, und mit ihnen ihre Zukunftsplaene beraten.
Doktor Althoff machte sie schonungslos auf alle Schwierigkeiten ihres
Entschlusses aufmerksam, und Orla war ihm fuer seine Aufrichtigkeit sehr
dankbar, aber - so sagte sie ihm nach einer langen Auseinandersetzung
unter vier Augen, so wenig Lichtseiten er ihr auch an ihrem zukuenftigen
Beruf gezeigt haette, sie waere trotzdem fest entschlossen, nicht wankend zu
werden.

"Ich bin, wenn auch keine Pessimistin, doch weit entfernt davon, eine
Optimistin zu sein," sprach sie, "ich weiss ganz genau und habe mir das
auch reiflich ueberlegt, dass ich einen langen, beschwerlichen Weg vor mir
habe, bis ich mein Ziel erreiche, und dennoch schrecke ich nicht zurueck."

Nun, an Energie und Begabung fehlte es ihr nicht, das wusste er, denn schon
in der Schule hatte er seine Freude an ihr gehabt und war oft ueberrascht
gewesen, wie sie bei einem schnellen Fassungsvermoegen fuer eine Frau
auffallend klar und logisch dachte. Nie betrieb sie das Lernen
oberflaechlich, sie nahm alles sehr genau und erforschte die Dinge bis auf
den Grund. Dass es ihr aber heiliger Ernst mit dem Studium war, dass kein
Gedanke der Eitelkeit, noch die Sucht nach Aussergewoehnlichem sie dazu
bestimmt hatten, das konnte man alsbald merken, denn sie entwarf mit
Althoff sofort einen genauen Stundenplan und er hatte sich in der Folge
ueber seine eifrige und fleissige Schuelerin nicht zu beklagen. Mit dem
Unterricht wurde gleich am uebernaechsten Tage ihres Eintreffens begonnen.

"Willst du dir nicht erst ein wenig ruhen?" hatte Nellie gefragt, "du bist
von die vielen Aufregungen in der letzte Zeit doch gewiss sehr angespannt?"

"Nein, nein, Nellie," gab sie zur Antwort, "ich darf keine Minute Zeit
verlieren, ausserdem ist gegen elegische Gedanken, wie sie jetzt manchmal
in mir auftauchen wollen, Arbeit das beste Mittel."

Sie hatte sich entschieden gestraeubt, bei Althoffs zu wohnen, indem sie
behauptete, das ginge nicht, es waere ihr peinlich. Sie wuerde sich daher in
den naechsten Tagen selbst nach einer passenden Wohnung umsehen; sie schalt
Nellie, dass sie es nicht vorher schon getan haette. Vorlaeufig bewohnte sie
mit Ilse das Fremdenstuebchen, und wenn diese abends schon laengst im Bette
lag, sass Orla noch auf und arbeitete bis tief in die Nacht hinein.

"Aber Orla," sagte Ilse oft, "du darfst nicht so lange aufbleiben, du
wirst sonst krank; komm und lege dich schlafen."

"Lass mich nur Kind," antwortete Orla, "schlafe ruhig weiter und habe keine
Angst, ich werde nicht krank."

"Kind, sagt sie immer zu mir," dachte Ilse, "gerade als wenn sie viel
aelter waere als ich, und sie ist doch erst neunzehn Jahre alt." Aber dass
Orla, trotz des geringen Altersunterschiedes viel reifer und verstaendiger
war als sie, das empfand sie nur zu oft und sie kam sich dann ihr
gegenueber noch recht kindisch und albern vor.

"Gegen Orla bin ich doch furchtbar dumm," sagte sie einmal zu Nellie.

"O Ilschen," lachte die junge Frau, "du nicht allein, ich auch. Aber wir
wollen ja doch keine Studentens werden und fuer die taegliche Gebrauch sind
wir klug genug."

"Weisst du, Nellie, wenn Orla mich mit ihren grossen Augen so pruefend und
scharf ansieht, dann denke ich immer, dass sie mich in ihrem Innern gewiss
recht verspottet und verhoehnt, weil ich davongelaufen bin. Was sagte sie
denn eigentlich dazu?"

Nellie konnte sie darueber beruhigen, dass Orla sie weder verhoehnte noch
verspottete. Sie haette Ilse stets gerne gehabt, weil sie 'Temperament'
besaesse, und es taete ihr nur leid, dass sich der kleine Brausekopf selbst
bittere Stunden bereitete.

"Selbst bittere Stunden bereitete," wiederholte Ilse Orlas Wort, "als ob
ich daran schuld waere."

Noch glaubte sie nicht an ihr Unrecht, noch war sie im Gegenteil
ueberzeugt, dass sie in der Sache selbst im vollsten Recht sei. Allerdings
hatte, wenn sie sich die Szene an jenem verhaengnisvollen Mittag ins
Gedaechtnis zurueckrief, wohl schon manchmal eine Stimme in ihrem Innern
gefluestert: du haettest nachgeben muessen, du warst zu widerspenstig; aber
dann hoerte sie im Geiste wieder deutlich Leos beschaemende Worte, und ihre
besseren Regungen hielten davor nicht stand. -

Als Orla zum ersten Male mit den Freundinnen ausging, flog ihr mancher
bewundernde Blick zu, einige Voruebergehende blieben sogar stehen und sahen
der neuen Erscheinung musternd nach. Auch Doktor Andres begegnete ihnen,
der durch Flora von der 'interessanten russischen Freundin' schon viel
gehoert hatte und diese nun mit kritischen Blicken betrachtete. Er hatte
sich ein anderes Bild von ihr gemacht, denn von Floras ueberschwenglichen
Beschreibungen glaubte er immer nur die Haelfte, weil er sie laengst
durchschaut hatte. Er hatte sich unter der kuenftigen Berufsgenossin eine
starkknochige, keineswegs anziehende Erscheinung vorgestellt und war nun
angenehm ueberrascht, eine schoene junge Dame, deren Weiblichkeit schon aus
ihrer anmutigen Erscheinung sprach, zu erblicken. Mit unverhohlenem
Wohlgefallen sah er Orla an.

"Wer war der grosse stattliche Mann, der uns eben gruesste?" fragte sie,
nachdem er vorueber war.

Nellie nannte seinen Namen.

"Eine sympathische Erscheinung," bemerkte Orla noch. "Uebrigens, Nellie,
werden alle Leute, die neu hierherkommen, so angestarrt wie ich? Sie
staunen mich ja an wie ein Wundertier. Sieh nur da drueben die Dame, wie
sie dir zuwinkt und durch Zeichen zu verstehen gibt, dass du stehen bleiben
sollst; wahrhaftig, sie scheut den Schmutz nicht und kommt ueber die Strasse
zu uns."

                              [Illustration]

Es war die Frau Direktor, die ihre Neugierde nicht bemeistern konnte und
unbedingt den fremden Gast von Althoffs kennen lernen wollte.

"Liebe Frau Doktor," redete sie Nellie an, "ich habe Sie ja so lange nicht
gesehen, es geht Ihnen doch gut, kleine Frau? Und Sie, liebes Braeutchen,"
wandte sie sich an Ilse, "ist die Sehnsucht nach dem Schaetzchen nicht zu
gross, halten Sie es so lange ohne ihn aus? Wie gefaellt es ihm denn in
Paris? Gontrau ist doch sein Name, nicht wahr? Ja? Dann habe ich mich
nicht geirrt, als ich neulich zufaellig durch einen Bekannten meines
Sohnes, einen Referendar, erfuhr, dass Assessor Gontrau sich einen laengeren
Urlaub zu einer Reise nach Paris genommen habe. Da wird er Ihnen jetzt
gewiss viel Interessantes erzaehlen."

Nellie hat Ilse bei diesen Worten erbleichen sehen und unterbrach die
redsame Dame deshalb schnell.

"Frau Direktor," sagte sie, "darf ich Ihnen unsere Freundin Fraeulein Orla
Sassuwitsch vorstellen?"

Und nun ergoss sich ueber diese ein gleicher Redestrom; Orla verstand es
jedoch geschickt, mit kuehler, aber ausgesuchter Hoeflichkeit ihren Fragen
auszuweichen, so dass die aufgeregte Fragerin wenig mehr erfuhr, als sie
schon wusste. Die vornehme Zurueckhaltung der jungen Dame imponierte ihr
gewaltig, und sie bat sie dringend um ihren baldigen Besuch.

"Bitte, kommen Sie aber gleich des Nachmittags mit einer Handarbeit zu
einer Tasse Kaffee," sagte sie, Orla die Hand schuettelnd, und
verabschiedete sich.

"Ich kann diese Frau Direktor nicht ausstehen," meinte Ilse offenherzig,
"wie unverschaemt sie jeden ausfragt! Ich koennte ihr kein Wort erwidern, so
furchtbar aergere ich mich ueber sie."

"Aber, beste Ilse," lachte sie Orla aus, "wenn man sich ueber solche
Lappalien im Leben schon 'furchtbar aergern' will, dann koennte man ja nie
froh sein. Die gute Dame hat mich erheitert, das Fragen und Ausforschen
scheint ihr Lebensbeduerfnis zu sein. Du lieber Gott, 'jedes Tierchen hat
sein Plaesierchen', also: lassen wir ihr das Vergnuegen."

"Nein," sagte Ilse erregt, "ich koennte mit dieser Frau nicht verkehren,
und warum soll man denn auch jemand besuchen, den man nicht ausstehen
kann? Nellie mag sie auch nicht leiden und ist doch so freundlich zu ihr."

"Du bist doch ein recht weltunkundiges kleines Maedchen, Ilse, und hast
noch sehr naive Ansichten, nimm mir das nicht uebel! Von der
'konventionellen Luege' hast du wohl noch nie etwas gehoert? Weisst nicht,
dass man den Personen, die man nicht leiden mag, nicht ins Gesicht sagen
kann: geh mir aus dem Wege, denn du bist mir unangenehm. Man koennte leider
beinahe sagen: je besser man luegen kann, desto weiter kommt man in der
Welt. Man nennt das 'weltklug' sein."

"Siehst du, Ilschen," warf Nellie ein, "Orla spricht so, wie ich dich
schon sagte. Ich mag ihr auch nicht, das neugierige Direktorsfrau, aber
sie darf mich das nicht anmerken."

Ilse erwiderte nichts, nachdenklich ging sie neben den Freundinnen her.

Am Abend, als die beiden jungen Maedchen sich zur Ruhe begaben, fragte Ilse
ploetzlich:

"Orla, wuerdest du mit deinem Manne alle Besuche machen, die er wuenscht?"

"Naerrchen, warum nicht? Natuerlich! Man braucht ja deshalb noch nicht mit
denen, die einem missfallen, zu verkehren. Wie kommst du ueberhaupt zu
dieser Frage?"

"Ach, ich dachte eben nur so zufaellig daran," antwortete Ilse ausweichend
und schwieg dann.

Orla schlief schon laengst, als Ilse noch wachend in ihrem Bette lag. Leo
in Paris, daran musste sie immer denken. Was wollte er dort, warum reiste
er dahin? Um sich zu amuesieren, natuerlich nur deshalb. Sie hatte Nellie
gefragt, ob es wahr sei, was die Frau Direktor ihr mitgeteilt hatte, und
ob sie auch wuesste, dass Leo in Paris sei. Nellie bestaetigte es; sie wusste
es ja schon laenger, hatte ihr aber diese Nachricht bisher absichtlich
verschwiegen. Ilse fragte nichts weiter, sondern hatte das Gespraech
schnell abgebrochen und von etwas andrem gesprochen, denn Nellie sollte
nicht etwa denken, dass sie sich aergerte oder graemte. Aber ihre Gedanken
beschaeftigten sich fortwaehrend mit dieser Reise und raubten ihr selbst den
Schlaf. Sie warf sich unruhig von einer Seite zur andern. War es denn
nicht der beste Beweis, dass er sie nicht mehr liebte, dass er keinen Kummer
empfand, wenn er Lust hatte, zu seinem Vergnuegen nach Paris zu reisen?
Paris - er hatte ihr schon so oft davon vorgeschwaermt und dabei gesagt,
wenn wir erst verheiratet sind, dann reisen wir nach Paris. Und nun reiste
er ohne sie, dachte wahrscheinlich garnicht mehr an sein damaliges
Versprechen und unterhielt sich gewiss herrlich. Ihr Interesse fuer diese
Stadt wurde ploetzlich wach, sie haette gar zu gern etwas naeheres ueber Paris
gewusst. Ob Orla wohl schon dort gewesen war? Sie hatte mit ihrem Grossvater
weite Reisen gemacht und schon so viel von der Welt gesehen; gewiss war sie
auch in dieser Weltstadt gewesen und konnte ihr davon erzaehlen. Die
Neugierde liess ihr keine Ruhe, und halb in Gedanken rief sie Orlas Namen.

"Ja, was denn, was ist denn, hast du mich gerufen, Ilse?" fragte diese
noch halb im Schlafe.

Ilse war es nun doch peinlich, Orla zu fragen, denn was wuerde diese dazu
sagen, wenn sie jetzt mitten in der Nacht eine Beschreibung von Paris
haben wollte.

"Was willst du denn?" fragte Orla und richtete sich im Bett auf, da sie
keine Antwort erhalten hatte. "Warum hast du mich denn geweckt?"

Endlich fasste sich Ilse ein Herz und erkundigte sich zaghaft, ob Orla wohl
schon in Paris gewesen sei und wie es dort waere, sie moechte ihr doch davon
erzaehlen. Sie war froh, dass es Nacht war und Orla sie nicht sehen konnte,
denn sie fuehlte, wie rot sie bei dieser Frage wurde.

"Mein Gott, Ilse, du phantasierst doch nicht, oder hast du etwa getraeumt?"
rief Orla erstaunt.

"Ach nein, ich habe ueberhaupt noch nicht geschlafen," gab Ilse kleinlaut
zur Antwort, "und da dachte ich so zufaellig an Paris."

"Ach ja," sagte Orla, "nun begreife ich, du beschaeftigst dich natuerlich
deshalb in Gedanken lebhaft mit Paris, weil dein Braeutigam dort ist?"

Ilse erschrak; sie hatte geglaubt, Orla habe es nicht gehoert, als die Frau
Direktor ihr die Neuigkeit von Leos Reise mitteilte, da sie gerade in dem
Schaufenster eines Kunstladens, vor welchem sie standen, die Bilder
einiger Professoren betrachtete. Sie hatte dabei nicht gedacht, dass die
neugierige Dame eine sehr helle und durchdringende Stimme besass, so dass
Orla recht wohl hoeren konnte, was sie sagte. Uebrigens war dieser erst
jetzt bei Ilses Frage die Angelegenheit wieder eingefallen, der sie zuerst
keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Ilse wusste nicht, was sie auf Orlas Frage antworten sollte, und schwieg
deshalb still. Es waere ihr jetzt sogar lieb gewesen, wenn Orla das
Gespraech abgebrochen haette, aber diese fuhr nach einer kleinen Pause fort:

"Paris ist sehr schoen, Ilse, und ich bin ueberzeugt, dass es deinem
Braeutigam dort vorzueglich gefallen wird."

"Ja, das glaube ich auch," fiel ihr Ilse mit spoettischem Auflachen ins
Wort, "er wird gewiss furchtbar vergnuegt und ausgelassen sein, natuerlich,
warum sollte er denn auch nicht?"

"Aber Ilse," sagte Orla, die jetzt erst merkte, wie ihre Freundin ueber
diese Reise dachte und empfand, "ich bitte dich, warum soll sich denn dein
Verlobter nicht amuesieren?"

Die Gefragte schwieg, aber ein muehsam unterdruecktes Schluchzen klang zu
Orla herueber.

"Du kleines leidenschaftliches Maedchen," sprach Orla liebevoll und sanft
zu ihr, "vor allen Dingen werde etwas ruhiger. Ich muss jetzt mal in einem
weisen Tantenton mit dir reden. Sieh, liebe Ilse, das Leben bringt
ohnedies Schweres genug, warum da noch unnuetz Grillen fangen und es sich
durch Nichtigkeiten verbittern? Nellie hat mir auf deinen Wunsch alles
erzaehlt, und ich sage dir aufrichtig, ich bedaure dich und deinen
Braeutigam, dass es soweit zwischen euch gekommen ist. Ich weiss ja nicht,
was vorgefallen ist, aber etwas Schlimmes kann es nicht sein, denn in
deinen Augen habe ich gelesen, dass du ihn noch liebst, dass du mit allen
Fasern deines Herzens noch an ihm haengst, mit allen deinen Gedanken noch
bei ihm bist. Nicht wahr, du bist boese auf ihn, weil er fortgereist ist
und nicht als echter Ritter Toggenburg hintrauert? Das wuerdest du lieber
sehen, das wuerde dir besser gefallen, gestehe es, Ilse! Aber sei gerecht,
nicht kleinlich, und denke mal ruhig nach. Die Sehnsucht nach dir, der
Schmerz, dass du ihn verlassen hast, sie machen, dass er es nicht mehr
daheim aushaelt, eine unbezwingliche Unruhe treibt ihn fort, weit fort; er
muss andre Menschen, andre Dinge sehen und je groesser der Strudel der
Vergnuegungen, die ihn sein Leid vergessen machen sollen, desto besser.
Kannst du nicht mit ihm empfinden, siehst du nicht darin nur einen Beweis,
wie tief und innig er dich liebt? Handelt nicht so ein rechter Mann voll
Kraft und Stolz, welcher der Welt nicht zeigen mag, wie es in ihm
aussieht? Glaubst du, dass er wirklich geniesst, was er sieht und hoert, dass
ihn nicht ueberall sein Kummer, der Gedanke an dich begleitet? Ilse, du
bist mit Blindheit geschlagen, glaube es mir. Sei nicht boese, dass ich
offen spreche, aber ich meine es wahrhaftig nur gut mit dir."

Ilse hatte bebend zugehoert. Orlas Worte machten einen tiefen Eindruck auf
sie. War es nicht richtig, was sie sagte, verstand sie Leo nicht besser,
als seine eigene Braut es tat? Ja, Orla hatte recht! Und nun kam sie sich
auf einmal so kleinlich, so ungerecht vor, es ging ihr ploetzlich wie ein
Licht auf. Ja, Leo war nur fortgereist, um seinen Schmerz durch neue
Eindruecke zu betaeuben. Kannte sie ihn so wenig, vermochte sie so wenig in
seiner Seele zu lesen? Keine Silbe von dem, was ihr Orla gesagt hatte,
haette sie bestreiten moegen. So eindringlich und schonungslos hatte Nellie
noch nie mit ihr gesprochen; die viel zu gutmuetige junge Frau konnte nicht
sehen, wenn Ilse so traurig war, und hatte dann gleich tausend zaertliche
Trostesworte fuer sie, aber um keinen Preis haette sie ihr das Herz durch
Vorwuerfe noch schwerer gemacht. Orla sagte ihr erbarmungslos die Wahrheit,
so war es recht! Es tat ihr wohl zu wissen, wie das kluge Maedchen ueber sie
urteilte, und sie war ihr dankbar, dass sie so offen mit ihr gesprochen
hatte.

"Gute Nacht, liebe Orla!" rief Ilse innig.

Keine Antwort.

Schlief sie schon wieder, oder stellte sie sich schlafend?

Ilse erhob sich leise und ging an Orlas Bett. Die gleichmaessigen Zuege
verrieten, dass sie fest schlief. Ilse betrachtete mit Entzuecken das schoene
Gesicht der Freundin, welches von den hereindringenden Mondesstrahlen matt
beleuchtet wurde. Die dunklen Augenwimpern warfen ihren Schatten auf die
blassen, im Mondeslicht fast marmorweissen Wangen. Ilse drueckte einen
leisen Kuss auf die Stirn der Schlaeferin und schlich sich dann auf den
Zehen zurueck nach ihrem Lager.

                                  * * *

                              [Illustration]

Nach den herbstlich rauhen Tagen stellte sich jetzt der Winter ein, der
mit Schnee und Eis sein Recht behauptete. Seit einigen Tagen schneite es
unaufhoerlich, leise und sacht fielen die weissen Flocken zur Erde nieder.
Baum und Strauch mussten sich unter der Schneelast beugen. Flora, deren
Poesie mit den Jahreszeiten Schritt hielt, besang jetzt den "gestrengen
Winter", und das tanzende, wirbelnde Schneegestoeber wurde fuer sie ein
unerschoepfliches Thema mit den verschiedensten Abwechslungen. Sie ward
nicht muede, an ihrem Schreibtisch zu sitzen und in das flimmernde
Flockengewirr zu sehen. Eines Tages aber lachte ihr der klare blaue Himmel
entgegen und die freundliche Wintersonne schien ins Fenster herein.

Gegen Mittag kam der Referendar, um zu fragen, ob man nicht das herrliche
Winterwetter benutzen und mit mehreren Bekannten eine Schlittenpartie
unternehmen wolle, es waere die schoenste Bahn. Voller Begeisterung begruesste
Flora diesen Gedanken, sie fand ihn himmlisch und war sofort bereit, nach
Althoffs zu gehen, um sie zu diesem Partie aufzufordern.

"Ihrer reizenden kleinen Freundin, Fraeulein Ilse wird gewiss eine
Schlittenfahrt auch Spass machen. Ich werde mir erlauben, das Fraeulein
selbst zu fahren."

Aerger und Enttaeuschung kamen bei diesen Worten in Floras Gesicht zum
Ausdruck.

"Finden Sie Ilse wirklich reizend? Ich begreife das nicht? Sie hat ein
frisches, glattes Gesicht, aber Sie muessen doch gestehen, dass demselben
jede Vergeistigung fehlt, die ein Antlitz doch erst anziehend und
interessant macht. Ohne diesen Ausdruck kann ich kein Gesicht schoen finden
und deshalb laesst mich auch das von Ilse kalt, es ist mir langweilig."

Wie hart und schroff sie urteilte, wenn sie sich in ihrer Eitelkeit
verletzt fuehlte! In Gedanken hatte sie an sich gedacht, als sie Lueders
auseinandersetzte, wodurch ein Gesicht erst seine wahre Schoenheit bekaeme,
und sie erwartete, dass auch er so denken und ihr das jetzt sagen werde.
Aber er blieb stumm und ein ironisches Laecheln zuckte um seinen Mund.

Erregt stand Flora auf.

"Gehen Sie mit?" fragte sie. "Ich will zu Althoffs. Uebrigens - Sie wissen
doch, Ilse ist Braut! Kuehlt das Ihre Begeisterung nicht etwas ab?"

Auch er hatte sich erhoben und gab auf Floras spoettische Frage keine
Antwort; er dachte nur daran, um jeden Preis mit dem jungen Maedchen
zusammenzukommen. Er verabschiedete sich von Flora, indem er ihr sagte,
dass er gegen Abend wiederkommen wuerde, um das naehere ueber die Partie zu
erfahren.

"Adieu," sagte Flora schnippisch und drehte ihm den Ruecken, ohne seine
ausgestreckte Rechte zu beruehren.

"Nun, bekomme ich keine Patschhand?" fragte er.

"Nein, Sie sind zu unartig gewesen," sagte sie und sah ihn ueber die
Schulter mit kokett schmollender Miene an.

"Aber wenn ich verspreche, jetzt wieder artig zu sein, Frau Flora, auch
dann nicht?"

"Eigentlich haben Sie keine verdient, aber ich will gnaedig sein. Hier!"

Sie reichte ihm ihre Hand. Er fuehrte sie mit einem scheinbar demuetig um
Verzeihung flehenden Gesicht an seine Lippen und ging dann fort.

Ein triumphierendes Laecheln umspielte ihren Mund; voller Selbstbewusstsein
sah sie ihm nach. Sie hielt alles bei ihm fuer bare Muenze, die arme, blinde
Flora, und keine noch so leise Ahnung sagte ihr, dass er in seinem Innern
ganz anders ueber sie dachte, als er aeusserlich zeigte. -

Puenktlich um zwei Uhr sollten sich die Teilnehmer an der verabredeten
Schlittenpartie vor dem Althoff'schen Hause am andern Tage versammeln.
Ausser Flora mit ihrem Manne, Referendar Lueders und Althoffs mit den beiden
jungen Maedchen, hatte man noch den Assistenzarzt von Doktor Gerber zu der
Partie aufgefordert. Es wurde beschlossen, nach dem Dorfe zu fahren, in
welchem Rosis Mann Pastor war, weil dorthin die beste Bahn sei und man
erwarten konnte, daselbst, was Essen und Trinken betraf, gut aufgehoben zu
sein. Der Pastor und seine Frau waren natuerlich benachrichtigt und gebeten
worden, zur angegebenen Zeit puenktlich in dem Gasthaus zu sein und dort
fuer ein warmes Zimmer und guten Kaffee zu sorgen.

"Orla, du wirst dir staunen, unsre artige Rosi wiederzusehen, nicht wahr,
Ilschen?" sagte Nellie lustig, waehrend sie zur Schlittenpartie geruestet
vor dem Spiegel stand und noch einen langen weissen Schleier um ihre
Pelzmuetze legte, den sie unter dem Kinn zu einer grossen Schleife
zusammenband, welche ihrem rosigen Gesicht reizend stand.

Ilse lachte.

"Ja wahrhaftig, Orla, du wirst dich wundern, wie die ihren Mann unter dem
Pantoffel hat. Ich sage es ja immer, die Sanften haben es faustdick hinter
den Ohren. Sieht Rosi nicht aus, als koennte sie kein Waesserchen trueben?
Sie hat ein Gesicht wie eine Madonna mit dem Heiligenschein und dabei ist
sie mindestens ebenso widerspenstig, wie meine Wenigkeit."

"Selbstbekenntnis einer edlen Seele," deklamierte Orla feierlich, worauf
alle drei in ein Gelaechter ausbrachen.

"Still, Kinder," mahnte Nellie und lief ans Fenster, "die Schlittens
kommen, ich hoere ihnen klingeln."

Durch die Tuere rief sie:

"Fred, bist du fertig?"

"Ja, Kind," antwortete er und kam herein.

"Hier bin ich."

Vergnuegt eilten die jungen Menschen die Treppe hinunter. Vor der Tuere
hielten vier maessig elegante, aber mit guten Pferden bespannte Schlitten.
In dem ersten sassen Gerbers, in dem zweiten der Referendar und Andres.
Flora, die mit verdrossener Miene neben ihrem Manne sass, hatte verweinte
Augen und begruesste in klaeglichem Tone die Freundinnen. Erst als Nellie sie
fragte, ob ihr etwas fehle, erwiderte sie mit weinerlicher Stimme:

"Denkt nur, beinahe waere mir das ganze Vergnuegen verdorben worden. Mein
Mann wollte nicht mit, er behauptete, sich nicht wohl zu fuehlen, er haette
Kopfschmerzen, Fieber und wer weiss was alles noch. Aber man muss nur die
Maenner kennen. Wenn ihnen der kleine Finger weh tut, stellen sie sich
gleich furchtbar an. Nein, die Schlittenpartie, auf die ich mich so riesig
gefreut habe, wollte ich mir deshalb nicht vereiteln lassen. Wahrhaftig,
Maennchen, ich waere ohne dich mitgefahren."

Sie sah ihren Mann mit trotziger Herausforderung an und zog die Oberlippe
in die Hoehe, wie ein ungezogenes Kind.

"Ich machte dir ja selbst diesen Vorschlag, Flora," entgegnete ihr Mann
ruhig, "aber du sagtest, dann muesste eine Person allein fahren, weil nur
zweisitzige Schlitten bestellt waeren. Das sah ich ein, und um dir das
Vergnuegen nicht zu verderben, fahre ich mit. Nun ist die Sache wohl
abgetan, ich bitte darum."

Es war ihm offenbar unangenehm, dass Flora erzaehlte, was zwischen ihnen
vorgefallen war, aber er bezwang seinen Unmut und nur die tiefe Falte
zwischen seinen starken Brauen und der bestimmte Ton, mit welchem er
sprach, verrieten, dass er sich aergerte.

Flora bemerkte und empfand es nicht, sie hatte nur den einen Gedanken und
der war - die Schlittenpartie! Sie stuerzte auf Orla zu und umarmte sie auf
offener Strasse, denn sie wollte immer zeigen, wie 'intim' sie mit ihr war.
"Die geistige Verwandtschaft zwischen meiner Freundin und mir," hatte sie
zu Lueders gesagt, "schlingt ein festes unaufloesliches Band um uns."

Orla, welche ueberhaupt keine Zaertlichkeiten liebte, wehrte unwillig ab und
sagte mit Entschiedenheit: "Ich bitte dich, Flora, lass doch diese
Liebesbeweise auf offener Strasse, du bereitest vielen Zuschauern nur ein
Schauspiel. Sieh doch die Koepfe an den Fenstern."

In diesem Augenblick trat Althoff mit dem jungen Arzt heran.

"Fraeulein Orla, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Doktor Andres vorzustellen.
Und hier, Doktor: Fraeulein Orla Sassuwitsch, eine liebenswuerdige Kollegin
_in spe_." Ueber Orlas Gesicht flog bei diesen Worten eine leichte Roete,
und ihre Augen senkten sich zu Boden. Sie ahnte nicht, wie schoen sie
gerade in diesem Augenblick war, und dass die Blicke des jungen Mannes
bewundernd auf ihr ruhten. Eigenartig und vornehm sah die Russin aus. Sie
trug ein dunkelgruenes, eng anliegendes Tuchkleid, dessen Saum mit
Otterpelz besetzt war. Von gleichem Pelz waren auch der kostbare
Schulterkragen, der Muff und das Muetzchen, das tief in die Stirn gedrueckt
war.

"Um Gottes willen. Orla, willst du denn in diesem luftigen Aufzuge
fahren?" fragte Flora, "du hast ja nicht einmal eine Jacke an, du
erfrierst ja. Hu!"

Zusammenschauernd wandte sie sich ab.

"O nein, Flora, aengstige dich nicht, ich bin abgehaertet und zog mich in
Russland bei viel strengerer Kaelte niemals waermer an."

"Na," erwiderte Flora, "da bin ich doch zarter besaitet, als du, ich muss
mich ordentlich einhuellen, sonst friert mich."

Ordentlich eingehuellt, ganz vermummt vielmehr sah die junge Frau
allerdings aus in ihren Maenteln, Tuechern und Schleiern.

"Ich meine, wir fahren nun los. _Messieurs, engagez les dames_," rief
Althoff scherzend.

Ilse, welche sah, dass der Referendar auf sie zukam, trat schnell auf
Nellies Mann zu.

"Bitte, bitte, Herr Doktor," fluesterte sie hastig, "darf ich mit Ihnen
fahren?"

"Das wird mir nicht nur eine hohe Ehre, sondern auch ein grosses Vergnuegen
sein," antwortete er mit einer drollig feierlichen Verbeugung.

Lueders wurde von Ilse ziemlich ungnaedig und von oben herab abgewiesen und
zog mit langem Gesicht ab. Was blieb ihm nun anders uebrig, als mit Flora
zu fahren, denn Nellie sass mit Gerber im Schlitten und Orla mit Doktor
Andres. Floras Augen waren ihm gefolgt, als er zu Ilse trat. Sie war
voller Freude darueber, dass ihm diese einen Korb gab, und mit
siegesgewisser Miene sah sie ihn jetzt auf sich zukommen. Seine
Verdrossenheit ueber Ilses Abweisung malte sich deutlich in seinen Zuegen,
aber Flora schien das nicht zu bemerken. Mit ihrem liebenswuerdigsten
Laecheln nickte sie ihm zu und kletterte dann ungeschickt und steif in den
Schlitten, wo sie fast ganz in ihren Umhuellungen verschwand, so dass nur
die von der Kaelte blaeulich angehauchte Nase hervorschimmerte.

"_All right?_" rief Althoff jetzt.

"Ja, ja, _yes_, _oui_," antworteten die lachenden Stimmen durcheinander,
die Pferde zogen an, und mit lustigem Schellengelaeut flogen die Schlitten
ueber die glatte Bahn dahin. Bald hatte man die letzten Haeuser der Stadt im
Ruecken, und grosse Schneeflaechen, von der Sonne beschienen und wie mit
Diamanten uebersaet, breiteten sich zu beiden Seiten des Weges aus.

"Ein weisses, grosses Leichentuch ist ueber die tote Natur ausgebreitet,"
trug Flora mit tragischem Augenaufschlag vor. Aber sie machte heute keinen
Eindruck auf ihren Nachbar, der einsilbig neben ihr sass und ihr nur
zerstreute Antworten gab.

"Lueders, Sie sind heute langweilig," sagte sie schliesslich, "nun, ich
brauche gluecklicherweise die Unterhaltung andrer nicht, um mich zu
amuesieren. Meine Gedanken sind mir die liebsten Gesellschafter," fuegte sie
spitz hinzu und wandte sich von ihm ab zur Seite. In demselben Augenblick
traf ein Schneeball empfindlich ihre Nase und Nellies helles Lachen ueber
den gut gelungenen Wurf verriet die Anstifterin. Flora verstand keinen
Scherz, sie drehte sich deshalb entruestet um und schoss Nellie einen
bitterboesen Blick zu, indem sie aergerlich den Schnee von ihrem Mantel
abschuettelte.

"Ich glaube, Ihre Frau zuernt mich ueber die kleine Spass," sagte Nellie zu
Doktor Gerber.

Er schuettelte mit mattem Laecheln den Kopf, denn er wollte der jungen Frau
nicht recht geben, trotzdem er ueberzeugt war, dass Flora den harmlosen
Scherz ernstlich uebel genommen hatte. Seine mueden Bewegungen fielen Nellie
auf, er hatte sonst etwas Energisches und Kraftvolles in seinem Wesen.

"Fuehlen Sie sich sehr unwohl?" fragte sie ihn teilnahmsvoll.

"Ja," erwiderte er, "es geht mir heute nicht gut, ich weiss, dass ich Fieber
habe, und fuehle heftige Stiche in der Brust beim Atemholen. Aber wir
wollen nicht mehr davon sprechen, es wird schon wieder besser werden. Ein
Arzt darf ja ueberhaupt nicht krank sein, er ueberlaesst das lieber seinen
Patienten, selbst hat er keine Zeit dazu."

Er sprach scherzend, aber die feinfuehlende Nellie empfand, dass er sich
heute zu einem heiteren Ton zwingen und sich sehr elend fuehlen musste.

"O wenn Ihnen nur der kalte Zugluft nicht schadet," sagte sie besorgt,
"hier, bitte nehmen Sie dieser Tuch um Ihren Hals, bitte erlauben Sie
mich."

Er wollte ihr abwehren, aber sie hatte schon ein seidenes Tuch aus ihrer
Tasche hervorgeholt und band es ihm eigenhaendig um.

Fast geruehrt blickte er sie an.

"Sie sind eine fuersorgliche kleine Frau, tausend Dank!"

Er ergriff ihre Hand und fuehrte sie an seine Lippen. Nellie wurde rot und
entzog ihm schnell ihre Hand.

"O," sagte sie, "Sie muessen mir nicht fuer eine Kleinigkeit ein so grosser
Dank geben. Ich bin es von mein Mann so gewohnt, ich muss fuer ihn an alles
denken und sorgen. O, er ist so leichtsinnig, er sieht nie nach die
Thermometer, ob es kalt oder warm draussen ist."

Doktor Gerber dachte unwillkuerlich an den Unterschied zwischen seiner Frau
und Nellie. Er schaetzte letztere hoch, ihr echt weiblicher Sinn, ihre
haeuslichen Gaben hatten ihn oft entzueckt. Im stillen hatte er gehofft,
Flora wuerde von ihr lernen, aber bald musste er einsehen, dass auch das
beste Beispiel sie nicht aendern konnte. Sein Beruf liess ihm zum Glueck
nicht viel Zeit zum Gruebeln uebrig, aber in den wenigen Erholungsstunden
litt er schwer unter dem Druck der Ungemuetlichkeit in seinem Heim, und nur
wenn er in die unschuldigen Augen seines Kindes sah, fiel es wie ein
Lichtstrahl in die oede Leere seiner Brust. Nellie betrachtete voller
Mitleid ihren stummen Nachbar, dessen Gedanken sich deutlich in seinen
Zuegen verrieten. Sie hatte schon oft traurig empfunden, dass dieser Ehe die
Weihe des wahren, echten Glueckes fehle, und fragte sich dann: liebt ihn
Flora nicht und ist sie blind dagegen, dass er leidet? Nein, die wahre
Liebe kannte sie nicht, - wuerde sie sonst stets nur an sich denken und
ueber ihre elende Stuemperei Mann und Kind vergessen? Wusste sie nicht, wie
schoen es ist, den Beruf des liebenden Weibes mit heiliger Pflichttreue zu
erfuellen? Nellie war sich desselben tief bewusst, fuer sie gab es keinen
andern Wunsch, als ihren Mann zu begluecken, seine Liebe war ihr das
Hoechste, Herrlichste auf dieser Welt! Der einzige Fred! In dem liebe- und
glueckerfuellten Gedanken an ihn wandte sie sich nach ihm um, sie musste ihn
in diesem Augenblick sehen, einen Blick von ihm erhaschen.

"Fred!" rief sie und nickte ihm innig zu. Er war im lebhaften Gespraech mit
Ilse, die ihrer heiteren Laune die Zuegel schiessen liess, weil sie froh war,
dem Schicksal entronnen zu sein, mit dem ihr so verhassten Referendar
fahren zu muessen. Sie erzaehlte sich mit ihrem frueheren Lehrer lauter Witze
und Scherze, und immer von neuem ertoente ihr froehliches Lachen.

Ploetzlich jagte der letzte Schlitten, in welchem Orla mit ihrem Begleiter
sass, in sturmesaehnlicher Geschwindigkeit an ihnen und den andern vorueber.
Orla hatte die Zuegel in der Hand, sie sass kerzengerade aufgerichtet. Die
scharfe Luft hatte ihre Wangen geroetet, Feuer und Lebenslust blitzten aus
ihren Augen. Als ihr Schlitten an Flora vorbeisauste, fuhr diese mit einem
Aufschrei zusammen und schloss wie ohnmaechtig die Augen. Lueders aber schien
die Schwaeche seiner Nachbarin nicht zu bemerken, er war nicht im mindesten
besorgt um sie, im Gegenteil, mit einem kalten hoehnischen Laecheln blickte
er sie von der Seite an. Als Flora die Augen wieder aufschlug, sah sie,
wie sich Orla umdrehte und ihr mit dem heitersten Gesicht zurief, ob sie
sich von ihrem Schrecken erholt habe. Sie hatte die Zuegel straff angezogen
und liess die Pferde in langsamem Tempo gehen.

"Hoffentlich habe ich nicht auch Sie erschreckt," wandte sie sich an ihren
Nachbar, "ich vermute es fast, weil Sie mir die Zuegel entreissen wollten.
Sie dachten gewiss, die Pferde gingen durch?"

"Natuerlich glaubte ich es, und ist mir das zu verdenken, da ich doch keine
Ahnung haben konnte, welche kuehne Rosselenkerin Sie sind? Wie harmlos
sagten Sie zu mir: bitte lassen Sie mich doch einmal die Zuegel nehmen, ich
moechte auch mal versuchen zu fahren. Offen gesagt, das war recht
hinterlistig von Ihnen."

"Nein," lachte sie, "es war nicht hinterlistig von mir, denn ich wusste in
der Tat nicht, ob ich das Fahren nicht verlernt hatte; ich habe so lange
keinen Zuegel in der Hand gehabt. In dem Augenblick aber, als Sie mir
dieselben gaben, da kam das Bewusstsein der Sicherheit wieder ueber mich,
die alte Leidenschaft erwachte in mir, ich war wieder daheim in
Petersburg, ich sass in unserm Schlitten, es waren unsre Ponys, die ihn
zogen, kurz und gut, es war meine lebhafte Einbildungskraft, die mich
fortriss und Ihnen diesen Streich spielte. Verzeihen Sie?"

"O, von Verzeihen kann hier keine Rede sein, Sie haben mir ja einen
riesigen Spass bereitet, gnaediges Fraeulein. Ich bleibe jetzt bequem in
meiner Ecke sitzen und lasse mich von schoenen Haenden spazieren fahren,
denn Sie verstehen es ja weit besser als ich. Sie reiten wohl auch?"

"Und wie gern," versetzte sie mit blitzenden Augen.

"An Unerschrockenheit fehlt es Ihnen nicht, dafuer habe ich Beweise. Fuer
ihren kuenftigen Beruf ist das uebrigens viel wert, denn es gibt da vieles
zu ueberwinden, selbst fuer einen Mann."

"Ja, ja, ich weiss," gab sie kurz und halb verlegen zur Antwort.

Wie merkwuerdig, es war ihr peinlich, wenn er davon anfing. Es kam ihr vor,
als laege ein gewisser Spott in seinen Worten, als umspiele ein mitleidiges
Laecheln seine Lippen, wie wenn er daechte, du eine schwache Frau willst
dich an eine solche Aufgabe wagen? Schon verschiedene Male hatte er sie
heute ueber ihre Zukunftsplaene befragt, die natuerlich ihn interessierten,
da er selbst Arzt war, sie hatte ihm aber immer ausweichend geantwortet.
Mit Althoff und Gerber besprach sie doch eingehend denselben Gegenstand
und holte ausfuehrlich ihren Rat ein; warum hatte sie eigentuemliche Scheu,
mit Andres darueber zu sprechen? Sie wusste sich das selbst nicht zu
erklaeren.

Das fuer mitleidig gehaltene Laecheln um seinen Mund deutete sie aber
falsch. Er laechelte, weil er sich ueber das junge schoene Menschenkind
freute, sowie ueber ihre klugen durchdachten Antworten, die sie ihm gab,
und die so ganz anders lauteten, wie bei den hiesigen Damen seiner
Bekanntschaft. Er war ueberzeugt, dass sie keine oberflaechliche Juengerin der
Wissenschaft werden, dass sie leicht und gruendlich erfassen und lernen
wuerde. Und dennoch, - er bedauerte sie, denn der jungfraeuliche Hauch, der
sie trotz ihres maennlichen Geistes umgab, wuerde abgestreift werden. Voll
Bewunderung folgte er ihren kraftvollen anmutigen Bewegungen und verglich
sie auch hierin wieder im stillen mit den zimperlichen Kleinstaedterinnen,
welche vor der Zeit schlaff und alt wurden, weil sie ohne Mark und Kraft
waren, was ihre schlechte Haltung und der schleppende, aller Spannkraft
entbehrende Gang auf den ersten Schritt bewiesen. In Orla vereinten sich
jugendliche Kraft mit Anmut, und wie sie so dasass, wurde er nicht muede sie
anzuschauen.

Sie fuhren jetzt dicht am Walde hin, manchmal streiften sie mit dem Kopf
einen unter der Schneelast tief gebeugten Zweig, und der kalte, prickelnde
Schnee staeubte ihnen ins Gesicht. Die Daemmerung brach schon fruehzeitig
herein, waehrend der Himmel noch von der untergehenden Sonne in ein
zartrosa Violet getaucht war, und matt glaenzend stand der Mond am Himmel.
Der zauberhafte Anblick der entzueckenden Winterlandschaft, das tiefe
Schweigen ringsum, nur unterbrochen durch das Schellengeklingel, das aus
der Ferne von den andern weit zurueckgebliebenen Schlitten wie ein Echo
heruebertoente, hielt die beiden jungen Menschen wie in einem magischen Bann
umfangen. Sie sassen schweigend nebeneinander, als fuerchteten sie den
Zauber durch Worte zu zerstoeren. Erst als sie von weitem rote Ziegeldaecher
schimmern sahen und fernes Hundegebell schon die Ankoemmlinge begruesste,
erwachten beide wie aus einem Traum, und Orla wandte sich zu ihrem Nachbar
mit den Worten:

"Ich glaube, wir sind am Ziel. Wissen Sie Bescheid, wo sich das bewusste
Gasthaus befindet, das uns aufnehmen soll?"

Er bejahte, und schon nach wenigen Minuten hatten sie dasselbe erreicht.
Mit einem festen Ruck zog Orla die Zuegel an, schnaubend und dampfend
standen die Pferde still. Der Wirt eilte dienstfertig herbei, und auch
seine wohlbeleibte Ehehaelfte begruesste die jungen Leute unter vielen
unterwuerfigen Knixen.

"Herr und Frau Pastor wuerden Herrn und Frau Doktor im Zimmer empfangen,"
sagte sie zu den beiden, die eben ins Haus treten wollten.

"Nein, das ist zu komisch," rief Orla laut lachend, war aber rot geworden
und konnte eine gewisse Verlegenheit nicht verbergen.

"Wir sind nicht Herr und Frau Doktor, liebe Frau," erklaerte Andres
ebenfalls lachend der Wirtin. "Sie verwechseln uns mit den Herrschaften,
die auch gleich kommen werden."

Die Frau entschuldigte sich vielmals und sagte dann mit einem vielsagenden
Blick auf das junge Maedchen:

"Na, was nicht ist, kann noch werden," denn sie war nun einmal der
Meinung, dass das schoene Paar zusammengehoeren muesste. Orla wurden die Reden
der geschwaetzigen Alten ungemuetlich, sie wollte deshalb ins Haus gehen, um
ihre Freundin zu begruessen.

Andres ging mit ihr hinein.

Rosi und ihr Mann kamen ihnen schon auf dem Flur entgegen. Rosi umarmte
Orla mit steifer Wuerde und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Ich war ganz ueberrascht, wie ich von Nellie erfuhr, dass du hier bist,"
sagte sie, als sie im Zimmer waren, "aber ich freue mich sehr, dich
wiederzusehen. Kamst du nur nach Deutschland, um Althoffs zu besuchen,
liebe Orla oder fuehrt dich noch ein andrer Zweck hierher?"

"Du erlaubst wohl," unterbrach sie Orla, "dass ich dir Herrn Doktor Andres
vorstelle und dich bitte, mich mit deinem Manne bekannt zu machen."

Rosi war innerlich empoert ueber die Zurechtweisung, wie sie Orlas Bitte
nannte. Mit einer kaum merklichen Neigung ihres Kopfes erwiderte sie die
Verbeugung des jungen Arztes und stellte dann ihren Mann vor, dessen Augen
unablaessig auf Orlas Gestalt geruht hatten. Rosi hat mir ja niemals
erzaehlt, wie schoen diese Freundin von ihr ist, dachte er, und es waere doch
wahrhaftig der Muehe wert gewesen.

Lautes Sprechen und Lachen draussen kuendigte jetzt die Ankunft der
Zurueckgebliebenen an. Orla lief ans Fenster und die andern folgten ihr
dahin nach. Sie klopfte an die Scheiben und nickte den Freunden gruessend
zu. Leicht, wie ein Vogel vom Zweig, war Ilse aus dem Schlitten gehuepft,
und Flora, welche das mit neidischen Blicken beobachtet hatte, nahm jetzt
einen Anlauf, ebenso grazioes, wie Ilse, herunterzuspringen. Aber,
verwickelte sie sich in ihre vielen Huellen und Tuecher, oder war ihre
Ungelenkigkeit daran schuld, kurz und gut, sie stolperte und fiel, so lang
sie war, in den Schnee. Man lachte ueber diesen kleinen Unfall und kam ihr
unter Scherzen diensteifrig zu Hilfe. Flora machte denn auch gute Miene
zum boesen Spiel.

"Ich begreife nicht, wie man ueber solches Missgeschick auch noch lachen
kann," sagte Rosi kopfschuettelnd und ging Althoffs und Gerbers entgegen,
welche soeben eintraten. Ilse eilte auf Orla zu.

"Himmlisch, kannst du aber fahren," rief sie voller Begeisterung, "so gut
wie du kann ich es allerdings nicht."

"Auch ich mache Ihnen mein Kompliment, Fraeulein Orla," sagte Althoff
hinzutretend.

"Jetzt lasst eure schoenen Komplimente bis nachher," unterbrach ihn Nellie,
"und kommt zum Kaffeetrinken."

"Du bist wohl eifersuechtig, Nellie, dass dein Mann zu tief in Orlas schoene
Augen sieht?" neckte sie Flora.

"O nein," lachte Nellie, leicht erroetend, aber sie fuehlte sich doch etwas
getroffen, denn sie besass wirklich eine kleine Anlage zur Eifersucht.

Lebhaft plaudernd setzte man sich an den Kaffeetisch, und Nellie uebernahm
die Rolle der Wirtin. Die maechtige weisse Kaffeekanne, welche mitten auf
dem Tische prangte, erregte allgemeine Heiterkeit. Althoff meinte, sie
saehe nicht vertrauenerweckend aus, und als ihr der erste Strahl so
durchsichtig und hell entstroemte, sank er mit einem komisch geseufzten
"Ach, du lieber Gott" in seinen Stuhl zurueck.

"O, du leckres Mann," verwies ihn Nellie, die sich innerlich selbst ueber
diesen Trank entsetzte, "du darfst nicht unbescheiden sein, der Kaffee ist
ganz schoen."

"Ich glaube auch, dass der Kaffee gut ist," ergriff der Pastor ernsthaft
das Wort, "wir trinken ihn nie staerker. Meine Frau meint, starker Kaffee
waere ungesund, nicht wahr Rosi?"

Sie schien seine Frage zu ueberhoeren.

"Ich haette euch so gern gebeten, in unserem bescheidenen Hause fuerlieb zu
nehmen," wandte sie sich an Nellie, "aber die Raeume sind so eng, wir
wohnen so beschraenkt, da dachte ich, das wuerde nicht gemuetlich fuer euch
sein."

Den wahren Grund, weshalb sie keine Gaeste haben wollte, verriet sie
natuerlich nicht. Als die Nachricht von Nellie eintraf, dass sie kommen
wuerden, hatte Adolf ihr gesagt, dass sie Althoffs und die andern doch
eigentlich einladen muessten, da sie von ihnen schon so oft und so
freundlich aufgenommen worden waren. Er dachte dabei an den vergnuegten
Sonntag bei Althoffs, den er nicht vergessen konnte, denn er war wie ein
Lichtstrahl in sein einfoermiges Leben gefallen. Mit diesem Vorschlag war
er aber bei Rosi schlecht angekommen. Sie hatte soeben eine gruendliche
Hausreinigung gluecklich vollendet, tagelang gescheuert; und nun sollten
ihr die Fussboeden wieder schmutzig getreten, alles wieder in Unordnung
gebracht werden! Nein, auf keinen Fall! Der Pastor wurde durch ihre
Entschiedenheit so eingeschuechtert, dass er keine weiteren Einwendungen
wagte, trotzdem er die Freunde sehr gern bei sich gesehen haette. Um ihr
moeglichstes zu tun, hatte sie einen grossen Kuchen gebacken. Derselbe
prangte jetzt, in dicke Streifen geschnitten, die quer uebereinandergelegt
und hoch aufgeschichtet waren, auf dem Kaffeetisch.

"O, dieses furchtbare Bauernkuchen," fluesterte Nellie Ilse heimlich ins
Ohr und nahm aus einem Koerbchen feines Gebaeck heraus, das sie mitgebracht
hatte.

"Er sieht so trocken aus," erwiderte Ilse, "wir muessen aber davon essen,
sonst wird Roeschen boese."

Nach der langen Fahrt in der Kaelte schmeckte es allen herrlich, selbst
Rosis Kuchenberg verschwand, und die grosse Kaffeekanne wanderte schon zum
zweiten Male hinaus, um frisch gefuellt zu werden. Sogar Althoff liess sich
zu einer zweiten Tasse herab, begleitete aber jeden Schluck mit einer
drolligen Grimasse.

Als die Wirtin die Tassen forttrug und den Tisch abraeumte, verschwand
Flora mit geheimnisvoller Miene. Die Herren blieben sitzen und zuendeten
sich eine Zigarre an, die Freundinnen aber gingen plaudernd Arm in Arm im
Zimmer auf und ab. Das Gasthaus war schon einige Jahrhunderte alt, das
Gebaeude gehoerte frueher zu einem Kloster, und erst die Grosseltern der alten
Wirtsleute hatten eine Wirtschaft darin errichtet. Baulich war wenig
veraendert, und gerade das Altertuemliche gab dem Ganzen etwas ungemein
Gemuetliches. Der Saal, in welchem die Gesellschaft sich befand, mochte
einst das Refektorium gewesen sein; es war ein grosser Raum, ringsum mit
Eichenholz getaefelt, das die Zeit fast schwarzbraun gefaerbt hatte. Ebenso
dunkel waren auch die massigen, dicken Balken in der Decke; ein alter
Kronleuchter in Gestalt eines Reifes, welchen heute brennende Kerzen
schmueckten, hing am mittelsten Balken. Die dicken Mauern bildeten an den
Fenstern tiefe Nischen, mit molligen Plaetzchen, zu welchen man eine Stufe
hinaufsteigen musste. Die niedrigen Fenster gingen nach dem Garten hinaus
und lagen nicht hoch ueber der Erde, so dass man draussen bequem mit der Hand
hineinreichen konnte. In einem der Erker war zu beiden Seiten Efeu in
niedrige, lange Kasten gepflanzt. Die gruenen Ranken hatten sich fest an
die alten Mauern angeklammert und waren so ueppig gewachsen, dass sie die
ganzen Waende bedeckten und eine reizende Laube bildeten. Hohe
korbgeflochtene Waende zu beiden Seiten, ebenfalls mit Efeu bewachsen,
liessen nur einen schmalen Eingang frei. Dahinter sass man auf dem alten
geschnitzten Eichenholzstuhl mit verblichenem Lederbezug vollstaendig
verborgen. Man konnte sich kein lauschigeres Versteck denken.

Die jungen Damen blieben bewundernd davor stehen und waren entzueckt ueber
diese gruenende Laube mitten im Winter. Sie malten sich aus, wie schoen es
sein muesste, hier so abgeschlossen und ungestoert ueber einem Buche zu
sitzen.

Da wurden sie ploetzlich durch erstaunte 'Ah's' und 'Oh's' der Herren
aufgeschreckt. Sie sahen sich um und erblickten Flora im weissen Kleide,
das ueberall mit glaesernen Eiszapfen behaengt war; einen weissen Schleier,
mit kleinen Wattefloeckchen besetzt, hatte sie um den Kopf geschlungen, und
das alles war mit glitzerndem Silberstaub bestreut. Man konnte keinen
Augenblick im Zweifel sein, dass sie ein Sinnbild des Winters vorstellen
wollte.

In der Mitte des Saales blieb sie stehen und deklamierte mit vielem Pathos
ein langes Gedicht, das natuerlich ihrer Feder entstammte. Es war darin
viel vom kalten Winter, von Schnee und Eis die Rede. Als sie geendet
hatte, blickte sie siegesgewiss umher und sah in lauter vergnuegt lachende
Gesichter. Sie glaubte natuerlich, die Freude ueber ihr schoenes Gedicht waere
es, welche die Zuhoerer so heiter gestimmt haette, und als man sogar in die
Haende klatschte und ihr 'bravo' zurief, strahlte sie, und ein
triumphierender Blick flog zu ihrem frueheren Lehrer hinueber; er sollte ihn
daran erinnern, wie er damals in der Pension ihre Dichtung zu der
Vorsteherin Geburtstag so schnoede abgewiesen hatte. Jetzt musste er doch
einsehen, wie er ihr grosses Talent verkannt und wie tiefes Unrecht er ihr
zugefuegt hatte.

Auf eine Person aber hatte ihr Gedicht einen wirklichen Eindruck ausgeuebt,
und das war die alte Wirtin. Sie hatte Traenen der aufrichtigsten Ruehrung
in den Augen, ueber die sie oefter verstohlen mit dem Schuerzenzipfel fuhr.
Flora weinte beinahe mit, als sie die Frau sah, und versprach, ihr das
Gedicht zu schicken.

"Es wohnt doch oft in einfachen Leuten der wahre Sinn fuer Poesie; der
Geist, noch ungekuenstelt und natuerlich, begreift leichter das Edle,
Schoene."

"Unbescheiden bist du gar nicht, Flora," lachte Orla, "das muss ich
gestehen."

"Orla," versetzte Flora ernst, fast feierlich, "du, der die enge Welt des
Weibes zu klein wurde, wie mir, du welche die Schranken durchbrachst, wie
ich es tat, du, welche eine Juengerin auf dem Gebiete der Wissenschaft
werden willst, du solltest nicht spotten, wo es sich um so wichtige Dinge
handelt."

"Was meint denn Flora mit der Juengerin der Wissenschaft?" fragte Rosi
neugierig.

"Nun, ganz einfach," versetzte Orla kurz, "ich will Medizin studieren."

"Du willst" - Rosi prallte foermlich zurueck. "Du willst unter die Studenten
gehen?"

"Wie, Sie wollen studieren?" fragte jetzt auch der Pastor. "Das ist ja
famos!"

Ein verweisender Blick seiner Frau traf ihn als Strafe fuer seinen
begeisterten Ausruf; er bemerkte ihn aber nicht, da er Orla anstaunte.
Wahrscheinlich beneidete er im stillen die Studenten, die naechstens neben
so viel Schoenheit und Geist sitzen durften. So etwas war ihm waehrend
seiner Studienzeit leider niemals vorgekommen. Rosi konnte sich von ihrem
Entsetzen ueber Orlas Entschluss noch nicht erholen, sie fragte Nellie, ob
Orla nicht Spass gemacht haette, und wollte es nicht glauben, als diese ihr
fest versicherte, dass Orla wirklich im Ernst gesprochen habe.

"Unbegreiflich," murmelte Rosi vor sich hin, und laut sagte sie zu Orla:

"Nun, Orla, dann wuensche ich dir viel Glueck bei den Studenten. Da musst du
natuerlich auch das Kneipen und Raufen lernen, was doch wohl die Hauptsache
im Studentenleben ist. Ich an deiner Stelle wuerde am liebsten gleich
Maennerkleidung anlegen, denn als Frau unter den Studenten wirst du dir
gewiss manches gefallen lassen, manches aushalten muessen."

Man haette der sanftblickenden Rosi eine so spoettische Bemerkung kaum
zugetraut. Orla hatte ihre beleidigenden Worte ruhig mit angehoert und
wollte ihr eben darauf antworten, als ihr Andres zuvorkam.

"Frau Pastorin," sagte er sehr bestimmt, "Sie trauen Ihrer Freundin" - er
betonte das Wort - "ja ungeheuer wenig Taktgefuehl zu und scheinen das
Studieren so aufzufassen, als ob es nur aus Kneipen und Raufen bestaende.
Gewiss, der Student fuehrt ein lustiges Leben, wenn er nicht ein geborener
Philister ist, er kneipt und rauft mitunter. Ihr Herr Gemahl, der gewiss
auch eine froehliche Studienzeit verlebt hat, wird Ihnen davon am besten
erzaehlen koennen."

Hier raeusperte sich der Pastor vernehmlich. Mein Gott, woher wusste denn
dieser Mensch etwas von seiner Studentenzeit? Sollte Althoff geplaudert
haben? Er wuerde sich wohl hueten, seiner Rosi etwas davon zu erzaehlen.

"Ich versichere Sie, Frau Pastorin," fuhr der junge Mann fort, "es sind
nicht die schlechtesten Menschen, welche Sie als Raufbolde verachten, und
ebensowenig sind diejenigen die besten, welche tun, als koennten sie kein
Waesserchen trueben. Die Jugend muss austoben und kann auch mal ueber den
Strang schlagen. Wer inneren Gehalt und Charakter besitzt, dem wird die
ernste Pflicht zu arbeiten schon zur rechten Zeit einfallen, der wird
trotzdem ein brauchbares Mitglied der Menschheit werden. Doch, was ich vor
allen Dingen sagen wollte, Frau Pastorin: der Student mag raufen, oder auf
den Baenken der Hoersaele sitzen, niemals wird er die Ritterlichkeit gegen
eine Dame vergessen. Und deshalb braucht Ihre Freundin keine
Maennerkleidung anzulegen, sie braucht die Weiblichkeit nicht abzustreifen,
wenn sie auch das hergebrachte Gebiet der Frau verlaesst. In dieser
Beziehung wird Fraeulein Sassuwitsch nichts zu befuerchten haben, denn
keiner ihrer kuenftigen Studiengenossen wird ihr jemals zu nahe treten.
Wehe dem, der das wagte!"

Bei den letzten Worten hatten seine Augen fast drohend gefunkelt und alle
waren erstaunt ueber diese warme Verteidigung. Flora aber eilte stuermisch
auf ihn zu und drueckte ihm unter ueberschwenglichen Dankesworten die Hand,
weil er so lebhaft fuer das Weib eingetreten sei, welches sich aus den
alltaeglichen Verhaeltnissen befreit habe, um einem hoeheren Triebe zu
folgen.

Sie geriet foermlich in Verzueckung und klagte ihm immer wieder vor, wie
bitter und schwer sie oft darunter zu leiden haette, dass sie sich noch mit
andern Dingen beschaeftige, als mit Kochen und Struempfestopfen. Es haette
ihr so wohl getan, ein solches Urteil aus seinem Munde zu hoeren. Sie
sprach und geberdete sich dabei so lebhaft, dass die Eiszapfen an ihrem
Kleid bestaendig aneinander klirrten. Er hoerte aber nur halb auf die
schwatzende unruhige Gestalt vor ihm und nickte nur mechanisch einige Male
mit dem Kopfe, indem er sich willenlos von ihr die Hand druecken liess.
Seine Augen suchten Orla, welche an den Efeu-Erker getreten war und die
Blaetter und Ranken spielend durch die Finger gleiten liess. Warum ertappte
sie sich gerade diesem Mann gegenueber auf einer Befangenheit, die ihr
sonst fremd war, warum scheute sie sich aufzusehen und seinem Blicke zu
begegnen? Es war ihr unbehaglich, dieses Gefuehl, und doch, wie ein Echo
toenten seine Worte in ihrem Herzen fort.

"Orla, du bist ja so in Gedanken versunken," sagte da Ilse neben ihr.
"Komm, ich glaube Rosi ist aergerlich auf den Doktor, sieh nur, was sie fuer
ein boeses Gesicht macht!"

Sie hing sich an Orlas Arm und fuehrte sie mit sich fort. Sie selbst war
voller Begeisterung ueber Andres, weil er die Freundin so warm verteidigt
hatte, und wunderte sich nur, dass diese so wenig darauf einging, ja nicht
einmal damit einverstanden zu sein schien, dass der junge Mann so lebhaft
ihre Partei ergriffen hatte. Ilse verglich ihn im stillen mit Leo; ganz so
wuerde auch er gesprochen und gleich offenmuetig eine gute Sache verteidigt
haben. Sie goennte Rosi die Abfertigung, denn sie hatte sich ueber deren
schroffes Urteil sehr geaergert.

Die Frau Pastorin sass neben ihrem Mann und machte in der Tat ein sehr
boeses Gesicht. Leise und aufgeregt sprach sie auf ihn ein, und versuchte
in ihrer Empoerung, dass ihr so etwas gesagt worden war, ihn zum Fortgehen
mit ihr zu bereden.

"Aber Kind, es war doch nicht so boese gemeint," suchte er sie zu
beruhigen, "was sollen sie denken, wenn wir jetzt fortgehen!"

"Du haettest fuer mich eintreten muessen," sagte sie erregt, "aber natuerlich,
deine Frau kann beleidigen wer will, dir ist es gleichgueltig."

"Aber Rosi," verteidigte er sich, "wie kannst du nur so etwas sagen! Ich
fand, der Doktor hatte ganz recht."

"Natuerlich, nun gibst du ihm auch noch recht, da hoert doch alles auf."

Wuetend drehte sie ihm den Ruecken zu.

Eine rechte Stimmung wollte nach diesem Zwischenfall in der Gesellschaft
nicht wieder aufkommen. Nun wurde auch noch Floras Mann, dessen
Anwesenheit im Dorfe bekannt geworden war, zu einem schwer Kranken geholt.
Er zoegerte selbstverstaendlich keinen Augenblick und sah sich suchend nach
Flora um, die abermals verschwunden war, diesmal mit dem Referendar. Er
bat daher Nellie, sie moechte Flora mitteilen, dass er in kurzer Zeit wieder
zurueck sein wuerde. Kaum war er fortgegangen, als sich die Tuere oeffnete,
und aus einem Nebengemach die Klaenge eines Strauss'schen Walzers ertoenten.
Flora erschien auf der Schwelle, waehrend man Lueders vor einem alten
Klavier sitzen sah.

"O, das ist schoen!" rief Nellie vergnuegt ueber diesen Einfall. "Florchen,
du bist eine Engel mit deine Ueberraschungen heute. O, das herrliche
Walzer!"

Sie wippte mit dem Fusse den Takt und summte halblaut die Melodie dazu.

                              [Illustration]

Mit den Klaengen der 'schoenen blauen Donau' war wieder Leben in den kleinen
Kreis gekommen. Die Herren sprangen auf und holten sich die Damen zum
Tanze. Eben wirbelten Althoff und Ilse an Nellie vorbei, ihnen folgten
Andres mit Orla, und als sich die beiden Maedchen endlich mit heissen Wangen
niederliessen, tanzte Nellie mit ihrem Mann und der junge Arzt forderte
Rosi zum Tanze auf. Sie nahm bei seiner Bitte eine unnahbare und
beleidigte Miene an und lehnte dankend ab, aber er bat so liebenswuerdig,
dass sie sich schliesslich von dem Zauber seiner Persoenlichkeit hinreissen
liess und einwilligte, mit ihm zu tanzen. Ganz versoehnt und sogar heiter
laechelnd kehrte sie auf ihren Platz zurueck. Welche Frau bliebe auch
unempfindlich gegen die kleinste, ihr dargebrachte Huldigung eines schoenen
Mannes!

Der Pastor hatte sich schleunigst Ilse zum Tanze geholt, als ihm seine
Frau entfuehrt wurde, er tanzte aber so ungeschickt, dass Ilse seinen kuehnen
Spruengen kaum folgen konnte und verschiedene Male mit ihm stolperte. Als
er sich ganz bestuerzt entschuldigte, sagte sie freundlich, er tanze ja
sehr gut, denn sie wollte ihm das Vergnuegen nicht verderben. Dem flotten
Walzer folgte eine Polka, dann ein Galopp und so weiter; man wurde nicht
muede, alles plauderte, scherzte und lachte, die lustigste Laune war wieder
eingekehrt. Nellie loeste jetzt den Referendar ab, der sofort zu Ilse
eilte, um sie zum naechsten Tanz aufzufordern. Sie schuetzte aber Muedigkeit
vor, und wieder musste er mit einem Korbe abziehen. Eine zornige Roete stieg
ihm ins Gesicht und er biss sich wuetend auf seine schmalen Lippen.

"Nun ist's genug," entschied Althoff, als eben ein neuer Tanz beginnen
sollte. "Wir muessen an das Abendessen denken. Herr Pastor, wollen wir
zusammen den Punsch brauen? Und du, Nellie, hast ja noch allerhand
Delikatessen mitgebracht und solltest dich mit der Wirtin verstaendigen!"

"_O yes, darling_, ich werd schon machen. Die Herren brauen den Punsch,
wir Damens decken den Tisch, - o, es wird fein. Kommt Kinder!"

Die Wirtin war schon dabei, im Nebenzimmer den Tisch zu decken, als Nellie
sie aufsuchte. Die jungen Damen halfen der alten Frau unter Lachen und
Scherzen, so dass diese meinte, eine so lustige Gesellschaft sei lange
nicht bei ihnen eingekehrt.

Nur Rosi bewahrte ihre steife Wuerde, ihr pedantischer Sinn verstand keine
harmlose Heiterkeit.

Floras Mann hatte durch einen Boten bestellen lassen, dass man mit dem
Abendessen nicht auf ihn warten solle, da er noch laengere Zeit fortbleiben
muesse.

"Habe ich nun nicht recht?" seufzte Flora. "Wird mir nicht jedes Vergnuegen
vergaellt? Wahrhaftig, wer die Frau eines Arztes wird, uebernimmt damit die
Rolle einer Entsagenden."

Heute abend jedoch fiel Florchen gaenzlich aus dieser Rolle, sie vergass die
Abwesenheit ihres Gatten sehr bald und stimmte in die Ausgelassenheit der
andern mit ein. Mitten auf dem Tisch prangte die dampfende Terrine, und
Doktor Althoff forderte Flora scherzend auf, in ihrem weissen Gewande heut
abend die Hebe zu spielen. Sie liess sich das nicht zweimal sagen, stellte
sich aber bei diesem Amt so ungeschickt an, dass sie jedesmal vorbeigoss und
der Punsch am Glase herunterlief, bis schliesslich Nellie sagte: "Lass mir
nur machen, Flora," wobei sie ihr den Loeffel aus der Hand nahm.

Vergnuegt laechelnd sass der Pastor hinter seinem Glase. Rosi hat ihn zu
Anfang beiseite gezogen und sich fest von ihm versprechen lassen, dass er
nicht, wie damals bei Althoffs, zu viel trinken wuerde. Sie selbst nippte
kaum am Glase, indem sie behauptete, keinen Wein vertragen zu koennen, da
er ihr zu Kopf stiege.

Ilse war merkwuerdig still geworden. Sie wusste selbst nicht, wie es kam,
dass ihre Gedanken diesen Abend immer in die Ferne schweiften und an einem
Wesen haften blieben, welches Leos Zuege trug. Erinnerten sie die
leuchtenden Augen des jungen Arztes, der neben Orla sass und in eifriger
Unterhaltung keinen Blick von dieser wandte, an die Augen ihres Leo, die
mit so viel Glueck und Innigkeit auf ihr zu ruhen pflegten? Oder war es das
silberne Mondeslicht, das Erinnerungen in ihr wachrief? Liebten sie doch
beide im Mondenschein zu schwaermen. Oft war sie mit ihm Hand in Hand weit
hinaus ueber die Felder und Wiesen gegangen und sie hatte sich ganz dem
Zauber eines Mondscheinabends hingegeben. Oder sie lehnten zusammen am
Fenster und sahen zu, wie die Strahlen des Mondes durch das Blaetterwerk im
Garten brachen. Ob er jetzt wohl auch an sie dachte, ob er, wie sie,
solche Bilder an seinem Geiste vorueberziehen liess?

Das Lachen und Stimmengewirr rief sie in die Wirklichkeit zurueck, und doch
haette sie gern so noch weiter getraeumt. Sie blickte durch die offene Tuer
in den Saal, wo die Kerzen erloschen waren und statt dessen das Mondlicht
voll hereinflutete. Wie magnetisch davon angezogen, stand sie auf und ging
hinein. Sie hatte den dringendsten Wunsch, jetzt allein zu sein, um sich
ungestoert in die Vergangenheit senken zu koennen. In dem efeubewachsenen
Erker auf dem alten Stuhl liess sie sich nieder und schmiegte den Kopf an
die hohe Lehne. Hier uebergoss der Mond alles mit einem blaeulichen Lichte,
welches auf den dunklen Blaettern glaenzte. Nun war es fast wie daheim, wenn
sie und Leo auf der von wildem Wein umlaubten Veranda sassen und er ihr
unter dem gruenen Blaettergewirr tausend suesse Liebesworte zufluesterte. Es
kam ihr vor, als waere sie ploetzlich alt und diese Zeit laege weit, weit
hinter ihr. Wuerde sie denn noch einmal wiederkehren, oder war Liebe und
Glueck fuer immer vorbei? Dann allein durch ihre Schuld, raunte ihr eine
innere Stimme zu. Sie musste sich die Hand auf das unruhig klopfende Herz
pressen.

Flora hatte dem Verschwinden Ilses mit den hochtrabendsten Worten eine
Erklaerung gegeben. "Die Sehnsucht nach dem Ferngeliebten," sprach sie
theatralisch, "zaubert ihr sein Bild hierher. Sie ist nun mit ihm vereint,
und wir duerfen das glueckliche Paar nicht stoeren."

Sie erhob die Arme und streckte sie aus, wie wenn sie als Schutzengel ueber
die beiden zu wachen haette.

"Hu, hu, du siehst ja wie ein Geist aus, ich fuerchte mir," rief Nellie und
brachte damit Flora, die wie geistesabwesend vor sich hinstarrte, in die
Wirklichkeit zurueck.

Der Referendar, welcher sich Ilse beim Abendessen nicht mehr genaehert
hatte, nachdem er heute wiederholt von ihr abgewiesen worden, war ihr mit
seinen stechenden Augen in den Saal gefolgt, und so sah er auch, wie sie
in dem Erker verschwand. Sofort nahm er sich vor, ihr dahin nachzugehen,
und als nach einer Weile Althoff nach der Uhr sah und zum Aufbruch mahnte,
ergriff er schnell die Gelegenheit und erbot sich, das Anspannen besorgen
zu lassen. Beim Hinausgehen lehnte er wie zufaellig die offene Tuere, die
zum Saal fuehrte, an. Als er dann zurueckkehrte, klinkte er leise die andre
Tuer auf, die vom Hausflur in den Saal fuehrte, und schlich sich auf den
Zehen nach dem Platze, wo Ilse sass.

Sie hatte ihn nicht kommen hoeren und erschrak nun um so mehr, als sie
ploetzlich seine Stimme vernahm und ihn zwischen den Efeuwaenden stehen sah.
Sie sprang auf und wollte forteilen, aber er liess sie nicht vorbei und
drueckte sie mit sanfter Gewalt auf ihren Platz zurueck.

"Was wollen Sie hier?" fragte sie in einem nicht misszuverstehenden Tone,
der deutlich bewies, wie fatal ihr seine Gegenwart war.

"Wie Sie, mein teures Fraeulein, moechte ich den herrlichen Mondenschein
geniessen und dabei in Ihre schoenen Augen sehen."

"Was faellt Ihnen ein!" rief sie empoert und schnellte wieder empor.

"So bleiben Sie doch, ich tue Ihnen ja nichts," sagte er mit
einschmeichelnder Stimme, indem er ihr den Ausgang versperrte. "Gestatten
Sie mir nur eine Frage: Sind Sie gluecklich?"

Sie gab keine Antwort, weil ihr eine namenlose Angst die Kehle zuschnuerte,
und sie nur den einen Gedanken hatte, wie sie ihm entfliehen koennte. Er
aber deutete ihr Schweigen anders. War es nicht auch eine Antwort auf
seine Frage?

"Ich wusste es ja," hub er wieder an, "ich las es in Ihren Augen, dass Sie
nicht gluecklich sind. Sie finden in mir eine mitfuehlende Seele, welche Sie
leider nur zu gut begreift. Auch ich bin an ein Wesen gekettet, das mich
zu dem Ungluecklichsten der Ungluecklichen macht. Meine Braut, - o Himmel,
dass ich ihr diesen suessen Namen geben muss -, nun, sie ist reich und sie
wissen ja, 'nach Golde draengt, am Golde haengt doch alles.' Auch meine
Existenz haengt von dem leidigen Mammon ab, denn ich bin ehrgeizig und
strebe nach hohen Zielen, aber ich bin arm und habe mich deshalb mit dem
reichen Maedchen verlobt. Das arme Ding, sie ist so in mich verschossen!"

Ilse hatte schon einige Male versucht, ihn zu unterbrechen und sich
durchzudraengen, - vergebens! Ekel und Abscheu erfasste sie.

"Lassen Sie mich fort," sagte sie bebend vor Zorn.

"Wenn Sie mich angehoert haben und den Kummer meines Herzens kennen, dann
sollen Sie den Weg frei haben, aber erst muessen Sie mich hoeren und
vielleicht goennen mir Ihre Lippen ein Wort des Trostes."

"Ich will Sie nicht hoeren," stiess Ilse in hoechster Aufregung hervor;
"lassen Sie mich gehen, oder ich rufe laut um Hilfe."

"Sie werden doch keine Szene machen, den andern kein Schauspiel goennen,"
sagte er hoehnisch lachend.

"O mein Gott!" stammelte Ilse und fiel in den Stuhl zurueck, indem sie ihre
Augen mit beiden Haenden bedeckte.

"So, nun bleiben Sie ruhig sitzen, bis ich Ihnen zu Ende erzaehlt habe. Wie
gesagt, meine Verlobte ist naerrisch in mich verliebt, mir ist sie aber
gleichgueltig. Ich ertrug diese Fessel mit Geduld und Fassung, bis ich Sie
sah, Ihre suesse Stimme hoerte, in Ihre himmlischen Augen schaute, die mir
verrieten, dass auch Sie ein Band umschlingt, das Sie zerreissen moechten.
Sah ich es nicht oft und deutlich aus Ihrem Erroeten, aus ihrem gesenkten
Blick bei der Nennung desjenigen, dem Sie ohne Liebe ihre Hand reichen
wollen? Wie fuehlte ich mich schon in dem Gedanken gehoben, in Ihnen eine
gleichgestimmte Seele gefunden zu haben. Ilse, sagen Sie mir ein Wort des
Trostes, der Hoffnung!"

Er naeherte sich ihr. Sie hatte sich ganz in die Ecke gedrueckt, unfaehig,
ein Wort hervorzubringen. Ihre Augen hatten einen starren Blick, ihr Atem
stockte und ihr Puls flog wie im Fieber. Nun ergriff er ihre Hand, die
sie, wie von einer Viper gestochen, zurueckschleuderte.

"Sie kleine Sproede!" sagte er mit aeusserster Ruhe und beugte sich zu ihr
herab, dass sein Atem sie streifte. In qualvoller Angst sprang sie auf und
stiess ihn mit kraeftiger Hand zurueck, dass er taumelte. Dann schob sie die
Efeuwand zur Seite. In dem Augenblick aber, als sie an ihm vorueber wollte,
versuchte er seinen Arm um ihre Taille zu legen.

"Unverschaemter!" keuchte Ilse mit blitzenden Augen. In ihrer Todesangst
wusste Ilse nicht, was sie tun sollte, sah nur sein Gesicht, das ihr wie
das eines Teufels erschien, sie fuehlte seine Beruehrung. Schon wollte sie
um Hilfe schreien, da fiel ihr Blick auf das Fenster. Sie riss es auf, und
ehe er es hindern konnte, war sie auf den Stuhl gesprungen, von da auf das
Fensterbrett, und im naechsten Moment war sie draussen. Bis ueber die Knie
versank sie in dem weichen Schnee. Sie raffte sich aber auf und lief, als
folge er ihr auf den Fersen, so schnell als moeglich weiter. Fort, nur fort
aus seiner Naehe! Furcht und Scham trieben sie unaufhaltsam vorwaerts. Sie
kletterte ueber die niedrige Gartenhecke und rannte noch eine Strecke auf
der Strasse weiter, die ins Dorf fuehrte. Endlich blieb sie erschoepft
stehen, die Hand auf das pochende Herz gedrueckt.

"O mein Gott," rief sie laut, "es ist zu schrecklich! O Leo," schluchzte
sie in den stillen Winterabend hinein, "warum bist du so fern? Ach, waerst
du doch jetzt hier, koennte ich bei dir sein!"

Und sie dachte, wie er doch so gut und edel sei. So haette er nie
gehandelt, wie der Erbaermliche, nie, niemals! Und wuerde er sie jetzt noch
lieben, nachdem sie ihm so tiefes Leid zugefuegt hatte, wuerde er vergessen
koennen, was sie ihm getan? Und wenn er sich von ihr wandte, wenn sie fuer
immer seine Liebe verloren hatte, mit der sie ein frevles Spiel getrieben,
wie sie sich jetzt selbst in qualvoller Pein gestand! Sie bedeckte ihr
brennendes Antlitz mit den kalten Haenden. So trostlos musste es einer
Verstossenen und Verlassenen zu Mute sein, wie ihr in diesem Augenblick.

Ploetzlich hoerte sie Schritte in ihrer Naehe, und in ihrer Angst, es koennte
ihr der Schreckliche gefolgt sein, wagte sie kaum aufzublicken. Gott sei
Dank, er war es nicht, es war Doktor Gerber, der von seinem Krankenbesuch
zurueckkam. Sie schluepfte hinter den naechsten Baum, denn sie wollte in
dieser Verfassung nicht entdeckt werden. Der Stamm des Obstbaumes konnte
sie aber nicht ganz verdecken, auch hatte Gerber bemerkt, dass bei seinem
Nahen eine Gestalt sich scheu zu verbergen gesucht hatte, er blieb stehen
und sah forschend hinueber.

Ilse ruehrte sich nicht.

"Wer ist da?" fragte er.

Keine Antwort.

Da stapfte er durch den hohen Schnee, als er aber dicht vor ihr stand und
sie erkannte, prallte er foermlich zurueck.

"Fraeulein Ilse, wie kommen Sie hierher, was wollen Sie hier?" fragte er
erstaunt.

Und als er ihr bleiches, entstelltes Gesicht sah, fragte er nochmals.

"Was ist Ihnen denn, ist Ihnen etwas begegnet? Und ohne Mantel, ohne Hut!
Sie werden sich erkaelten."

Sie blickte ihn flehend an, als wollte sie sagen: o, dringen sie nicht
weiter in mich. Er verstand ihre stumme Bitte.

"Kommen Sie," sagte er und ergriff ihre zitternde Hand.

Schweigend gingen sie die mondhelle Dorfstrasse hinunter. Kaum konnte Ilse
ihre Aufregung bemeistern, so tobte und kaempfte es in ihrem Innern; ihre
Gedanken konnten sich von dem schrecklichen Erlebnis nicht losreissen.
Einige Male versuchte sie mit ihrem Begleiter ein gleichgueltiges Gespraech
anzufangen, aber die Worte wollten nicht ueber ihre Lippen. Sie beherrschte
sich krampfhaft, denn bevor sie das Gasthaus erreichten, wollte sie ganz
ruhig sein, damit die andern nichts merken sollen. Sie durften um Gottes
willen nicht erfahren, was sie Beschaemendes erlebt hatte. Zu welchen
Auseinandersetzungen wuerde es sonst zwischen Doktor Althoff und dem
Verhassten kommen? Nein, nur das nicht, schon der Gedanke allein regte sie
auf.

Ilses kuehner Sprung aus dem Fenster hatte dem Referendar keinen geringen
Schrecken eingejagt.

"Donnerwetter, das tolle Ding!" hatte er bestuerzt und aergerlich zwischen
den Zaehnen gemurmelt. Aber seine Geistesgegenwart verliess ihn darum nicht.
Schaden konnte Ilse nicht genommen haben, beruhigte er sich, das Fenster
war ja nur wenige Fuss ueber der Erde, und ausserdem lag tiefer Schnee. Er
beugte sich hinaus und sah sie in grossen Spruengen ueber die weisse Flaeche
hineilen. Leise schloss er hierauf das Fenster wieder.

"Temperament hat die Kleine," sagte er halblaut vor sich hin mit einem
unangenehmen Laecheln. Unbedingt musste er jetzt in die Gesellschaft
zurueckkehren, wenn sein Ausbleiben nicht auffallen sollte. Trotz der Ruhe,
die er nach diesem amuesanten Abenteuer, wie er es innerlich nannte,
empfand, konnte er doch ein gewisses unbehagliches Gefuehl nicht
unterdruecken, denn sicher wuerde Ilse plaudern, - wie fatal! Da galt es
vorher ueberlegen, wie er ihre Anschuldigungen geschickt parieren sollte.
Nun, an jesuitischer Spitzfindigkeit fehlte es ihm nicht, er wollte sich
schon aus der Angelegenheit ziehen.

Ebenso leise, wie er den Saal betreten, schlich er sich jetzt wieder
hinaus und erschien dann vergnuegt laechelnd in der Tuere, durch welche er
vorhin die Gesellschaft verlassen hatte. Er setzte sich zu den andern und
nahm dankend das dampfende Glas Punsch entgegen, welches ihm Flora mit
verfuehrerischem Laecheln reichte. Er berichtete, dass er alles gut besorgt
habe, und dass die Kutscher, die er sehr gemuetlich bei Bier und Grog
angetroffen habe, jetzt dabei waeren anzuspannen.

"Nun muessen wir auch Ilse in ihrer Einsamkeit stoeren," sagte Nellie und
war im Begriff, in den Saal zu gehen, als sich die Tuere, die nach dem Flur
fuehrte, oeffnete und Ilse leichenblass eintrat, gefolgt von Floras Mann, der
sich ebenfalls blass und erschoepft niederliess.

Erschrocken eilte Nellie ihr entgegen.

"Was hast du, _darling_, ist dich nicht wohl?" fragte sie leise und
blickte verwundert in das starre Gesicht des jungen Maedchens.

"Mir fehlt gar nichts, Nellie, ich bin ganz wohl," erwiderte Ilse ruhig
und setzte sich neben Orla.

Aus Lueders' Antlitz war bei Ilses Eintreten doch die Farbe gewichen. Er
laechelte krampfhaft und stand wie ein Fuchs auf der Lauer, indem er
gespannt auf jedes ihrer Worte horchte. Gott sei Dank, dachte er nach
einer Weile erleichtert, sie scheint vernuenftig zu sein und schweigt.

Nellie fuehlte sich durch die Antwort der Freundin nichts weniger als
beruhigt, sondern sah dieselbe besorgt an. Jetzt fiel ihr Blick auf Ilses
durchnaesste Kleider, und als sie nach ihrer Hand fasste, bemerkte sie, wie
kalt diese war.

"Ilse, du bist ja ganz feucht und kalt, wo bist du gewesen?" fragte sie
aengstlich.

"Gewiss hast du draussen im Mondenschein vom Herzallerliebsten geschwaermt,"
sagte Flora neckend, "gestehe es nur, Ilse."

"Du hast ganz recht, Flora," gab sie zur Antwort, "ich sehnte mich nach
frischer Luft und bin eine Strecke in das Dorf gegangen, wo ich deinen
Mann traf."

Sie wunderte sich selbst ueber die Ruhe, mit welcher sie diese Worte
sprechen und auch die Fragen und Neckereien der andern ertragen konnte.
Als aber der Referendar versuchte, mit ihr zu scherzen, traf ihn ein so
veraechtlicher, drohender Blick aus ihren Augen, dass er verlegen fortsah
und schwieg.

Abgespannt und teilnahmlos sass Doktor Gerber da; auf die Frage, ob ihm
etwas fehle, gab er zur Antwort, dass er sich ganz wohl fuehle und nur etwas
muede waere. Sogar seiner Frau, welche sich umgezogen hatte und jetzt
zurueckkam, fiel seine Blaesse und Mattigkeit auf; sie fragte ihn besorgt,
ob es mit seinem Befinden schlimmer geworden sei. Seine verneinende
Antwort beruhigte sie indessen schon wieder, und sie meinte, sein
schlechtes Aussehen ruehre gewiss nur von dem Aufenthalt in der dumpfen
Krankenstube her. Man war allgemein froh, als die Schlitten angespannt vor
der Tuer standen, denn wie ein Alp lag es auf der vorher so lustigen
Gesellschaft, seitdem Ilse und Gerber so bleich und still unter ihnen
sassen und sichtbar ungeduldig auf den Aufbruch warteten. Ilse war die
erste, welche aufsprang, als gemeldet wurde, dass alles zu der Abfahrt
bereit sei.

Waehrend die andern sich von Pastors verabschiedeten und die waermenden
Huellen umlegten, war Ilse zu Nellie getreten und fragte sie leise, ob sie
mit ihr zusammen fahren duerfe.

"Ich muss dich sprechen," fluesterte sie hastig, "dringend muss ich dich
sprechen."

"_Darling_, wie kommst du mich vor diesen Abend, so zerstoert, was hast
du?"

"Nachher erzaehle ich dir alles, jetzt frage mich nicht," gab Ilse zur
Antwort.

Mit Entsetzen vernahm Nellie unterwegs, was der Freundin begegnet war.
Gluecklicherweise war der Kutscher, der die beiden fuhr, etwas schwerhoerig
und hatte sich obenein den Pelzkragen ganz ueber die Ohren gezogen, so dass
er nicht verstehen konnte, was die Damen sprachen. Er haette sonst eine
spannende Geschichte zu hoeren bekommen, denn Ilse sprach in ihrer
Aufregung so laut, dass Nellie sie oefter ermahnte, vorsichtiger zu sein.
Das Blut stockte ihr fast in den Adern bei Ilses Erzaehlung, und sie
unterbrach diese oft mit dem ihr eigenen Ausruf 'o, o'!

"Du armes, armes Kind," sagte sie, als Ilse zu Ende war, "was hast du
durchgemacht, schrecklich! Das infame Mann, - was wird Fred sagen, wenn
ich ihm das erzaehle? Es bleibt ihm weiter nichts uebrig, als ihm ein
Ohrfeig zu geben auf der Strasse, wenn alle Leute es sehen."

"Um Gottes willen," fuhr Ilse auf, "so etwas darf dein Mann nicht tun, es
wuerde einen oeffentlichen Skandal geben, die Stadt wuerde davon sprechen, -
bitte, bitte nicht Nellie! Aber Flora werde ich sagen, dass ich ihr Haus
nicht wieder betrete, wenn ich diesen Menschen noch einmal bei ihr treffe.
Oder - nein, es ist besser, auch sie erfaehrt nichts von dieser Geschichte.
Sie setzt sich sonst womoeglich hin, dichtet eine Schauer-Ballade und liest
sie dem Menschen noch obenein vor. Aber warnen will ich sie, warnen vor
diesem Teufel!"

Die dunklen Augen in dem bleichen Gesicht funkelten und spiegelten einen
leidenschaftlichen Hass wieder, der dem jungen Antlitz etwas Duesteres
verlieh. Schweigend blickte sie in die sternenklare Winternacht, ohne zu
bemerken, dass Nellie sich noch warmer einhuellte und ihre Fuesse fester in
die Decke wickelte.

Die beiden sprachen wenig waehrend der uebrigen Fahrt, und auch aus den
andern Schlitten toente kein froehliches Lachen, wie bei der Hinfahrt.
Lueders, der wieder neben Flora sass, meinte, es waere zu kalt zum Sprechen
und zog seinen Rockkragen in die Hoehe, so dass sein Gesicht fast ganz
verschwand. Flora vergass seine Schweigsamkeit, denn der Mondesglanz, die
Sterne, die klare Winternacht gaben ihr unzaehlige poetische Gedanken ein,
die sie am andern Tage auf das Papier bringen wollte.

Althoff bekam von seinem Nachbar, Doktor Gerber, auch nur kurze Antworten,
man merkte, dass ihm das Sprechen schwer wurde. Nur in dem Schlitten, in
welchem Andres und Orla sassen, schien die schoenste Harmonie zu walten.
Orla hielt wieder die Zuegel in ihren Haenden, denn der Kutscher hatte zu
tief in das Glas gesehen und war in eine Art Halbschlummer verfallen, aus
welchem ihn Andres von Zeit zu Zeit aufschreckte, damit der muede hin und
her Taumelnde nicht unversehens vom Sitze fiele und ihnen verloren ginge.

Scherzend hatte er zu dem jungen Maedchen gesagt, dass es eigentlich nicht
in der Ordnung waere, sich von einer Dame nach Hause fahren zu lassen,
worauf sie lachend erwiderte, dass sie nach der Meinung ihrer Freundin Rosi
gar nicht mehr unter die Frauen gehoere und er sich deshalb getrost ihre
Leitung gefallen lassen moege. Den beiden verging unter lebhaftem Geplauder
die Zeit so schnell, dass sie ganz erstaunt waren, schon in die
heimatlichen Strassen einzufahren und bald darauf vor der Althoffschen
Wohnung zu halten. -

Als sich die beiden jungen Maedchen zur Ruhe begaben, fielen Ilse die
seltsam glaenzenden Augen der Freundin auf und ein heimliches Laecheln um
ihren Mund, das ihr Antlitz wunderbar verklaerte. Sie gab auch einige Male
zerstreute Antworten auf Ilses Fragen, ganz gegen ihre sonstige Art.

"Gute Nacht, Ilse," sagte sie schon im Bette liegend und bemerkte erst
jetzt, dass diese noch nicht angefangen hatte sich auszuziehen.

"Willst du noch nicht zu Bette gehen?" fragte sie.

"Nein, Orla, ich bleibe noch etwas auf, ich bin noch nicht muede."

                              [Illustration]

Sie wartete noch eine Weile bis Orla fest eingeschlafen war, und holte
dann ihre Schreibmappe hervor. Hierauf stellte sie die Lampe auf den Tisch
am Fenster, an welchem Orla oft bis tief in die Nacht arbeitete, nahm
einen Briefbogen, tauchte die Feder langsam in das Tintenfass und schrieb
nach langem Besinnen die Worte: 'Lieber Leo!' auf das Papier, dann stuetzte
sie wieder den Kopf in die Hand und starrte gedankenvoll auf das weisse
Blatt vor ihr. Wie schwer wurde ihr der Anfang, und doch war das Herz ihr
zum Zerspringen voll. Es lastete wie ein Verbrechen auf ihr, sie kam sich
erniedrigt und nach dem heutigen Erlebnis wie treulos gegen ihren
Braeutigam vor, weil sie das schaendliche Bekenntnis des ihr fremden Mannes
mit angehoert hatte. Welche Worte hat er zu ihr gesprochen, - noch toenten
sie in ihren Ohren fort -, wie konnte er das wagen, wie durfte er ihr so
etwas bieten und sie ungluecklich nennen! -

Und doch, konnte sie das alles so wunderbar finden, hatte sie den Leuten
nicht genuegend Veranlassung gegeben, sie fuer eine unglueckliche Braut zu
halten? Ihr 'gesenkter Blick', ihr 'Erroeten', wie der Abscheuliche gesagt,
und dann die Szene mit Andres, die er, - jetzt wusste sie es, - belauscht
hatte, alles dieses waren fuer ihn Beweise gewesen, dass sie nicht gluecklich
sei. Und hatte er denn unrecht? Hatte sie sich nicht selbst fuer
ungluecklich gehalten, fuer tief ungluecklich? Warum empoerte sich denn ihr
Inneres darueber, dass ein anderer ihre geheimsten Gedanken erraten hatte,
war sie denn vielleicht nicht mehr ungluecklich?

Nein, tausendmal nein, rief es in ihr! Seit sie draussen in der kalten
Winternacht die brennendste Sehnsucht nach ihm, nach seinem Schutz
empfunden, fuehlte sie, dass sie allein an diesem Unglueck die Schuld trug,
dass es in ihrer Hand lag, ihn und sich wieder gluecklich zu machen. Und sie
hatte sich vorgenommen, ihn noch heute abend zu bitten: vergiss, was ich
dir getan, - und ihm alles erzaehlen, was sie hatte erleben muessen, dann
wuerde ihr leichter, sie wuerde dann ruhiger werden. Unterwegs hatte sie
sich den Inhalt des Briefes im Geiste ueberlegt und immer wiederholt, aber
jetzt, da sie ihre Gedanken in Worte kleiden und diese niederschreiben
sollte, konnte sie nicht damit fertig werden.

Endlich nach langem Zaudern ueberwand sie den schwierigen Anfang und
schrieb fliessend weiter, ohne nur einmal innezuhalten. Sie hoerte nicht
auf, bis sie einen heftigen Schuettelfrost bekam und nun erst daran dachte,
dass sie die feuchten Kleider und Schuhe noch nicht ausgezogen hatte. Sie
verschloss nun die Mappe mit dem Briefe in ihrem Koffer und begab sich zur
Ruhe. Aber auch im warmen Bett noch ueberlief sie ein Froesteln, Haende und
Fuesse waren eiskalt, und nur ihr Kopf brannte wie Feuer; sie legte ihre
Hand auf Stirn und Wangen, was ihr wohl tat. Den brennenden Durst, der sie
quaelte, konnte sie kaum loeschen, immer von neuem schenkte sie sich Wasser
ein und trank das Glas auf einen Zug leer. Endlich, nachdem sie lange
wachend gelegen, nahm sie der erloesende Schlaf in seine Arme, und sie
wachte erst auf, als Orla bereits fertig angezogen vor ihrem Bette stand.

"Guten Morgen, du Langschlaeferin!" rief sie ihr entgegen. "Endlich
ausgeschlafen? Aber Kind, was hast du in dieser Nacht fuer einen Spektakel
gemacht, du hast fortwaehrend geredet, bald fuhrst du in die Hoehe, und
warfst dich dann wieder hin, nicht fuenf Minuten lang hast du ruhig
gelegen. Ich war einige Male an deinem Bett und wollte dich wecken, aber
du schliefst so fest. Uebrigens hattest du entschieden Fieber, dein Puls
ging schnell und die Haut war heiss und trocken. Gib mir mal deine Hand,
wie sie sich heute morgen anfuehlt? - Immer noch fiebrig, dein Puls schlaegt
nicht normal."

"Die kuenftige Doktorin," neckte Ilse.

"Na, um das zu erkennen, braucht man kein Arzt zu sein. Ich an deiner
Stelle bliebe im Bett liegen, du siehst so elend und angegriffen aus, -
hast du auch Schmerzen?"

"Ich habe Kopfweh, Orla. Aber bitte, gehe du nur zum Kaffeetrinken und
entschuldige mich, wenn ich heute erst spaet erscheine."

Dass sie auch heftige Schmerzen im Hals hatte, verschwieg sie.

"Also du willst wirklich aufstehen?" fragte Orla.

"Natuerlich, so schlimm ist es ja gar nicht."

Aber sie war doch matter, als sie dachte, das empfand sie erst, als sie
das Bett verlassen wollte. Erschoepft sank sie einige Male wieder zurueck,
sie fuehlte Schwindel, der Kopf war ihr schwer und die Schmerzen im Halse
quaelten sie. Sie zog sich nur ihren Morgenrock ueber und ging dann in das
Esszimmer. Doktor Althoff war schon fortgegangen, Nellie und Orla sassen
noch am Kaffeetisch. Die junge Frau erschrak ueber Ilses Aussehen.

"O _darling_, wie schaust du aus, so weiss wie diese Tischtuch und ganz
blau unter der Auge, du musst dir sehr krank fuehlen."

Laechelnd versuchte Ilse die Besorgnis der Freundin abzuwehren, aber sie
konnte dieselbe nicht taeuschen. Nellie wollte durchaus, dass sie sich
wieder zu Bette legen solle, wozu sie sich indessen nicht bewegen liess.
Als aber Nellie den bequemen Diwan aus ihres Mannes Zimmer in das ihrige
bringen liess, da bedurfte es keines langen Noetigens, dass sich Ilse darauf
legte, da sie sich immer schlechter fuehlte. Sie liess es auch geschehen,
dass Nellie eine wollene Decke ueber ihre Fuesse breitete, und fuegte sich bald
ganz ihren Anordnungen, trank kuehle Limonade und legte ihren Kopf auf das
weiche Kissen, das ihr Orla brachte. Es war ihr jetzt ganz recht, dass sie
still liegen konnte, denn sie hatte nur das eine Beduerfnis nach
unbedingter Ruhe. Ja, sie straeubte sich sogar nicht dagegen, als Nellie
ihr Maedchen nach Doktor Gerber schickte, weil sie selbst fuerchtete,
ernstlich krank zu werden.

Muede schloss sie die Augen, und der gestrige Tag zog noch einmal
beaengstigend an ihrem Geist vorueber. Was hatte sie gelitten, welche Qualen
ausgestanden, als sie die leidenschaftlichen Augen des Referendars dicht
vor den ihrigen sah, seinen heissen Atem fuehlte und festgebannt wie eine
Gefangene ihm nicht entrinnen konnte. Sie dachte sich in der Braut des
Verhassten ein stilles, sanftes Maedchen, das mit zuversichtlicher Liebe und
in vollem Vertrauen zu ihm aufblickte. Wenn sie wuesste, wie sie
hintergangen, auf die erbaermlichste, niedrigste Weise getaeuscht wurde! Sie
haette nicht gedacht, dass ein Mensch so schlecht sein koennte, denn das
Leben hatte ihr bis jetzt nur seine lichten Seiten gezeigt; die dunklen
hatte sie noch nicht kennen gelernt, sie wusste noch so viel wie nichts von
Schlechtigkeit und gemeiner Gesinnung. Treu sorgende Eltern hatten von ihr
alles fernzuhalten gewusst, was ihr kindlich reines Gemuet haette trueben
koennen.

Wie umstrahlt von hellem Licht erschien ihr jetzt Leo, zum ersten Male
kamen ihr seine guten und edlen Eigenschaften so recht zum Bewusstsein. Ob
er wohl je so von ihr sprechen wuerde, wie dieser Lueders ueber seine Braut
sprach? Nein, nie, das wusste sie. Kein bitteres Wort ueber sie wuerde aus
seinem Munde kommen, trotzdem sie im Zorn und Groll von ihm geschieden
war. Wann sehe ich ihn wohl wieder? dachte sie, und die bange Sorge um ihn
erweckte ihr die Vorstellung, dass er krank sein koennte, ja vielleicht
sterben muesste, ohne dass sie ihn jemals wiedergesehen und erfahren haette,
ob er ihr noch gezuernt habe. Ihre krankhafte Phantasie malte dieses
Ereignis in den grellsten Farben aus, es entlockte ihr heisse Traenen,
Tropfen auf Tropfen stahl sich durch ihre geschlossenen Augenlider und
fiel auf ihre Wangen herab. -

Im Nebenzimmer wurden jetzt Schritte hoerbar und sie hoerte Nellie sagen:

"Bitte, Herr Doktor, treten Sie hier herein."

Schnell fuhr Ilse in die Hoehe und wischte sich mit dem Tuch ueber ihre
Augen. Orla, die am Fenster sass, sah von ihrem Buche auf, als sich jetzt
die Tuer oeffnete. Als aber statt des erwarteten Doktor Gerber sein junger
Assistenzarzt erschien, entglitt das Buch ihren Haenden und sie bueckte sich
schnell, um es aufzuheben. Wieder konnte sie eine Verlegenheit nicht
verbergen, als er jetzt vor ihr stand und ihr die Hand reichte. Sie war
aergerlich auf sich selbst, und als er sie freundlich fragte, wie ihr die
Schlittenpartie bekommen sei, gab sie ihm nur eine kurze Antwort und
lenkte dann schnell die Aufmerksamkeit von sich auf Ilse ab.

"Hier sehen Sie nur, Herr Doktor, unsre arme Ilse, welche Folgen die
Schlittenpartie fuer sie gehabt hat; da liegt sie nun, ein Bild des Jammers
und der Leiden. Uebrigens," sie hatte jetzt ihre volle Fassung
wiedergewonnen, "wie kommt es, dass Sie uns besuchen, da doch nach Doktor
Gerber geschickt worden war?"

"O ja, Orla, hoere nur," fiel Nellie ein, "lauter Patienten! Das arme Mann
liegt krank im Bette und hat der ganze Nacht phantasiert. Als unsre
Botschaft kam, war gerade Herr Doktor Andres bei ihm und kam gleich
hierher, arm Ilschen zu kurieren."

"Er ist doch nicht gefaehrlich erkrankt?" fragte Orla, als sie bemerkte,
dass sein Gesicht bei Nellies Bericht merkwuerdig ernst geworden war.

"Ich fuerchte fast; noch laesst sich keine bestimmte Diagnose stellen, aber
alle Anzeichen sind vorhanden, dass eine Lungenentzuendung im Anzuge ist."

Er hatte Ilses Handgelenk umfasst, zog die Uhr heraus und zaehlte die
Pulsschlaege. Dann untersuchte er ihren Hals und erklaerte, dass eine leichte
Halsentzuendung vorhanden waere. Sie sollte sich einige Tage schonen und
wuerde dann bald wieder gesund sein. Er traf noch einige Anordnungen,
verschrieb ihr was zum Gurgeln und sagte scherzend zu Orla, dass sie jetzt
sein Assistent sein und ihm morgen genauen Bericht ueber seine Patientin
erstatten moege.

Jeden Tag erschien Andres puenktlich zu derselben Stunde, und stets fand
sich auch Orla ein, wenn er kam. Ilse musste noch immer auf dem Sofa
liegen, obgleich sie behauptete, sich wieder ganz wohl zu fuehlen. Aber da
es der Doktor so anordnete, wagte sie nicht, sich zu widersetzen, und liess
es sich schliesslich ganz gern gefallen, dass sie auf das liebevollste
gepflegt und verhaetschelt wurde. Einige Male hatte sie Orla dabei ertappt,
dass sie zu der Zeit, wenn Andres zu kommen pflegte, erwartungsvoll durchs
Fenster blickte. Sie teilte ihre Beobachtungen Nellie mit und auch diese
hatte schon bemerkt, dass der junge Mann Orla nicht gleichgueltig geblieben
war, und dass auch seine Augen strahlten, wenn er mit der Russin sprach.
Und als Ilse wieder gesund war und seine aerztlichen Besuche aufhoerten, da
war er ein Freund des Hauses geworden, ein haeufiger, gern gesehener Gast
bei Althoffs.

                                  * * *

Leider ging es Floras Mann nicht so gut, wie Ilse, sein Zustand hatte sich
von Tag zu Tag verschlimmert, er war schwer an einer Lungenentzuendung
erkrankt. Andres hatte noch einen zweiten Arzt hinzugezogen und beide
blickten mit grosser Besorgnis in die naechste Zukunft. Die Freundinnen
standen Flora in dieser schweren Zeit treu zur Seite, taeglich kam eine, um
zu helfen und zu raten; denn Flora war in der Krankenpflege ganz
unerfahren und ungeschickt. Sie hatte im Anfang die Krankheit ihres Mannes
mit grosser Sorglosigkeit angesehen; als aber das hohe Fieber nicht weichen
wollte, die Kraefte ersichtlich abnahmen und sie die besorgten Gesichter
der beiden Aerzte sah, da fiel es ihr ploetzlich wie Schuppen von den Augen,
und eines Tages war sie Nellie weinend um den Hals gefallen und hatte
ihrem geaengstigten Herzen Luft gemacht. Nellie hatte sie auf das
liebevollste getroestet und ihr Mut eingesprochen. Als sie dann aber den
einst so kraeftigen Mann abgemagert und teilnahmlos in den Kissen liegen
sah, da vermochte sie selbst die Traenen nicht zurueckzuhalten, und auch
nachher konnte ihr Gatte sie kaum beruhigen, als sie nach Hause kam und
ihm erzaehlte, wie Gerber veraendert und kaum wieder zu erkennen sei.

Wieder vergingen Tage, ohne die so heiss ersehnte Besserung zu bringen, und
Flora, welche jeden Halt verloren hatte, weinte nur und klagte, selbst im
Krankenzimmer konnte sie sich nicht beherrschen. Nellie hatte sich
erboten, Kaethchen mitzunehmen, da sie es nicht mehr mit anzusehen
vermochte, wie das Kind am Bett seines Vaters kauerte, die grossen Augen
angstvoll auf sein eingefallenes Gesicht gerichtet, und leise seine Haende
streichelte.

"Lass das Kind mit mich gehen," hatte Nellie gebeten, "es ist hier keine
Ort fuer ihr." Und auch Andres, der zugegen war, meinte, es waere besser fuer
die Kleine, wenn sie in andre Umgebung kaeme, der fortwaehrende Aufenthalt
in der Krankenstube koenne ihr nur schaden.

Flora nahm Nellies Anerbieten gern an, und die junge Frau war sofort daran
gegangen, Kaethchens Sachen zusammenzupacken und alles Noetige zu besorgen.
Aber so leicht, wie sie dachte, liess sich das Kind nicht mitnehmen; es
straeubte sich und wollte durchaus bei seinem lieben Papa bleiben. Nach
unendlicher Muehe und vielen Liebkosungen Nellies gelang es ihr
schliesslich, Kaethchen gegen das Versprechen, dass sie ihren Papa bald
wiedersehen wuerde, und auf die Versicherung hin, dass dieser selbst
wuenschte, sie moege ein artiges Kind sein, zum Mitgehen zu bewegen. Alles
war zum Empfang der Kleinen auf das reizendste vorgerichtet. Nellie hatte
huebsche Spielsachen eingekauft, und die beiden jungen Maedchen versuchten,
mit ihr zu spielen und zu scherzen. Es glueckte ihnen aber nicht, ein
Laecheln auf dem ernsten Kindergesicht hervorzurufen. Die Spielsachen
blieben unberuehrt, und Kaethchen fragte nur immer, ob ihr lieber Papa bald
wieder gesund wuerde. Die weichherzige Ilse musste sich abwenden, um ihre
Ruehrung zu verbergen, sie konnte den traurig fragenden Blick in Kaethchens
Augen nicht ertragen. Als Nellie sie am Abend in das Bettchen brachte, das
sie dicht neben das ihrige gestellt hatte, und die Kleine mit gefalteten
Haenden ihr Abendgebet hersagte, das mit der ruehrenden Bitte schloss:
"Lieber Gott, mache meinen Papa recht bald wieder gesund," da ahnte das
unschuldige Kindergemuet nicht, dass bereits der Todesengel unheilschwer
ueber dem Haupte des Vaters schwebte.

                              [Illustration]

"Nicht wahr, liebe Tante, der liebe Gott hat mich gehoert?" fragte sie
Nellie, und als diese unter Traenen laechelnd nickte, legte sie das Koepfchen
voll Vertrauen in die Kissen. Nellie blieb so lange am Bettchen sitzen,
bis Kaethchen fest eingeschlafen war. Die blassen Baeckchen hatten sich zart
geroetet, und der kleine Mund laechelte im Schlafe. Fast andaechtig blickte
die junge Frau auf das schlummernde Kind, - konnte es etwas Suesseres, etwas
Lieblicheres geben? Sie streichelte die kleinen Haende und lauschte den
ruhigen, gleichmaessigen Atemzuegen. Wie eine Mutter strich sie mit der Hand
ueber die Kissen, dass auch kein Faeltchen den Schlummer des kleinen
Geschoepfchens stoeren sollte. Dann erhob sie sich, drueckte einen leisen Kuss
auf die reine Kinderstirn und schlich sich aus dem Zimmer.

"O, es liegt wie eine Engel, das kleine Maedchen," sagte sie zu Orla und
Ilse.

Spaet am Abend kam Doktor Andres, bleich, mit verstoerter Miene. Es hatte
ihn gedraengt, den Freunden noch mitzuteilen, dass man sich auf das
Schlimmste gefasst machen muesste. Das Fieber blieb trotz aller angewandten
Mittel auf gleicher Hoehe und die Kraefte verfielen zusehends. Alle waren
ueber diese Botschaft toetlich erschrocken, und Nellie zeigte sich sofort
bereit, zu Flora zu eilen.

"O nein, ich darf ihr nicht verlassen!" rief sie, als man sie zurueckhalten
wollte. "O, Fred, lass mich! Ich rege mir viel mehr auf, wenn ich hier
bleibe, waehrend meine Gedanken doch bei ihr sind."

"Dann gehe ich mit dir," entschied Althoff, der es schliesslich auch ganz
natuerlich fand, dass seine Frau Flora in den schweren Stunden, vielleicht
den schwersten ihres Lebens, nicht verlassen wollte. Der junge Arzt
verabschiedete sich, er musste wieder zu dem Kranken eilen. Orlas Hand
behielt er laenger als gewoehnlich in der seinen, und sein tiefer, ernster
Blick ruhte mit Innigkeit auf ihrem Antlitz.

"Auf Wiedersehen!" sagte er leise und ging fort.

Ilse hatte Nellies Sachen hereingeholt und half der Freundin mit
zitternden Haenden beim Anziehen. Wie ein Alp lastete es auf allen, und nur
das Noetigste wurde gesprochen.

Das junge Ehepaar war fortgegangen, und es herrschte jetzt eine fast
unheimliche Stille in dem Zimmer, in welchem sonst heiteres Lachen und
Plaudern ertoente. Orla sass am Tisch, tief ueber ein Buch gebeugt. Ilse
lehnte in der Sofaecke, die gefalteten Haende lagen in ihrem Schoss. Sie
fuerchtete sich grenzenlos, aber sie wagte nicht, Orla dies einzugestehen.
Die kleine niedrige Lampe mit dem breiten Schirm beleuchtete hell den
runden Tisch. Aber die uebrigen Gegenstaende im Zimmer ausserhalb dieses
Lichtkreises verschwanden in einem matten Halbdunkel. Nichts stoerte die
naechtliche Ruhe, als das gleichmaessige Ticken der Uhr. Orla sass
unbeweglich, scheinbar in ihre Lektuere vertieft, kaum dass sie mit der
Wimper zuckte. Aber ihre Gedanken weilten heute nicht bei dem Inhalt des
Buches, den sie mechanisch ablas. Sie hafteten an einer hohen, schoenen
Gestalt, von der sie sich nicht losreissen konnte, deren Bild sie im Wachen
nicht verliess und bis in ihre Traeume verfolgte. Mit doppeltem Eifer, als
wollte sie es gewaltsam zurueckdraengen, hatte sie gelesen und studiert. Sie
war fast unzugaenglich und sehr schweigsam gewesen, hatte immer hinter
ihren Buechern gesessen, so dass ihr Lehrer, so sehr er sich ueber ihre
Fortschritte freute, sie doch ernstlich ermahnte, ihre Kraefte zu schonen.

Nur wenn Andres kam, dann sprudelte sie ueber von Geist und Witz. Er
erkundigte sich nach ihren Studien, sie fragte nach den Erlebnissen in
seiner Praxis. Beide schienen dann nur fuer einander da zu sein, sie
vergassen voellig ihre Umgebung, und die sonst so kluge, ueberlegene Orla
dachte nicht daran, dass die Freunde merken mussten, was sie als tiefstes
Geheimnis in ihrem Herzen verschlossen zu halten glaubte.

Kleine harmlose Neckereien liess sie sich laechelnd gefallen, aber jede
ernste Anspielung wies sie entschieden zurueck. Sie meinte, wenn zwei
Menschen zusammen uebereinstimmten und gemeinsame Interessen hatten, muessten
sie nach der Ansicht der anderen natuerlich gleich ineinander verliebt
sein. Sie waere ueberhaupt keine Natur zum Lieben geschaffen.

Nellie und Ilse als Erfahrenere in dieser Beziehung laechelten sich bei
diesen Worten ueberlegen an und schwiegen.

Orla glaubte sich wirklich gefeit gegen die Liebe. Die kleinen Taendeleien
und Liebschaften, welche andern so viel Freude und auch wohl kindliche
Schmerzen bereiten, waren ihr fremd geblieben. Ausser Doktor Althoff, fuer
den in der Pension alle Maedchen schwaermten, hatte sie nie eine sogenannte
"Flamme", wie es die andern nannten, gehabt. "Kalt wie eine
Hundeschnauze", diesen sehr drastischen Vergleich hatte Annemie einmal
gebraucht, worueber die aesthetische Flora ganz entsetzt gewesen war.

An die Aermste dachte Orla jetzt voller Mitleid! Die Lust zum Dichten wuerde
ihr wohl jetzt, da ihr das Leben zum ersten Male seine ernsten Seiten
zeigte, vergehen. Wie es wohl um diese Zeit bei Gerbers aussah? Orla sah
Andres im Geist neben dem Bette des Kranken sitzen, ruhig und sicher seine
Anordnungen treffend. Diese Ruhe und Sicherheit, sein ruecksichtsvolles
Wesen, wo es galt, Ruecksicht zu nehmen, - stempelten ihn diese
Eigenschaften nicht zum echten, menschlich fuehlenden und denkenden Arzte,
zu welchem die Kranken mit unbedingtem Vertrauen aufblicken konnten?
Vielleicht waren jetzt gerade Floras um Hoffnung flehende Augen auf ihn
gerichtet, und, - o Gott, wie schwer musste das sein, - vielleicht konnte
er ihr keine mehr geben, vielleicht war schon alles vorbei!

Wenn sie nur wuesste, wie es ging, die Stunden schlichen so langsam dahin,
eben schlug es draussen von den Tuermen in langsamen Schlaegen zwoelf Uhr. Die
Geisterstunde, wie Ilse schaudernd dachte. Ihre lebhafte Phantasie war von
den schaurigen Bildern erfuellt. Bald starrte ihr aus einer Ecke das
totenblasse, verzerrte Gesicht des Doktor Gerber entgegen, oder Leo
erschien ihr, und seine Augen schauten sie traurig und vorwurfsvoll an.
Aus allen Winkeln grinsten sie Fratzen und Gestalten an; die weissen
Gardinen erschienen ihr wie wallende Gewaender von Gespenstern, wo sie
hinblickte, sah sie etwas Graessliches. Nein, so hielt sie es nicht laenger
aus! sie erhob sich aus ihrer dunklen Ecke und trat an den Tisch.

Orla blickte auf.

"Es ist spaet geworden, wollen wir zu Bett gehen, Ilse?"

"Ach Orla, ich kann doch nicht schlafen, ich bin zu aufgeregt."

"Ich bleibe gern mit dir auf," erwiderte Orla und erhob sich. "Komm, wir
wollen nach der Kleinen sehen, ob sie ruhig schlaeft."

Ilse schmiegte sich dicht an die Freundin, als sie ueber den Vorplatz
gingen, und sah sich fortwaehrend furchtsam um. Als Orla beim Vorbeigehen
den Schirmstaender streifte, schreckte Ilse bei dem Geraeusch jaeh zusammen
und umklammerte die Russin mit beiden Haenden.

"Kind, ich glaube wahrhaftig, du fuerchtest dich," sagte Orla erstaunt, da
ihr Furcht etwas ganz unbekanntes war.

"Ach nein, nur heute abend," stotterte Ilse verlegen, die sich gerade von
Orla nicht gern dabei ertappen liess, dass sie ein Hasenfuss war.

Das Zimmer, in welchem Kaethchen schlief, war nur schwach durch eine
Nachtlampe erleuchtet, deren matter Schein auf dem weissen Bettchen lag.
Die jungen Maedchen beugten sich darueber und betrachteten das sanft
schlummernde Kind.

"Wie entzueckend!" fluesterte Ilse.

"Armes, kleines Ding!" sagte Orla und kuesste es auf das weiche Baeckchen.

"Wie es nur bei Gerbers aussehen mag," meinte Ilse und liess sich auf einen
Schemel zu Fuessen Orlas, die sich neben das Bettchen gesetzt hatte, nieder.
Die Freundin konnte nur mit einem Achselzucken antworten; auch sie
beschaeftigte sich innerlich fortwaehrend mit dieser Frage.

"Ich kann mir gar nicht denken, dass er nicht wieder gesund wird," fuhr
Ilse fort. "Es waere doch schrecklich, so jung sterben zu muessen."

"Danach fragt der Tod nicht," sprach Orla leise wie in Gedanken versunken
vor sich hin. "Meine Eltern waren auch noch jung, als sie starben und mich
als Waise zurueckliessen."

Ilse blickte zu der Freundin empor und sah es feucht in deren Augen
schimmern, die heute einen seltsam weichen Ausdruck hatten. Schmeichelnd
legte sie ihren Kopf in Orlas Schoss.

"Liebe, liebe Orla," fluesterte sie leidenschaftlich und haette sich ihr in
der Stimmung, in welcher sie sich befand, am liebsten um den Hals
geworfen, um sich dort auszuweinen. Aber sie wusste, dass Orla eine Feindin
solcher Szenen war, und deshalb begnuegte sie sich damit, ihr die Haende zu
streicheln und ihre Wange darauf zu legen. So sass sie ganz still mit
geschlossenen Augen und als Orla ihr liebkosend ueber das braune, lockige
Haar fuhr, da war es ihr, als ruhte sie an Leos Brust und dieser liesse
ihre Locken durch seine Finger gleiten, was er so gerne tat. Die
zaertlichen, rosigen Stunden ihrer Brautzeit draengten sich in ihre
Erinnerung, und sie empfand im Geiste wieder das wohlige Gefuehl, von den
Armen eines geliebten Mannes umschlossen zu sein. Hatte ihr Herz in
solchen Momenten nicht hoeher geschlagen vor Freude und Seligkeit? Und
warum war es denn anders geworden, warum sollten diese gluecklichen Zeiten
vorbei sein? Wie ein Nebel zerfloss vor ihren Augen die kleinliche Ursache
ihres Streites, und sie wollte es sich gar nicht mehr eingestehen, dass sie
deshalb ihr Glueck auf das Spiel gesetzt hatte. Wie viele Stunden und Tage
hatte sie sich und ihm verbittert, welch lange Trennung herbeigefuehrt!
Wann wird diese ein Ende nehmen?

Auf einmal empfand sie, wie bitter unrecht das alles war, da doch das
Leben nur kurze Dauer hat und die schweren Zeiten ohnedies nicht
ausbleiben. Konnte sie nicht ein gleiches Schicksal treffen wie Flora,
welche auch achtlos in den Tag hinein lebte und nun vielleicht zu spaet
erkannte, welche Pflichten sie haette erfuellen muessen? Wenn jetzt deren
Mann stuerbe, wuerde dann nicht die Reue sie ewig peinigen und ihr
mitleidlos zurufen: du hast deinen Mann vernachlaessigt, du hast sein
Dasein nicht erhellt. Mit diesem schrecklichen Vorwurf im Herzen leben zu
muessen, dachte Ilse, nein, das koennte sie nicht, da wuerde sie eher
vergehen.

Aber hatte sie nicht auch Liebe und Glueck besessen und beides mit
leichtsinniger Hand beiseite geworfen? Wuerde sie wohl wieder aufrichten
koennen, was sie zerstoert hatte, oder war es schon zu spaet dazu? Nein, das
durfte, das konnte nicht sein! Es packte sie mit wahnsinniger Angst, und
der Gedanke, dass Leo jetzt sterben koennte, stand drohend vor ihrer Seele
und verfolgte sie wie eine fixe Idee. Um Gottes willen, nur das nicht, nur
das nicht, dachte sie bebend, und sie gelobte sich in diesem Augenblick
feierlich, anders werden, ihm nie wieder solches Leid zufuegen zu wollen.

Und nun dachte sie auch daran, wie sie ihre Eltern gekraenkt hatte, wie die
darunter leiden und mit welcher Sorge sie wohl in ihre Zukunft blicken
mochten. Dennoch aber hatte sie nie ein Tadel oder Vorwurf getroffen, ihre
Briefe waren stets liebevoll und zaertlich gewesen, aus zarter Ruecksicht
hatten sie niemals ihr Zerwuerfnis mit Leo beruehrt. Und wie vergalt sie
solche Liebe und Guete, war sie dankbar dafuer?

Beschaemt hielt sie Einkehr in ihrem Innern, sie fuehlte, wie unrecht sie
gehandelt hatte und noch handelte; immer klarer wurde es in ihr, ihre
bessere Natur gewann wieder die Oberhand in ihrem Herzen, von welchem sich
Trotz und Eigensinn wie rauhe Schalen von einem guten Kern loesten.

Vor ihren Augen zogen Bilder aus der Vergangenheit vorueber, die Rueckkehr
aus der Pension in das Elternhaus, ihre Verlobung. Sie sah die Eltern, das
kleine Bruederchen, sie hoerte dieses jauchzen, war mit Leo zusammen und
fuehlte sich glueckselig und froh, wie sie es lange nicht gewesen. Die
lieblichsten Erinnerungen wiegten sie endlich sanft in Schlummer und
begleiteten sie in ihren Traeumen, aus denen sie erst erwachte, als sie
ploetzlich ihren Namen rufen hoerte.

Schlaftrunken fuhr sie empor und sah Doktor Althoff, der eifrig mit Orla
sprach. Sie wurde sich bewusst, dass sie sehr lange geschlafen haben musste,
denn die Morgendaemmerung stahl sich schon durch die Fenster herein und
ueberzog alles mit einem grauen, fahlen Schein.

"Komm Ilse, steh auf," sagte Orla und half ihr sich erheben. Mit einem
traurigen Blick auf das schlafende Kind neigte sie sich dicht zu ihrem Ohr
und sagte mit leiser Stimme: "Der arme Doktor Gerber ist tot."

"O, mein Gott!" rief Ilse so laut, dass Orla sie aus dem Zimmer zog, weil
das Kind nicht aufwachen sollte.

"Ist es denn wahr?" fragte sie Althoff mit traenenerstickter Stimme; "das
ist ja fuerchterlich." Er nickte und liess sich in einen Stuhl fallen, indem
er den Kopf muede in die Hand stuetzte.

"Die arme, arme Flora, das suesse kleine Kaethchen," jammerte Ilse, waehrend
sie aufgeregt hin und her ging.

Orla war inzwischen hinausgegangen und hatte dafuer gesorgt, dass Althoff
Kaffee bekaeme. Sie brachte ihm jetzt selbst eine Tasse herein und setzte
sie vor ihn hin.

"Bitte, trinken Sie, Herr Doktor, ich habe den Kaffee recht stark gemacht,
er wird Sie erfrischen."

Er dankte ihr herzlich und trank. Dann zog er seine Uhr heraus.

"Schon bald acht Uhr, da ist es Zeit, dass ich gehe." Er erhob sich.

"Die arme Nellie, sie ist so erregt, es ergreift sie tief," sagte er.

"Sie muss entschieden jetzt Ruhe haben," versetzte Orla, "ich werde zu
Flora gehen und sie abloesen."

"Ich gehe mit," rief Ilse und hing sich an Orlas Arm.

Die beiden gingen mit Althoff zusammen fort. Dieser war froh, dass Nellie
nun nach Hause gehen konnte, denn er fuerchtete, dass die entbehrte
Nachtruhe und die Aufregung ihr schaden koennten.

Als die Freundinnen das Trauerhaus betraten, zoegerte Ilses Fuss auf der
Schwelle; sie musste die Hand auf das klopfende Herz legen. Schon hier
beschlich sie das unheimliche Gefuehl, welches der Ort, an dem ein Toter
liegt, hervorruft, und sie waere am liebsten wieder umgekehrt, wenn nicht
Orla, welche die Treppe schon hinaufgegangen war, sie leise gerufen haette.
Oben an der Tuer kam ihnen Nellie mit verweinten Augen entgegen und die
drei jungen Wesen umarmten sich stumm, keine vermochte zu sprechen. Sie
traten in Floras Zimmer ein. Heute lagen keine bunt verstreuten Blaetter
auf dem Schreibtisch herum, wie bei Ilses erstem Besuche, auch glich die
schweigsame Nellie am Fenster nicht im geringsten der Nellie von damals,
deren uebermuetiger Spott so belustigend gewesen war. Der duestere
Wintermorgen passte so recht zu der Stimmung in dem stillen Gemach.
Froestelnd, kalt und unbehaglich war es heute, der einfoermig graue Himmel
sah nicht aus, als ob er auch im klarsten Blau strahlen und heiter
laechelnde Sonnenblicke schicken koennte.

"Wo liegt er?" fragte Orla endlich nach langem Schweigen.

Nellie bezeichnete ihr das Zimmer.

"Ist Flora dort?"

"Sie ruht sich ein wenig," gab Nellie zur Antwort.

Orla ging hinaus. Sachte klinkte sie die Tuere zum Sterbegemach auf und
trat ein. Durch die weit geoeffneten Fensterfluegel stroemte ihr die kalte
Luft erfrischend entgegen, und sie atmete tief auf, denn die dumpfe Luft
in Floras Zimmer war beaengstigend gewesen und hatte sie beklommen gemacht.

Noch erinnerte in dem Raum nichts daran, dass hier ein Toter lag, noch
hatte keine ordnende Hand den Eindruck des Krankenzimmers verwischt. Auf
dem Tischchen vor dem Bett stand noch das halbgeleerte Glas, aus welchem
er zuletzt getrunken, daneben lag das Thermometer, das mit grausamer
Genauigkeit die hohe Temperatur des Kranken gezeigt hatte. Alles war noch
unberuehrt geblieben, und man konnte glauben, dass der stille Mann dort im
Bett ein Schlafender waere.

Orla war naeher getreten und sah mit wehmuetigen Blicken auf ihn nieder.
Ruhig und friedlich war der Ausdruck seines Gesichtes, das wachsbleiche
Profil hob sich scharf von dem dunklen Grund der Wand ab, die Haende lagen
ueber der Brust zusammengefaltet. Sie liess sich auf einem Stuhle nieder,
der dicht am Bett stand, und betrachtete lange das Antlitz des
Verblichenen. So im besten Mannesalter zu sterben, das musste schrecklich
sein, - und doch, konnte man ihn beklagen, der das Leben verliess, dem
Unglueck und Leid nun nichts mehr anzuhaben vermochten? Nein, zu beklagen
waren die, die ihn beweinten, die trauernde Witwe, das verwaiste Kind.
Ihnen hatte der erbarmungslose Tod den Gatten, den Vater geraubt.

                              [Illustration]

Ein leiser Schritt hinter Orla liess sie aufblicken; es war Andres, der ihr
ernst die Hand entgegenstreckte und dessen Blaesse verriet, dass er am
Totenbette seines Freundes und Vorgesetzten viel gelitten hatte.
Schweigend sah er auf den Toten, indem er Orlas Hand in der seinen
behielt. Dann wandte er sich ihr zu, und seine Augen versenkten sich in
die ihrigen.

"Ihr kuenftiger Beruf wird Sie an manches Totenbett fuehren und oft werden
Sie bitter empfinden, wie schwach die Hilfe des Arztes ist, wenn er
verzweifelt nach Mitteln sucht, und wie armselig ihm seine Wissenschaft
vorkommt, wenn er in brechende Augen sieht, ohne Rettung bringen zu
koennen. Werden Sie das ertragen, Orla, wird das nicht zu viel sein fuer ein
zartes Weib?"

Es war zum ersten Male, dass er sie beim Vornamen nannte. Fluesternd und
schnell hatte er gesprochen und fast flehend hatte seine letzte Frage
geklungen. Sie antwortete ihm nicht darauf, - hatte er nicht recht und war
es nicht gewagt fuer ein Weib, von Natur die Schwaechere, von ihrem Koerper
abhaengig, dass sie glaubte, sich an die Seite ernster Maenner zu stellen,
wie sie ringen und kaempfen zu koennen, um der leidenden Menschheit zu
helfen? Zum ersten Male am Bett dieses Toten war ihr der Gedanke gekommen,
dass es schwer sein muesste und dass das Gemuet einer Frau sich wohl nie daran
gewoehnen wuerde, dem unerbittlichen Tod so oft ins starre Antlitz zu
blicken. Es waren also ihre eigenen Gedanken gewesen, welchen der junge
Arzt Worte verliehen hatte. Wie deutlich verstand er in ihrer Seele zu
lesen!

Die Tuere wurde jetzt geraeuschlos geoeffnet, und ein Luftzug drang durch das
Fenster, der die Gardinen bewegt, und das junge Paar streifte. Flora mit
Ilse und Nellie traten ein, letztere im Hut und Mantel, da sie im Begriff
war fortzugehen. Die junge Witwe schien um Jahre gealtert, ihre Augen
waren tief eingesunken und ihr Gesicht aschgrau. Unheimlich starren
Blickes sah sie auf ihren Mann, wie gebrochen sank sie auf dem Stuhl am
Bette nieder und legte den Kopf auf ihre Arme, welche krampfhaft die
Stuhllehne umklammerten. Ilse unterdrueckte mit Muehe ein lautes Schluchzen,
sie hatte noch nie eine Leiche gesehen und musste ihre zitternde Gestalt
fest auf Nellies Arm stuetzen, als sie nun aengstlich in das regungslose
Antlitz schaute, das vor ihr in den weissen Kissen lag. In heiliger Scheu
und Andacht umstanden sie alle das Lager des Geschiedenen, nichts
unterbrach die feierliche Stille des Sterbezimmers. Ploetzlich ertoente
draussen eine weinende Kinderstimme, man hoerte trippelnde Fuesschen ueber den
Vorplatz eilen; im naechsten Moment schnellte die Tuerklinke auf, und die
kleine Kaethe kam ins Zimmer gelaufen. Einen Augenblick staunte sie die
tiefernsten Gesichter an und sah verwundert von einem zum andern, dann
erblickte sie ihren Papa in seinem Bett, und durch die hellen Traenen
schimmerte in ihren Augen ein glueckseliges Laecheln.

"Lieber, lieber Papa, nun bin ich wieder bei dir und gehe nicht mehr
fort," sagte sie zaertlich.

Orla trat zu der Kleinen und wollte sie fortfuehren, sie klammerte sich
aber an das Bett und fing jaemmerlich an zu weinen.

"Nein, ich will hier bleiben," rief sie und fragte dann:

"Schlaefst du denn noch, lieber Papa? Bitte, bitte, wache doch auf, ich
will dir ja guten Morgen sagen. Aber Papa, so hoere mich doch!" draengte sie
endlich ungeduldig, und als sie keine Antwort erhielt, stellte sie sich
auf die Fussspitzen und sah ihm ins Gesicht. Und wieder rief sie ihn
schmeichelnd, und ihre kleinen Finger strichen liebkosend ueber seine
erstarrten Haende. Aber schaudernd fuhr sie zurueck, und wie eine unbewusste
Ahnung ueberflog es ihre kindlichen Zuege.

"Papa, Papa!" schrie sie laut, "warum bist du denn so kalt, lieber Papa,
warum wachst du nicht auf?" Furchtsam wich sie von ihm zurueck, ihre grossen
angstvollen Augen fortwaehrend auf das bleiche Antlitz gerichtet.

Nun trat Andres zu dem Kind und wollte es fortbringen; in demselben
Augenblick sah Flora wie aus einem Traum erwachend um sich, und als sie
das kleine, hilflose Geschoepf jammernd und klagend am Bette seines Vaters
erblickte, da sprang sie auf und fiel mit einem lauten Schrei vor ihm
nieder, drueckte es heftig an sich, und ein heisser Traenenstrom erleichterte
die Qualen ihres Herzens. Mit einem Male schien die Liebe fuer die kleine
Waise in ihr erwacht zu sein und sie bedeckte ihr Gesicht mit
leidenschaftlichen Kuessen. Aber fuer Kaethchen waren Zaertlichkeiten ihrer
Mutter etwas ganz Fremdes und sie entwand sich deshalb schnell ihrer
Umarmung.

"Lass mich, ich will zu meinem Papa!" rief sie und blickte Flora feindselig
an. "Ich mag dich nicht, ich habe nur meinen Papa lieb," setzte sie noch
hinzu, ohne das geringste Mitleid fuer die schluchzende Gestalt, die auf
dem Boden kniete und die Haende rang. Erbarmungslos sprach der Kindermund
sein Urteil aus.

Die traurige Szene erschuetterte alle aufs tiefste, und um derselben ein
Ende zu machen, nahm Andres jetzt das Kind auf den Arm und trug es aus dem
Zimmer. Vertrauensvoll umschlang Kaethchen seinen Hals und legte das
Koepfchen an seine Schulter, denn diesen Onkel hatte sie gern, er gab ihr
stets so freundlich die Hand, wenn er ihr auf der Strasse begegnete, und
hatte ihr oft Spielsachen mitgebracht, wenn er zum Papa gekommen war.

Nellie war zu Flora getreten, die laut weinte.

"Komm, liebe Flora, wir wollen in das andre Zimmer gehen."

Willenlos liess sie sich fortfuehren, Orla und Ilse, deren weiches Gemuet
unter diesen Vorgaengen entsetzlich litt, folgten ihnen.

Nellie hatte Hut und Mantel wieder abgelegt, trotz Orlas instaendiger
Bitte, nach Hause zu gehen. Sie konnte sich nicht entschliessen, Flora in
ihrem Schmerz zu verlassen, besonders da diese sie flehentlich bat, bei
ihr zu bleiben. Mitleidsvoll umstanden die Freundinnen die Aermste, die
sich nicht fassen konnte und verzweifelt schluchzte. Sie haetten ihr so
gern ein Wort des Trostes gesagt, aber keine vermochte es ueber die Lippen
zu bringen. Gab es denn auch Trost fuer sie?

"Liebe Flora, du darfst dir nicht aufregen," brachte Nellie endlich
hervor, "denke an deine suesse Baby, das nur dich noch hat auf die grosse
Welt."

"Nellie," schrie die Unglueckliche auf, "ach es ist nicht zum ertragen! Das
Kind wendet sich jaeh von mir, und hat es nicht recht? Bin ich ihm eine
treue Mutter gewesen, dem Vater eine pflichttreue Frau? Jetzt erst fuehle
ich, dass ich ihn geliebt habe, dass ich mich nur im Trotz von ihm wandte,
weil ich glaubte, er wolle mich nicht verstehen. Ich bin schuld an seinem
Tode, haette ich ihn nie zu dieser unglueckseligen Schlittenpartie
gezwungen! Dort, dort hat er sich den Tod geholt. Liebe, einzige Nellie,
nie kann ich wieder froh werden, mit dieser Qual, dieser Reue im Herzen,
immer sehe ich sein brechendes Auge vorwurfsvoll auf mich gerichtet! Wenn
er noch lebte, wollte ich anders werden, aber nun ist alles vorbei, er ist
von mir gegangen, ohne mir verziehen zu haben!"

"O nein, so darfst du nicht sprechen, so nicht," sagte Nellie mit
traenenerstickter Stimme und versuchte die Weinende mit liebevollem Worten
zu beruhigen.

Ilse hatte bei Floras Selbstanklage ihr Herz in haemmernden Schlaegen
gefuehlt, ihr Inneres bebte bei jedem ihrer Worte. Wie furchtbar war es
doch, wenn die Reue zu spaet kam und Tag und Nacht keine Ruhe liess! Musste
es nicht zum Verzweifeln sein? Mit einem Schlage war Flora zum Bewusstsein
gekommen, jetzt jammerte und klagte sie, da es nichts mehr half, da der
Mund ihres Mannes fuer immer geschlossen war und ihr kein verzeihendes Wort
mehr sagen konnte. Ein Angstgefuehl schnuerte Ilses Brust zusammen, dass ihr
der Atem stockte. Dort in dem Zimmer, am Bette des Toten war es ihr wie
Schuppen von den Augen gefallen, mit einem Male konnte sie klar sehen, und
nun kam sie sich erbaermlich und klein vor und zitterte bei dem Gedanken,
dass das Schicksal auch sie mit unbarmherziger Hand beruehren koennte, wie es
hier getan. War es denn so schwer, vergab sie sich etwas, wenn sie dem
Manne, den sie liebte, den sie durch ihren Widerstand doch erst zum
Aeussersten gebracht hatte, zuerst die Hand zur Versoehnung reichte? Ja, war
es nicht ihre Pflicht und Schuldigkeit, ihn um Verzeihung zu bitten, nach
dem, was geschehen war? Musste er nicht an ihrer Liebe zweifeln, als sie
ihm durch ihre Flucht solche Kraenkung zufuegte? Orla hatte recht, sie war
mit Blindheit geschlagen gewesen, von der sie nun endlich sich befreit
fuehlte.

Die Erfahrungen, welche sie durch den Einblick in das eheliche Leben ihrer
Freundinnen gesammelt, hatte sie aufgeklaert, sie war eine andre geworden.
Erschien ihr nicht Nellie als das Muster einer Gattin, war sie etwa
widerspenstig, quaelte sie ihren Mann mit kleinlichen Launen? Nein, sie war
fuegsam und nachgiebig. Gerade diese Eigenschaften waren es aber, die ihr
den Reiz der echten Weiblichkeit verliehen.

Wie erschien ihr dagegen das Benehmen Rosis? Stiess nicht ihre Herrschsucht
auf das unangenehmste ab? Sah Rosi denn nicht ein, dass sie ihren Gatten in
den Augen andrer laecherlich machte, wenn sie den ihr gegenueber viel zu
gutmuetigen Mann dazu zwang, sich ihrem Willen zu fuegen? Ilse verabscheute
solches Wesen bei einer Frau, aber - so musste sie sich eingestehen - war
sie nicht auf dem besten Wege gewesen, wie jene zu werden?

Und wie unwuerdig erst war ihr Floras Ehe vorgekommen! Sie hatte stets
Mitleid fuer den armen Mann und das kleine Maedchen empfunden und war ueber
Flora empoert gewesen, die ueber ihre verschrobenen Ideen das Wichtigste
vergass. Ja, Ilse vermochte gut zu unterscheiden, ob eine Frau ihren Mann
gluecklich machte, sie haette auch Rosi und Flora sagen koennen: so und so
duerft ihr nicht handeln, wenn ihr eure Maenner zufrieden sehen wollt. Warum
gab sie diese guten Lehren nicht sich selbst, warum hatte sie sich nicht
laengst eingestanden, dass auch sie ihren Braeutigam durch ihren Eigensinn
und Trotz betrueben musste? Und verdiente er nicht volles ungestoertes Glueck,
da er ihr doch die beste, reinste Liebe gab? Und musste er nicht in ihrer
Achtung dadurch steigen, dass er sich einer kindlichen Laune von ihr nicht
beugen wollte?

Diese Gedanken, welche auf Ilse nach dem traurigen Ereignis einstuermten,
verfolgten sie wie boese Geister mit den bittersten Vorwuerfen, den
selbstquaelerischsten Anklagen, sie fand keine Ruhe mehr und ging wie im
Traume umher.

                                  * * *

Doktor Gerber war in die Erde gesenkt worden, und der jungen Witwe wurde
die lebhafteste Teilnahme entgegengebracht. Der Tod des allgemein
geachteten und beliebten Mannes hatte ueberall grossen Anteil erweckt, man
beklagte Flora, bedauerte das vaterlose Kind. So jung und schon Witwe, das
war ein harter Schlag fuer die arme Frau! Flora machte auch in den
schwarzen Trauerkleidern, die das farblose Gesicht noch blasser erscheinen
liessen, einen bedauernswerten Eindruck; muede und matt war ihre Haltung,
die umraenderten Augen blickten truebe und glanzlos. Sofort nach Empfang der
Ungluecksbotschaft waren ihre Eltern eingetroffen, und nun sollte sie mit
dem Kinde wieder ins Elternhaus zurueckkehren. Sie liess alles ueber sich
ergehen, fuegte sich allem, was bestimmt wurde, und war vollstaendig haltlos
geworden. Kaethchen verlangte immer noch weinend nach ihrem Papa und
fragte, ob er nicht bald wiederkaeme, ob sie nicht zu ihm duerfe. Als man
ihr sagte, dass der Papa im Himmel bei den lieben Engeln sei und sie ihn
nicht sehen koenne, beruhigte sich das glaeubige Kindergemuet dabei. Aber die
traurigen Gesichter um sie her machten sie niedergeschlagen, ihre grossen
Augen blickten sehnsuechtig und truebe, und um den kleinen Mund lagerte ein
fast strenger Ernst. Flora wich sie noch immer aengstlich aus, nur der
Grossmutter war es gelungen, sie zutraulicher zu machen.

Unter heissen Traenen hatte die junge Frau von den Freundinnen Abschied
genommen, ihr Schmerz brach dabei in seiner ganzen Heftigkeit wieder
hervor. Die Unglueckliche war nicht wiederzuerkennen; es schien, als haette
sie der furchtbare Schlag ganz umgewandelt. Ilse konnte das schmerzvolle
Antlitz der Freundin nicht aus ihrem Gedaechtnis verscheuchen, es stand ihr
wie eine drohende Mahnung vor Augen und schien ihr zuzurufen: "Kehre um,
ehe es zu spaet ist!"

Den Freunden fiel ihr seltsam nachdenkliches Wesen wohl auf, und Nellie
erriet, was in ihr vorging, aber sie fragte nicht, sie wollte, dass Ilse
von selbst sagen sollte, was ihr Herz bewegte. -

Es war nur noch kurze Zeit bis zum Weihnachtsfest, als Ilse eines Abends
in ihrem Stuebchen sass und in ihrer Schreibmappe blaetterte. Sie suchte den
Brief, den sie in jener Nacht nach der Schlittenpartie an Leo geschrieben
hatte. Er war nicht abgeschickt worden. Sie hatte ihn oft in den Haenden
gehabt und ihn immer wieder beiseite gelegt, ohne zu einem Entschluss zu
kommen. Heute las sie ihn nochmals durch und zerriss ihn dann in kleine
Stueckchen, die sie im Ofen verbrannte. Nein, was sie dem Geliebten sagen
wollte, sagen musste, das konnte sie dem Papier nicht anvertrauen. Steif
und gezwungen kamen ihr die Worte vor, die sie damals geschrieben hatte,
ganz anders standen sie heute in ihrem Herzen geschrieben, das ihr Tag und
Nacht keine Ruhe liess vor heisser Sehnsucht nach Leo.

Er hatte sich - das wusste sie - bis Weihnachten Urlaub genommen, und
Nellie erwaehnte heute wie zufaellig, dass er bereits zurueckgekehrt sei. Da
hatten ihre Augen aufgeleuchtet, und sie hatte geheimnisvoll gelaechelt,
als wuerde sie von etwas Freudigem bewegt. Und so war es auch! Als sie
hoerte, er sei wieder daheim, stand es in ihr fest, dass sie Weihnachten
nicht ohne ihn verleben wollte. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie sich
zurueckziehen durfte, denn heute abend wollte sie ihren Entschluss den
Eltern mitteilen. Ein frohes Laecheln ueberflog ihre Zuege bei dem Gedanken,
dass sie die Lieben nun bald wiedersehen sollte, und sie schrieb einen
langen, ausfuehrlichen Brief an die Eltern.

"In wenigen Tagen bin ich wieder bei euch," hiess es zum Schluss, "aber
verratet niemand meine Rueckkehr, am wenigsten Leo." Die letzten Worte
unterstrich sie zweimal.

Am andern Morgen teilte sie Nellie mit, dass sie den Eltern geschrieben und
ihre Heimkunft zum Weihnachtsfest angemeldet habe. Es kam zoegernd und
zaghaft heraus, denn sie konnte ihre grosse Verlegenheit nicht bemeistern.
Aber Nellies Gesicht strahlte foermlich bei dieser Botschaft und innig
schloss sie die Freundin in ihre Arme.

"O _darling_," sagte sie geruehrt, "ich wusste es ja, du wuerdest wieder zu
dich kommen; o, nun ist alles wieder gut!"

"Nellie," fragte Ilse darauf leise, indem sie das ergluehende Antlitz an
der Freundin Schulter barg, "glaubst du dass er mir verzeihen wird?"

"O wie kannst du nur fragen? Er hat sein kleines Braut so lieb, wie
gluecklich wird er sein, wenn er dich wieder hat!"

Die beiden Freundinnen sassen noch lange Hand in Hand beisammen. Ilse hatte
so viele Fragen auf dem Herzen, und die junge Frau musste noch manchen
Zweifel verscheuchen, noch manchen innern Streit schlichten, bis ihr
schliesslich helles, ungetruebtes Glueck aus Ilses Augen entgegenlachte und
diese ihre Freude auf das Wiedersehen mit Leo ganz unverhohlen zeigte.

Die Eltern schrieben umgehend wieder, und Ilse standen die hellen Traenen
in den Augen, als sie las, wie gross die Freude zu Hause ueber ihre baldige
Heimkehr war.

Es erfasste sie nun eine Unruhe, eine Ungeduld, dass sie, so schwer ihr auch
der Abschied von den Freunden wurde, doch kaum den Tag ihrer Abreise
erwarten konnte.

So war der letzte Nachmittag, den sie bei den Freunden verbrachte,
herangekommen. Sie war mit Nellie und Orla in die Stadt gegangen, um noch
einige Einkaeufe zu besorgen und Abschiedsbesuche zu machen. Als die
ersteren erledigt waren, trennte sich Orla von ihnen, da sie nach Hause
gehen wollte, um fuer den folgenden Tag noch zu arbeiten.

Sie waehlte aber diesmal nicht den Weg durch die Stadt, sondern zog es vor,
ueber den alten Festungswall zurueckzukehren, der um diese Zeit meist
menschenleer war. Die hohen, alten Linden, welche sich im Sommer zu einem
gruenen, schattigen Dach woelbten, trugen jetzt schwere Schneemassen, und in
ihren Wipfeln sassen Scharen von Kraehen. Durch den tiefen Schnee, der sich
dicht an die maechtigen Staemme schmiegte, war nun ein schmaler Pfad
gebahnt, auf dem Orla einherschritt. Links sah man in verschneite, zu
Villen gehoerige Gaerten, rechts konnte das Auge weiter schweifen ueber die
weissen Daecher der Stadt, ueber Felder und Wiesen bis zu den Umrissen einer
fernen Huegelkette. Heute war nicht viel davon zu sehen, da die Ferne in
einem grauen Nebel verschwand; auch das wirbelnde Schneegestoeber liess
schwer etwas erkennen. Orla stand einen Augenblick still und sah in den
lustigen Flockentanz vor ihren Augen. Sie bemerkte deshalb nicht, dass eine
Gestalt ihr entgegenkam. Erst als diese neben ihr stehen blieb, erkannte
sie Andres in derselben.

"Das ist ein gluecklicher Zufall, dass ich Sie hier treffe," sagte er, indem
er sie begruesste. "Eben war ich bei Althoffs, fand aber das Nest leer."

"Ja," erwiderte Orla, "meine Freundinnen und ich gingen in die Stadt, und
ich habe mich von ihnen getrennt, da sie vorhaben, Abschiedsbesuche zu
machen, waehrend ich nach Hause gehen will, um noch zu arbeiten."

"Darf ich sie begleiten?" fragte er, da sie langsam weiter ging.

"Gerne, Herr Doktor," versetzte sie freundlich, und sie schritten auf dem
engen Wege nebeneinander weiter.

"Es tat mir leid," fing er wieder an, "dass ich gerade heute niemand bei
Althoffs traf; ich wollte erzaehlen, welches Glueck mich betroffen hat."

"So?" fragte sie und sah ihn neugierig dabei an, "bitte, erzaehlen Sie mir
doch, was Ihnen so Schoenes begegnet ist?"

"Denken Sie nur, mir ist heute die Stelle des verstorbenen Doktor Gerber
angeboten worden. Was sagen Sie dazu, bin ich nicht ein Glueckspilz? Vom
einfachen Assistenzarzt ruecke ich so schnell vor und bin nun, sozusagen,
ein gemachter Mann."

Die helle Freude ueber das frohe Ereignis lachte aus seinen Augen, die
erwartungsvoll auf Orla ruhten.

Sie reichte ihm aufrichtig die Hand.

"Ich gratuliere Ihnen von Herzen, das ist wirklich eine gute Botschaft,
die Sie uns bringen wollten, Herr Doktor."

Er hatte ihre Hand festgehalten, die sie ihm jetzt entzog.

"Wie werden sich Althoffs freuen," fuhr sie fort, "wenn ich ihnen die
interessante Neuigkeit ueberbringe."

"Sie sind die erste, welche sie erfahren hat, gnaediges Fraeulein; ich kann
nicht beschreiben, wie froh ich darueber bin, wie dieses Glueck erst jetzt
den rechten Wert fuer mich bekommt, da Sie es wissen und ich in Ihren Augen
lese, dass Sie sich mit mir darueber freuen. Fraeulein Orla, soll ich Ihnen
sagen, warum mich dieses Anerbieten jetzt noch viel mehr beglueckt, als es
das zu andern Zeiten getan haette? Darf ich sprechen, wie mir um das Herz
ist?"

Er hatte eindringlich mit steigender Waerme geredet. Orla beschleunigte bei
seinen Worten ihre Schritte, sie wagte nicht ihn anzublicken. Ihre
angeborene Ruhe, ihre Sicherheit in allen Lebenslagen verliessen sie, und
sie sann vergebens nach, welche Antwort sie ihm geben solle. Er hatte in
einer andern Sprache zu ihr gesprochen, die sie noch nicht kannte, seine
Stimme ging ihr in einer Weise zu Herzen, wie es ihr bis jetzt noch
niemals vorgekommen war.

Andres bemerkte ihre Erregung und drang nicht weiter in sie. Aber seine
Augen blickten feurig und leidenschaftlich in ihr blasses Antlitz. Ihre
feinen Nasenfluegel bebten, zwischen den kuehngeschwungenen, tiefschwarzen
Augenbrauen lag eine Falte, und die schnellen Atemzuege verrieten ihre
innere Unruhe. Schweigend gingen sie vorwaerts, in beiden wogten die
Gedanken und keines vermochte zu sprechen.

"Habe ich Sie beleidigt?" fragte er endlich, da Orla den Blick noch immer
geradeaus richtete und ihm der Ausdruck ihrer Zuege jetzt fast streng
erschien.

"Nein, nein," gab sie schnell zur Antwort, "womit sollten Sie mich
beleidigt haben? Ich war nur so schweigsam eben, - weil ich an etwas
Wichtiges dachte -." Sie wollte eine Entschuldigung vorbringen, wurde aber
bei dieser Ausrede verlegen und beendete den Satz deshalb nicht.

"Wissen Sie schon," fuhr sie fort, indem sie schnell das Thema abbrach,
"dass Ilse morgen abreist? Sie wollte erst naechste Woche fort, aber ihr
Vater wuenscht dringend, dass sie jetzt kommt. Sie wird uns sehr fehlen."

Er fuehlte sich von dieser Wendung des Gespraechs nicht angenehm beruehrt.
Sie schien zu ahnen, was er ihr hatte sagen wollen, und suchte nun leicht
darueber hinwegzugehen; begriff sie denn nicht, dass dies die
schmerzlichsten Zweifel in ihm wachrufen musste? Und doch musste er sich
wieder sagen, dass die Scheu vor seiner Frage echt maedchenhaft und nur zu
begreiflich war, und dass sie vielleicht deshalb so handelte, um Zeit zu
gewinnen und sich zu sammeln. Er wusste ja genau, dass sie keine Kokette
war, die nur mit ihm spielen wollte, und dass ihr auch in diesem Augenblick
nichts ferner lag, als ihm die Aussprache dessen, was er ihr sagen wollte,
zu erschweren. Scheinbar ruhig und unbefangen ging er auf ihr Gespraech
ein.

"Werden Sie denn Weihnachten zu Hause verleben?" fragte Orla wieder.

"Ja, ich reise zu meiner Mutter und werde bei ihr die Ferien zubringen."

"Wollen Sie die ganze Ferienzeit fort bleiben?" entgegnete sie wider
Willen betroffen.

"Die ganze Ferienzeit!" wiederholte er mit einem freudigen Aufblitzen in
seinen Augen.

"Wie schade," gestand sie offen, "dann sehe ich Sie also erst im neuen
Jahre wieder. Das Fest wird gewiss fuer uns ein recht stilles sein, da Ilse
fort ist und Sie auch fehlen. Ich werde die Ferienzeit benutzen, um
fleissig mit Doktor Althoff zu arbeiten."

Sie seufzte leise, wohl unbewusst.

"Werden Sie zaghaft, wenn Sie an ihren kuenftigen Beruf denken, Fraeulein
Orla?"

"Nein," erwiderte sie rasch, "ich habe mir meinen Beruf ja selbst gewaehlt,
wie koennte ich da zaghaft sein? Halten Sie mich fuer so wankelmuetig, Herr
Doktor?"

Er schuettelte den Kopf. "Nein, ich weiss, Sie sind anders wie die meisten
ihres Geschlechts, und ich komme nur zu dieser Frage, weil Sie seufzten
und ich annahm, dieser Seufzer gelte Ihrer Zukunft."

"Ja, meiner Zukunft galt er allerdings, da haben Sie recht. Wenn ich auch
nicht zittere und zage, so bin ich mir doch klar bewusst, dass ich keiner
leichten Zeit entgegengehe. Was muss noch alles in meinen armen Kopf
hinein! Und dann die Examina, - wenn ich daran denke, wird mir doch etwas
baenglich zu Mute. Nicht wahr, die sind sehr schwer? Wenn meine
Examinatoren nur nicht zu streng sind und etwas gnaedig mit mir verfahren."

"Ich wuesste einen Ort," warf er fast schuechtern ein, "wo Sie ein leichtes
Examen bestehen koennten. Ich kenne den einen Examinator, wie mich selbst,
und weiss, dass er Ihnen keine Frage stellen wuerde, die Sie nicht
beantworten koennten."

"Wie heisst dieser Ort?" fragte sie ahnungslos und sah ihn voller Erwartung
an.

Das geheimnisvolle, schelmische Laecheln in seinem Gesicht, als er jetzt
weiter sprach, ohne ihre Frage zu beantworten, bemerkte sie nicht.

"Ja, ich weiss sogar, dass der bewusste Examinator, wenn Sie ihm seine erste
- allerdings schwerwiegende - Frage richtig und zur vollsten Zufriedenheit
beantwortet haben, ueberhaupt keine weiteren Fragen an Sie richten wird."

Sie sah ihn mit ihren grossen Augen erstaunt an.

"Sie sprechen in Raetseln, Herr Doktor, oder wollen Sie sich ueber mich
lustig machen? Nicht wahr, Sie finden es so unerhoert, wenn eine Frau sich
auf maennliches Gebiet wagt, dass Sie mich verhoehnen wollen? Aber warten Sie
nur, wenn ich erst Doktorin bin, und Ihnen mein Diplom schicke, dann
muessen Sie klein beigeben. Uebrigens - Ihre Zweifel sind ganz heilsam fuer
mich, sie feuern mich an, Ihnen zu beweisen, dass auch das weibliche
Geschlecht etwas zu leisten vermag."

Sie hatte ohne die geringste Empfindlichkeit gesprochen, aber mit grossem
Eifer, so dass ihre Wangen zart geroetet waren, und sie unbeschreiblich
liebreizend in diesem Augenblick aussah.

"Ich kann Ihnen auch behilflich sein, Doktorin zu werden," sagte er wieder
mit derselben geheimnisvollen Miene, "oder vielmehr der Examinator, von
welchem ich eben sprach, kann Sie zur Doktorin machen, wenn Sie nur
wollen."

Seine Stimme klang erregt, er atmete tief und schnell, und sein seltsames
Wesen fiel Orla jetzt auf. Sie erwiderte nichts und hielt die Augen auf
ihren kleinen Muff gesenkt, von welchem sie mechanisch die immer
wiederkehrenden Schneeflocken fortstrich.

"Orla," sagte er bittend, indem er stillstand und ihre Hand ergriff,
"verstehen Sie mich nicht, oder wollen Sie mich nicht verstehen? Meine
Worte sind ernst gemeint, ich scherze nicht. Der Examinator, von welchem
wir sprachen, - darf ich es sein? Wollen Sie mir die einzige Frage
beantworten? Nur mit einem kleinen Wort, das genuegen wuerde, mich zum
gluecklichsten Menschen zu machen."

Ihr Herz klopfte in raschen Schlaegen, und sie holte tief Atem. Aber sie
konnte nicht sprechen, sie fuehlte wie seine Hand zitterte, wie qualvoll
diese Ungewissheit fuer ihn sein musste, und doch vermochte sie es nicht, ihm
eine Antwort zu geben.

"Orla!"

Er beugte sich ganz nahe zu ihr hin, und sagte in zaertlichem Ton: "Wollen
Sie meine Doktorin werden?"

Jetzt blickte sie zu ihm auf, und in ihren Augen las er ein stummes Ja.

Im ueberschwaenglichen Gluecksgefuehl umfasste er ihre schlanke Gestalt und
drueckte einen Kuss auf ihre Lippen.

"Geliebte," fluesterte er innig, "bist du ebenso gluecklich wie ich? Sage es
mir."

"Ich kann nicht gluecklicher sein," gab sie leise zur Antwort, und ihr
schoenes Antlitz strahlte in braeutlicher Seligkeit.

Er hatte ihren Arm in den seinigen gelegt und hielt ihre Hand fest
umschlossen. So gingen sie weiter auf dem schmalen Wege zwischen den
beiden Schneewaenden. Wer koennte die ersten Stunden beschreiben, die auf
das beseligende Gestaendnis der Liebe folgen? die scheue Zurueckhaltung der
Braut schildern, die noch so schuechterne Leidenschaft des Braeutigams, die
ernsten und doch so heiteren Gedanken, welche die Brust der Gluecklichen
wie Fruehlingswehen durchziehen und sie still und schweigsam machen? Ein
inniger Haendedruck, ein Blick in die geliebten Augen, sie sind beredter
als tausend Worte. -

Und so schritt auch unser Paar in stummer Glueckseligkeit dahin. Ueber ihnen
heulte der Wind in den Baeumen, die alten ehrwuerdigen Wipfel mussten es sich
gefallen lassen, dass er mit ihnen sein Spiel trieb, laut aechzend beugten
sie sich seiner Macht und schuettelten unwillig den Schnee von ihren
Haeuptern, den beiden gerade ins Gesicht. Aber sie achteten der
winterlichen Schauer nicht, in ihren Herzen war es licht und sonnig, und
das Blut wallte ungestuem durch die Adern, so dass Orla oft tief aufatmen
musste und schliesslich ihr Jaeckchen oeffnete, weil es so erdrueckend heiss
waere, wie sie sagte. -

Die Dunkelheit war hereingebrochen, als sie in die erleuchteten Strassen
einbogen. Orla draengte es nach Hause zu kommen. Sie ging durch eine kleine
Seitengasse, welche den Weg bedeutend abkuerzte. Andres haette gern noch den
weitesten Umweg durch die Stadt gemacht, aber sie meinte, Nellie und Ilse,
die gewiss laengst zu Hause waeren, wuerden sich sehr wundern, dass sie noch
nicht daheim sei. Er brachte sie bis vor Althoffs Haus. An der
Gartenpforte blieb Orla stehen und streckte ihm die Hand entgegen.

"Soll ich nicht mit hinaufgehen?" fragte er erstaunt, "wollen wir den
Freunden nicht unser Glueck mitteilen?"

"Jetzt nicht, noch nicht, Liebster, ich muss erst mit mir allein sein, und
mich zu fassen suchen. Morgen, dann wollen wir es den Freunden sagen."

Wie ein Schatten flog es ueber seine Zuege. Er sollte sich jetzt von ihr
trennen, sie heute nicht mehr wiedersehen? Wie konnte er bis morgen Ruhe
finden, Ungeduld und Sehnsucht wuerden ihn verzehren. Das war zu viel
verlangt!

"Du bist grausam," sagte er leise.

Sie laechelte und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ja, es kam ihr jetzt
selbst grausam vor, dass sie sich bis morgen nicht wiedersehen sollten.

"Willst du heute abend nach dem Essen kommen? Du findest uns dann alle
zusammen, und wir ueberraschen die Freunde mit der Nachricht, dass wir
Brautleute sind. Ist es dir recht so?" Statt jeder Antwort presste er seine
Lippen auf ihre Hand und schlang seinen Arm um ihre Taille. Sie entwand
sich ihm aber schnell.

"Wenn man uns saehe," sagte sie und blickte sich aengstlich um. "Ich will
lieber gehen. Leb wohl, auf Wiedersehen bis nachher, komm nicht zu spaet."

Sie eilte ins Haus. Wie ein Traeumender stand er vor der beschneiten Pforte
und blickte ihr noch nach, obwohl sie schon laengst verschwunden war.
Endlich ging er fort, aber er schlug nicht den Weg nach seiner Wohnung
ein. Er wuerde es jetzt nicht in den engen vier Waenden aushalten, eine
innere Unruhe trieb ihn immer weiter. Das Stuermen und Wogen in seiner
Brust befluegelte seine Schritte, so dass er die Strassen in Sturmeseile
durchlief und die Leute ihn verwundert ansahen. Seine Bekannten, die ihm
begegneten und die er zerstreut gruesste, blieben stehen und schauten
kopfschuettelnd hinter ihm her.

Orla war unbemerkt in ihr Zimmer gelangt. Sie konnte jetzt niemand sehen
und sprechen, den Freundinnen haette ja ihre Erregung auffallen muessen,
auch wollte sie erst allein die Ruhe zu gewinnen suchen, mit welcher sie
dieselben jetzt noch taeuschen musste.

Sie hatte Hut und Jacke abgelegt und wusch ihr heisses Gesicht mit frischem
Wasser. Was die Freunde wohl sagten, ob sie geahnt hatten, dass es so
kommen wuerde? Sie laechelte vor sich hin und malte sich im Geiste die
Ueberraschung auf den verschiedenen Gesichtern aus. Erregt schritt sie auf
und ab und oeffnete schliesslich das Fenster, weil ihr die Luft in dem
kleinen Stuebchen schwuel und drueckend erschien. Vorwitzig kamen die
Schneeflocken hereingeflogen, sie wirbelten ihr ins Antlitz und setzten
sich in ihren dunklen Haaren fest. In Gedanken verloren blickte sie hinaus
in das Gestoeber draussen. Sie kam sich so anders, so fremd vor; dieses
heftig klopfende Herz war es das ihre, diese unbeschreiblich schoenen
Empfindungen, welche es durchstroemten, - war das alles Wirklichkeit, was
sie empfand und dachte, oder traeumte sie nur?

Sie zuckte zusammen, als sich jetzt die Tuere oeffnete und Ilse hereintrat.

"Herrgott, Orla, bei diesem Wetter am offenen Fenster?" rief sie erstaunt.

"Es war hier so heiss, Kind," gab Orla ausweichend zur Antwort und schloss
das Fenster.

"Heiss?" wiederholte Ilse, "aber das Feuer im Ofen ist ja schon lange aus."

Orla ueberhoerte diese Einrede.

"Bist du schon mit Packen fertig?" fragte sie und zeigte auf die Koffer.
"Also morgen willst du wirklich reisen? Du wolltest mich wohl zum
Abendessen holen?"

Ilse sah sie verwundert an. Warum fragte Orla so zerstreut und vermied so
auffaellig sie anzusehen, waehrend sie sonst jedem, mit dem sie sprach,
scharf in die Augen sah?

"Wir dachten, du waerst schon lange zu Hause, Orla, da du gesagt hattest,
du wollest arbeiten."

"Ja, ja, das wollte ich auch, aber - es war so himmlisch draussen, und da
bin ich auf eigene Faust noch etwas spazieren gegangen. Komm Kind."

Sie ging zur Tuere und Ilse folgte ihr.

"Himmlisch draussen!" wiederholte sie lachend. "Aber Orla, es ist ja ein
schreckliches Wetter, der eisige Wind und dazu das Schneegestoeber, - hast
du denn das nicht bemerkt?"

"O ja," antwortete die Russin, "aber ich liebe das gerade und nenne
solches Wetter schoen."

Sie hatte jetzt ihre Fassung wieder gewonnen und konnte mit unbefangenem
Gesicht bei dem jungen Ehepaar eintreten. Bei Tische sprach sie lebhaft
und viel; sie war lange nicht so redselig gewesen wie heute, und ihre
Augen leuchteten in einem wunderbaren Glanze. Ilse sass ihr gegenueber und
betrachtete sie mit heimlicher Bewunderung; sie glaubte, die Freundin nie
so schoen gesehen zu haben. Die leicht geroeteten Wangen standen ihr zum
Entzuecken. Sie erzaehlte lebendig und spannend von ihrer Heimat und wusste
dadurch die Gedanken von der bevorstehenden Trennung, welche namentlich
Nellie und Ilse naheging, abzulenken. Dann und wann flogen ihre Blicke
verstohlen nach der Uhr, und so oft jemand ins Zimmer hereinkam, wandte
sie schnell den Kopf nach der Tuere. Als Nellie erwaehnte, dass Andres
waehrend ihrer Abwesenheit dagewesen sei, laechelte sie geheimnisvoll, so
dass Ilse sie fragte, was denn ihre Heiterkeit erregt habe.

Nach dem Abendessen begab sich die kleine Gesellschaft wie gewoehnlich in
Nellies gemuetliches Zimmer, wo es heute besonders behaglich aussah. Ein
helles Feuer knisterte in dem kaminartigen Ofen, und die Lampe mit dem
Schirm von rosa Seide beleuchtete alles mit einem magischen Schimmer. Ein
zarter Maiblumenduft, den die junge Frau besonders liebte, durchwehte den
traulichen Raum.

Orla stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Jetzt konnte er jeden
Augenblick kommen, denn es war die Zeit, welche sie verabredet hatten. Sie
spaehte die Strasse entlang, das Gestoeber hatte aufgehoert, blendend weiss
leuchtete ihr aus der Dunkelheit der Schnee entgegen. Mit fieberhafter
Ungeduld sehnte sie den Augenblick herbei, der ihr den Geliebten bringen
sollte, und es duenkte ihr eine Ewigkeit, die er sie warten liess. Endlich
sah sie eine hohe Gestalt aus der Dunkelheit auftauchen, die es sehr eilig
zu haben schien, denn mit grossen Schritten naeherte sie sich dem Hause. Das
war er! Die Gartenpforte klirrte, gleich darauf fiel die Haustuere ins
Schloss und nun wurde kraeftig an der Klingel gezogen. Das Maedchen kam
herein und meldete Doktor Andres, der ihr auch gleich auf dem Fusse folgte.
Orla beugte sich tief ueber die Maiblumen im Fenster, um ihr Antlitz zu
verbergen.

"Sie strahlen ja foermlich, Doktor, was ist denn mit Ihnen geschehen, haben
sie etwa das grosse Los gewonnen?" rief ihm Althoff scherzend entgegen.

"Ja," gab er lachend zur Antwort, und dabei ueberflog es seine Zuege wie ein
verklaerender Schimmer. Er schritt auf Orla zu und legte ihre kleine kalte
Hand in die seinige. So trat er mit ihr zu den andern in den Lichtkreis
der Lampe, deren Schein ihr jetzt bleiches Gesicht rosig ueberhauchte.

"Ja," wiederholte er noch einmal, und seine Stimme zitterte leise. "Sie
haben recht, Herr Doktor, ich habe das grosse Los gewonnen, - hier, hier
ist meine Braut."

Stuermisch zog er Orla an seine Brust.

Die Freunde hatten einen Augenblick wie sprachlos gestanden, dann aber
brach ein wahrer Jubel los.

Die junge Braut wurde von Nellie und Ilse mit Fragen ueberschuettet, waehrend
sich die beiden Maenner herzlich die Haende schuettelten. Orla laechelte
selig, und in ihren Augen schimmerte es feucht. Dies versetzte die
weichherzige Nellie in eine solche Ruehrung, dass ihr nun auch die Traenen
ueber die Wangen rollten und sie Orla in langer Umarmung festhielt. Ilse,
welche ihr unter vielen zaertlichen Kuessen die innigsten Wuensche
zugefluestert hatte, bemerkte kaum die Traenen in den Augen der beiden
festumschlungenen Freundinnen, als auch sie sich der Ruehrung nicht
erwehren konnte und ihren Zaehren freien Lauf liess.

Jetzt wurde es aber den beiden Maennern zu viel. "Das ist mir eine schoene
Geschichte," rief Althoff, "da weint ihr alle drei statt zu jauchzen und
froehlich zu sein! Lieber Freund," wandte er sich zu Andres, "an Ihrer
Stelle liesse ich es mir nicht gefallen, dass eine solche Freudenbotschaft
mit Traenen begossen wird. Lasst uns dieselbe mit etwas andrem begiessen, und
auf das Wohl des jungen Paares anstossen. Halt! Ich habe eine Idee! Nellie,
Weib, wo sind die Weinkellerschluessel? Daran werden Sie sich auch noch
gewoehnen muessen, lieber Doktor, dass die Frauen alles unter Verschluss
halten, sogar den Weinkellerschluessel, am sichersten aber den -
Hausschluessel!"

Dabei warf er einen neckisch herausfordernden Seitenblick auf seine Frau.

"O du verleumderisches Mann," rief diese und nahm den Schluessel aus einem
zierlichen Koerbchen. Er hob ihr Kinn in die Hoehe und sah ihr in die Augen.

"Bist du mir boese, Schatz?" fragte er zaertlich.

"Natuerlich, du schreckliches Mann," antwortete sie und gab ihm scherzend
einen Schlag.

"Au," rief er, "so wird man nun von seiner eigenen Frau behandelt! Erst
sagt sie 'schreckliches Mann' und dann haut sie einen sogar. Doktor,
heiraten Sie lieber nicht, ich rate es Ihnen!"

Er lachte mit dem ganzen Gesicht in ausgelassener Laune, denn es machte
ihm grossen Spass, seine Frau zu necken. Mit geheimnisvoller Miene
verschwand er jetzt mit Nellie. Ilse folgte ihnen, weil sie sich hoechst
ueberfluessig bei dem Brautpaar fuehlte.

Im Esszimmer hoerte man bald darauf ein geschaeftiges Hinundherlaufen. Tueren
klappten, Glaeser klangen, dazwischen toente froehliches Lachen und Sprechen.
Nach einer Weile wurden die Fluegeltueren geoeffnet und das Brautpaar
feierlich hereingefuehrt. Trotz der Kuerze der Zeit hatten es die Freunde
verstanden, alles festlich herzurichten. Die grosse bronzene Haengelampe
strahlte in hellem Glanze. In den Wandleuchtern brannten Kerzen, deren
Licht sich in den Glaesern und Kruegen spiegelte, die ringsherum auf dem
Wandgesims aufgestellt waren. Ueber den einladend besetzten Tisch war eine
altdeutsche Spruchdecke gebreitet, und in der Mitte hatte Nellie ihre
Blumen und Blattpflanzen malerisch aufgebaut. Daneben standen alte Meissner
Schalen, mit Kuchen und Fruechten gefuellt, waehrend aus einem
Champagner-Kuehler einige Silberhaelse hervorschauten. In dem Spitzglas, das
auf Orlas Platze stand, duftete ihr ein Straeusschen aus Myrten und
Maiblumen entgegen. Die sinnige Nellie hatte es aus den Blueten gebunden,
in deren Anblick Orla sich so eifrig versenkt hatte, als Andres eintrat.

"Nellie, Ilse, Herr Doktor, wie kann ich euch danken fuer soviel Liebe und
Freundschaft!" rief Orla bewegt und auch Andres war voller Dankbarkeit fuer
diese Ueberraschung. In heiterster Stimmung nahm die kleine Gesellschaft
Platz. Helle Freude glaenzte auf allen Gesichtern. Die Champagnerpfropfen
knallten, und als die Glaeser gefuellt waren, ergriff Doktor Althoff das
seinige und liess mit herzlichen Worten das neuverlobte Paar leben. Unter
Scherzen, Lachen und Necken flogen die Stunden dahin. Nur eine stimmte
nicht aus vollem Herzen mit in den Jubel der uebrigen ein, das war unsre
Ilse. Dem gluecklichen verlobten Paare gegenueber kam sie sich wie eine
verlassene Braut vor. Eine unerklaerliche Bangigkeit rief immer neue
Zweifel bei ihr hervor und machte sie beklommen. Fortwaehrend beaengstigten
sie quaelende Fragen. Liebte er sie noch? Wuerde er ihr verzeihen? Ihr
bangte vor den kommenden Tagen. O, koennte sie doch die Zeit verwischen,
die ihm und ihr so viel Truebsal bereitet hatte, den Misston fortzaubern,
der die Eintracht ihrer Seelen stoerte. Ja, was half nun alle Reue? Die
verflossenen Wochen und Monate kamen nicht wieder, sie waren ihnen beiden
fuer immer verloren. Um wieviel frohe, glueckliche Stunden hatte sie sich
betrogen! -

Spaet in der Nacht erst trennte man sich. Die Lichter erloschen, und die
junge Braut, mit den verwelkten Maiblumen an der Brust, ging mit Ilse in
das gemeinsame Schlafzimmer. Sie nahm die kleinen Gloeckchen, die traurig
die Koepfe haengen liessen, und legte sie zwischen die Blaetter eines Buches.

"Zur Erinnerung an diesen Tag," sagte sie zu Ilse, welche auf ihrem Koffer
sass und der Freundin mit schwermuetigen Augen zusah.

"Wie ich dich beneide, Orla," sagte sie leise, "du wirst deinem Rudolf
niemals Gram bereiten, du wirst ihn gluecklich machen, denn du bist keine
kleinliche Natur, wie ich es bin."

"Aber Kind, was faellt dir ein, wie kannst du so mutlos sprechen? Du bist
ein kleiner Tollkopf, dessen Trotz in der Pension gebaendigt wurde und nun
durch die zu grosse Nachgiebigkeit deiner Eltern, deines Verlobten wieder
zum Vorschein kam. Aber jetzt wirst du, wie ich bestimmt glaube, fuer immer
geheilt sein. Nur nicht zaghaft, Ilse! Ich kann mir gar nicht denken, dass
es so schwer faellt, dem liebsten Menschen auf der Welt ein gutes Wort zu
geben, wenn man ihn gekraenkt hat."

"Wirklich, Orla?" fragte Ilse, der eine solche Ansicht aus diesem Munde
massgebend war, "wuerdest du deinen Braeutigam in einem aehnlichen Fall um
Verzeihung bitten koennen? Und das wuerde dir nicht schwer werden?"

"Gewiss nicht," antwortete die Freundin, "fuer den Mann, den ich liebe,
wuerde ich alles tun."

Ilse schwieg. Sie hatte geglaubt, die stolze Orla koennte sich nie soweit
demuetigen. Aber nun diese erklaerte, dass sie ohne Scheu ihren Braeutigam um
Verzeihung bitten wuerde, wenn sie ihn gekraenkt haette, schien es ihr, als
ob sie durch dieses Gestaendnis von ihrem Stolz nichts einbuesste und deshalb
noch lange keine unterwuerfige Natur zeigte. Orla war herangetreten und
legte die Hand auf Ilses lockiges Haar.

"Geh nur zu ihm, Kind, du vergibst dir dadurch nichts, sondern machst nur
die Fehler wieder gut, zu denen dich dein leidenschaftlicher Sinn
hingerissen hat."

"Glaubst du das wirklich, Orla? Ach, ich kann dir nicht sagen, wie ich den
Tag herbeisehne, der uns unser Glueck zurueckgibt. Ich war toericht, ich weiss
es, ich habe unrecht gehandelt und bereue -"

"Halt," unterbrach sie Orla, "ich darf deine Beichte nicht anhoeren, nur
deinem Leo darfst und musst du dies alles sagen. - Aber nun wollen wir
schlafen, sonst sind wir morgen frueh nicht zur rechten Zeit wach, und du
versaeumst den Zug."

"Orla, ich habe noch eine Bitte an dich."

"Nun?"

"Erzaehle deinem Braeutigam, was zwischen Leo und mir vorgefallen ist. Ich
habe mich ihm gegenueber einmal recht kindisch benommen und ihm keine
Aufklaerung gegeben. Ich wollte es immer tun und konnte mich doch nicht
entschliessen, die Sache nochmals zu beruehren. Jetzt aber, da du mit ihm
verlobt bist und er mir dadurch viel naeher gerueckt ist, soll er alles
wissen."

Orla drohte lachend mit dem Finger.

"Das sind ja nette Geschichten, die ich da zu hoeren bekomme. Ihr beide
habt Geheimnisse miteinander, da bin ich doch begierig, das naehere zu
erfahren. Doch nun ernstlich, gute Nacht, ich bin so muede, dass mir die
Augen zufallen."

Ilse merkte wohl, dass Orla nur Muedigkeit vorschuetzte, um nicht mehr
sprechen zu muessen, sondern ungestoert traeumen und denken zu koennen.
Schweigend begaben sie sich zur Ruhe und lagen mit geschlossenen Augen da,
aber noch lange wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Beide kaempften
mit dem stuermisch bewegten Herzen. Orlas Seele erbebte noch von dem
Nachhall des seligen Gluecks, das ihr der heutige Tag gebracht hatte, und
Ilse liess die Sehnsucht nach dem Geliebten spaet erst Ruhe finden.

Der daemmerige Wintermorgen war schon laengst angebrochen, als ein kraeftiges
Klopfen an der Tuere die beiden Schlaeferinnen aus ihren Traeumen erweckte.
Die Fraeulein muessten schnell aufstehen, rief das Maedchen, denn es sei schon
sehr spaet. -

Und nun war der Augenblick des Abschiednehmens gekommen, zur Abfahrt
bereit stand Ilse auf dem Bahnhof. Die Freunde hatten sie natuerlich
begleitet. Waehrend Althoff das Billet besorgte, schritt das Brautpaar
selig plaudernd auf dem Perron hin und her. Ilse und Nellie aber standen
Hand in Hand zusammen. Die Trennung wurde beiden sehr schwer, das sah man
an ihren verweinten Augen; auf Ilses Wangen perlten noch immer die Traenen
in hellen Tropfen.

"Ach, Nellie, waere doch erst alles wieder gut, ich kann dir nicht
beschreiben, wie es mir ums Herz ist."

"O, du musst nicht so baenglich sein, liebe Ilse, du hast so gute Eltern,
eine so liebe Schatz, sie werden dich mit geoeffneten Armen aufnehmen. Du
brauchst wirklich keine Angst zu haben, du musst nur standhaft sein, willst
du mir das versprechen?"

Ilse nickte, aber ihre dunklen Kinderaugen hatten noch einen sorgenvollen
Blick, und der tiefe Seufzer, der sich ihrer Brust entrang, bewies, dass
die troestenden Worte der Freundin sie nicht vollstaendig zu beruhigen
vermochten.

Andres und Orla traten jetzt heran, und Ilse verbarg ihr Gesicht in den
duftenden Blumen, welche ihr die Freunde zum Abschied geschenkt hatten,
damit Orlas forschende Augen nicht entdecken sollten, dass sie abermals von
Zweifeln gequaelt wurde, - vor ihr wollte sie sich stark zeigen.

Jetzt kam auch Nellies Mann mit Fahrkarte und Gepaeckschein, und nach
wenigen Minuten brauste der Schnellzug herein, der Ilse in die Heimat
entfuehren sollte. Noch ein letztes Mal hielten sie Nellies Arme innig
umschlossen, unter Schluchzen dankte Ilse der treuen Freundin fuer alle
Liebe und Freundschaft, die sie ihr erwiesen hatte. Dann kuesste sie Orla
und verabschiedete sich von den Herren. Nun stand sie am offenen
Coupefenster, und langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

"Gruesse mich deine lieben Eltern recht schoen und das suesse Baby!" rief
Nellie.

"Und schreibe bald," mahnte Orla.

"O ja, _darling_, du musst uns dein glueckliches Ankunft sofort auf eine
Postkarte mitteilen, vergiss nicht."

"Nein, nein, ich schreibe euch sofort," beteuerte Ilse.

Bis zum Ende des Perrons hatten die Freunde den Zug begleitet, dann
blieben sie stehen und sahen der scheidenden Ilse gruessend und winkend
nach, bis der letzte Zipfel von ihrem Schleier verschwunden war.

Auch sie schloss das Fenster erst, als nichts mehr von den Zurueckbleibenden
zu erblicken war. Dann nahm sie ihren Platz ein und schaute wehmuetig durch
die Scheiben.

                              [Illustration]

Bald war auch das letzte Haus der kleinen Stadt, die ihr waehrend ihres
Aufenthaltes lieb und vertraut geworden war, ihren Blicken entschwunden.
Ueber weite, oede Schneeflaechen schweifte ihr Auge, dann bemerkte sie eine
Gruppe von kahlen Baeumen, auf denen sich Scharen von Kraehen niedergelassen
hatten, die bei dem Geraeusch des herannahenden Zuges mit lautem Gekreisch
von den duerren Zweigen aufflatterten und davonflogen.

Ilse lehnte sich zurueck und schloss in Gedanken verloren die Augen. Als sie
die Heimat verliess, war es Herbst gewesen, welke Blaetter wirbelten durch
die Luft, Sturm und Regen waren ihre Reisebegleiter. So stuermisch wie
draussen sah es damals in ihrer Seele aus, leidenschaftliche Gefuehle wogten
in ihrer Brust, und ihre Gedanken wirbelten gleichfalls durcheinander, wie
die duerren Blaetter. Heute begriff sie nicht und konnte nicht fassen, wie
sie zu der abenteuerlichen Reise gekommen war. Sie verwuenschte ihr
unbaendiges Wesen, das ihr schon so viele Stunden getruebt, so manchen
heissen Kampf gekostet.

Hatte sie denn nicht alle Ursache, froh und zufrieden zu sein, war sie
nicht ein verzogenes Kind des Gluecks, vor tausenden bevorzugt? War man
nicht immer bemueht, sie zu erfreuen, und wie hatte sie bisher alle diese
Liebe vergolten? Um viele Erfahrungen reicher und durch Pruefungen
gereifter, kehrte sie jetzt heim. Das Leben hatte ihr in buntem Wechsel
gezeigt, dass Freud und Leid dicht zusammen wohnen, und dass der ein Tor
ist, der die schoenen Stunden, welche es bietet, nicht dankbar geniesst,
sondern in kindischem Uebermut zerstoert. Vernuenftig und fuegsam war sie wohl
in der Pension geworden, aber auf wie lange? Durch die stete
Nachgiebigkeit ihres Vaters und die blinde Liebe Leos war ihr alter Trotz
bald wieder hervorgebrochen. Aber jetzt kehrte sie fuer immer geheilt
zurueck, hatte sie doch das bestimmte Gefuehl, dass sie nicht wieder in ihren
alten Fehler zurueckfallen wuerde.

Orlas strahlendes Gesicht tauchte in diesem Augenblick vor ihr auf, und
sie beneidete die Freundin fast um ihr Glueck, welches sie sich gewiss nie
durch kleinliche Zweifel trueben wuerde. Der Mann, dem Orla ihr Herz
geschenkt hatte, durfte sicher sein, dass sie ihm kein unverdientes Leid
zufuegen werde. Aber konnte sie denn nicht dem guten Beispiel Orlas folgen
und ebenso werden, wie diese? Lag das nicht einzig und allein in ihrer
Hand?

Die Stunden vergingen in schnellem Fluge, so lebhaft beschaeftigten sie
ihre Gedanken, und je naeher sie der Heimat kam, desto ruhiger schlug ihr
Herz, desto leichter wurde ihr Sinn. Die Freude, ihre Eltern und das
Bruederchen nach so langer Trennung wiederzusehen, draengte alle andern
Gefuehle, welche ihr die Heimkehr erschwerten, zurueck. Sie wurde jetzt
ungeduldig, zaehlte die Stationen und hauchte an die Scheiben, welche mit
glitzernden Eisblumen bedeckt waren, um einen Blick in die Gegend werfen
zu koennen, die nun immer bekannter und heimatlicher wurde.

Lebhaft draengte sich ihr die Erinnerung auf an ihre Ankunft im Vaterhause,
als sie aus der Pension zurueckkehrte. Wessen Bild trug sie damals im
Herzen, rein und klar mit den schuechternen Empfindungen der ersten,
erwachenden Liebe? Und heute - welcher Unterschied! - dasselbe Bild stand
auch jetzt deutlich vor ihrer Seele, aber nicht mit den schoenen
strahlenden Augen, welche sich bei jenem ersten Abschied so tief in die
ihren gesenkt hatten, sondern mit schmerzlichem und vorwurfsvollem Blick.
Noch war es indessen nicht zu spaet. Sie bereute aufrichtig und war fest
entschlossen, alles wieder gut zu machen, was sie verschuldet hatte.
Lucies Bild, welches ihr oft mit drohendem und beaengstigendem Ausdruck
erschienen war, sah sie jetzt mit einem versoehnenden Blick an, und schien
ihr sagen zu wollen: nur Mut und Vertrauen! Du kannst doch noch gluecklich
werden, auch mir ist ja nach langer Pruefungszeit noch Verzeihung und
hoechstes Erdenglueck zu teil geworden.

Die letzte Station war vorueber, Ilses Herz bebte, denn noch wenige Minuten
und sie war daheim. Sie suchte ihr Reisegepaeck zusammen, legte die Blumen
darauf, strich sich das Haar zurecht und stand dann erwartungsvoll am
Fenster. Der schrille Pfiff der Lokomotive erschien ihr jetzt wie eine
Erloesung aus ihrer Ungeduld und Sehnsucht. Sie beugte sich weit zum
Fenster hinaus, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Da standen die
geliebten Eltern, und jetzt wurde auch sie von ihnen bemerkt. Die Freude,
welche bei ihrem Anblick auf deren Gesicht zu lesen war, ruehrte sie fast
zu Traenen, und als sie dann in ihren Armen lag, stieg ein heisses Gefuehl
der Dankbarkeit fuer solche Liebe, solches Glueck in ihr auf, so dass sie
Vater und Mutter immer wieder und wieder kuessen musste.

Die Eltern waren mit dem Schlitten gekommen; Herr Macket fuhr selbst, und
mit Windeseile trugen sie die geliebten Braunen dem heimatlichen Dorfe zu.
Jeder Weg und Steg, jeder Baum und Strauch kam ihr wie ein lieber
Bekannter vor. Als sie durch die Dorfstrasse fuhren und das Schellengelaeute
viele Neugierige ans Fenster lockte, lauter bekannte Gesichter, konnte sie
sich der beschaemenden Erinnerung nicht erwehren, wie sie an jenem
unglueckseligen Tage dieselbe Strasse in wilder Hast hinuntergeeilt und wie
eine Suenderin den ihr begegnenden Dorfleuten ausgewichen war. Zum Glueck
hatten die Eltern so viel zu fragen, dass diese peinlichen Gedanken bald
wieder verdraengt wurden.

Endlich hielt der Schlitten vor dem Tore. Wie eine Feder schnellte Ilse
empor und sprang hinaus. Erst begruesste sie die Dienstboten freundlich und
streichelte die Hunde, welche vor Freude laut bellend an ihr emporsprangen
und ihr die Haende leckten. Dann aber lief sie eilend ins Haus, denn es
draengte sie unwiderstehlich, das Bruederchen zu umarmen, welches am Fenster
stand und mit seinen beiden dicken Faeusten an die Scheiben trommelte. Wie
gross war es geworden, zu Ilses lebhaftem Erstaunen! Aber augenscheinlich
wollte es nichts mehr von ihr wissen, denn es versteckte sich hinter die
Waerterin, als sie es aufnehmen und herzen wollte.

"Ich bin ihm ganz fremd geworden," klagte sie nachher den Eltern; aber die
Mama troestete sie mit der Versicherung, dass der Kleine sich bald wieder an
sie gewoehnen wuerde.

"Nun komm, Kind," sagte Herr Macket zaertlich zu Ilse und nahm ihr Hut und
Pelzjaeckchen ab, "nun komm, du sollst vor allem Essen und trinken, denn
gewiss bist du ganz ausgehungert."

Den Arm um ihre Schulter legend, fuehrte er sie fort; man las in seinen
Augen die Seligkeit, dass er seinen Liebling wieder hatte. In dem
erleuchteten Esszimmer, das Ilse jetzt mit den Eltern betrat, brannte ein
lustiges Feuer in dem grossen Kachelofen, dessen hellen Schein der blanke
Fussboden wiederspiegelte.

Sie blickte sich um! Es war hier noch alles so, wie sie es verlassen
hatte. Dort vor dem Diwan lag das grosse Baerenfell, das ein Freund ihres
Vaters diesem einst geschenkt hatte. Daneben stand der Schaukelstuhl,
genau auf derselben Stelle wie sonst, nichts fehlte an dem gemuetlichen
Plaetzchen, und doch kam es ihr anders, veroedet und verlassen vor. Sie
musste an die Zeit denken, da sie so oft mit Leo hier gesessen hatte. Der
Schaukelstuhl war sein Lieblingssitz. Sie sah im Geiste, wie er sich leise
hin und her wiegte, was er mit Vorliebe zu tun pflegte. So deutlich stand
eben jetzt dieses Bild vor ihren Augen, dass sie seine Stimme zu hoeren und
die blauen Dampfringel von seiner Zigarette zu sehen glaubte.

Gewaltsam musste sie ihre Gedanken von diesem Platze losreissen, als sie
sich jetzt mit den Eltern zu Tische setzte, aber immer wieder kehrten
unwillkuerlich ihre Blicke verstohlen nach dem leeren Schaukelstuhl und dem
Diwan mit dem Baerenfell davor zurueck.

Weder der Papa, noch Frau Anne erwaehnten Leo, und Ilse, so sehr sie sich
in ihren Gedanken mit ihm beschaeftigte, konnte sich gleichfalls nicht
entschliessen, von ihm zu sprechen. Aber dennoch war es ihr schrecklich,
dass sein Name nicht genannt wurde, und sie hatte schon einigemal einen
Ansatz genommen, die Eltern um Verzeihung zu bitten und ihnen ihr
Schuldgefuehl einzugehen. Das war aber doch schwerer, als sie es sich
gedacht hatte; es wollte sich auch keine rechte Gelegenheit finden, davon
anzufangen, immer wieder kamen sie auf andere Dinge zu sprechen, immer
wieder wurde ihr Entschluss zurueckgedraengt. So vergingen die Stunden, und
als sie sich am Abend von den Eltern trennte, da war ihr Gestaendnis noch
nicht vom Herzen herunter. Darueber niedergeschlagen und verstimmt, suchte
sie ihr Zimmer auf.

Auch hier war alles unveraendert. Eine behagliche Waerme stroemte ihr
entgegen, auf dem Schreibtisch stand ihre Lampe mit dem Schirm darueber,
der ein Geschenk von Nellie war. Die gepressten Blumen und Blaetter
leuchteten hinter dem durchsichtigen Papier in fein gestimmten Farben und
reizenden Formen. Einen Augenblick betrachtete Ilse sinnend das kleine
Kunstwerk, dann schweifte ein Blick zu einem Bilde hin, das von dem hellen
Licht scharf beleuchtet wurde. Fast betroffen fuhr sie zurueck, als staende
nicht Leos Bild, sondern er selbst dort. Sie nahm es in beide Haende, und
die Traenen schossen ihr in die Augen. Keck und uebermuetig schaute das
schoene maennliche Gesicht sie an, dessen kraeftig vorspringende Nase und das
feste Kinn auf einen ernsten, edlen Charakter wiesen.

Lange stand Ilse in den Anblick des Bildes versunken; es war ihr, als
fuehle sie nun erst die Tiefe ihrer Liebe zu Leo, heisse Sehnsucht ergriff
sie, ihm zu sagen, wie sie jetzt dachte und fuehlte. Die Trennung von ihm,
die sie so lange ertragen hatte, wurde ihr mit einem Male unertraeglich. Ob
er wohl zu ihr eilen wuerde, wenn er ahnte, dass sie zurueckgekehrt sei! Sie
nahm sich fest vor, am andern Morgen mit den Eltern zu sprechen und ihm
dann zu schreiben und ihn um Verzeihung zu bitten. Bebend dachte sie, ob
er dann wohl zu ihr kommen wuerde?

Ihre Aufregung liess sie nicht zur Ruhe kommen, und sie dachte deshalb auch
nicht daran zu Bett zu gehen. Gedankenvoll liess sie ihre Blicke durch das
Zimmer schweifen. Wie viel Freude hatte ihr die reizende Einrichtung
bereitet, mit der die lieben Eltern sie ueberraschten, als sie aus der
Pension zurueckkehrte. Wie gluecklich hatte sie das traute Heiligtum
gemacht, welches sie stets bestrebt war, immer noch mehr auszuschmuecken.
Den Blumentisch am Fenster, ein wahres Kunstwerk aus Schmiedeisen, hatte
ihr Leo geschenkt. Mit herrlichen Blumen und Pflanzen gefuellt, stand er
eines Morgens in ihrem Zimmer.

Auch der Buecherschrank war ein Geschenk von ihm. Die goldglaenzenden
Buecherruecken erinnerten sie lebhaft an vergangene Zeiten. Wie manches Werk
ihrer Lieblingsdichter hatten sie zusammen gelesen, im Sommer unter der
schattigen Linde, im Winter in Frau Annes molligem Boudoir. Sie hoerte im
Geiste den Wohlklang seines Organs, sie sah sein lebhaftes Mienenspiel
beim Vorlesen. Und wenn sie ihn mit einer Frage unterbrach, wie klar und
scharf war seine Antwort.

Die schoenen Zeiten, sie sind vorbei und tauchen nun in Ilses Erinnerung
auf, als gehoerten sie einer fernen, fernen Vergangenheit an. Hier auf
diesem Platze, an dem zierlichen Schreibtisch, welcher nach Maedchenart mit
allen moeglichen Nippsachen ueberfuellt war, die zum Teil noch den kindlichen
Geschmack des Backfischalters verrieten, hatte sie manchen Brief an Leo
geschrieben, und in der Schublade rechts - den Schluessel dazu trug sie
stets bei sich - lagen seine Briefe.

Mechanisch griff sie jetzt nach dem Schluessel, zoegernd steckte sie ihn ins
Schloss und zog den Kasten auf. Da lagen die Briefe, wohlgeordnet, wie sie
dieselben erhalten hatte. Sie nahm den obersten heraus, eine trockene Rose
fiel ihr entgegen, - es war sein letzter Brief gewesen. Sie entfaltete
ihn, und der Anblick der geliebten, so lange entbehrten Handschrift
stimmte sie unendlich weich. Sie begann zu lesen, Seite fuer Seite, und als
sie damit fertig war, nahm sie einen zweiten Brief heraus, dann wieder
einen, immer mehr, immer tiefer versenkte sie sich in die teuren
Schriftzuege.

Einmal musste sie laut lachen ueber eine witzige Schilderung, und dann
wieder erglaenzte ein seliger Ausdruck in ihren Augen. Die zaertlichen
Liebesworte, welche sie jetzt las, war sie derselben auch wert? Hatte sie
nicht um einer Nichtigkeit willen an der Liebe eines edlen, treuen Mannes
gezweifelt und das Vertrauen zu ihm verloren? O, es war entsetzlich, sich
nun mit solchen Vorwuerfen quaelen zu muessen, die ihr keine Ruhe liessen.
Warum hatte sie ihr Unrecht nicht gleich empfunden, warum ihm erst noch
solchen Schmerz bereiten muessen? Geschah ihr nicht recht, wenn er sie
jetzt nicht mehr liebte, wenn er ihr nicht verzieh?

Erregt sprang Ilse auf. Die naechtliche Stille wurde ihr auf einmal
unheimlich, so allein, so verlassen zu sein mit dem mahnenden Gewissen,
das ihr ihre Schuld immer wieder unbarmherzig vorhielt, war unertraeglich.
Wenn sie Leo jetzt schriebe? Sie ergriff diese Idee wie eine Rettung und
gab sich sofort daran. Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und
die Feder zitterte in ihrer Hand. Schliesslich zerriss sie den angefangenen
Brief.

Wenn nur erst die Nacht vorbei waere! Was sollte sie nur beginnen bis zum
Morgen? Jetzt war es erst wenig ueber zwoelf Uhr, sie musste also noch lange
warten, bis der heiss ersehnte Tag erschien. Sie nahm ein Buch und fing an
zu lesen, aber die Buchstaben flimmerten ihr vor den Augen, und sie hatte
im naechsten Augenblick das Gelesene schon wieder vergessen. Gab es denn
kein Mittel, ihren unruhigen Geist zu beschwichtigen, ihren Gedankenlauf
zu hemmen? Nochmals nahm sie zur Feder ihre Zuflucht und schrieb an
Nellie, der sie alles erzaehlte, was sie in diesen stillen Stunden dachte
und empfand. Das erleichterte ihr stuermisch pochendes Herz, und als sie
mit Schreiben aufhoerte, war sie ruhig geworden, eine wohltuende Muedigkeit
Ueberkam sie endlich. Sie begab sich zur Ruhe und bald umgaukelten sie
rosige Traeume.

Erquickt wachte sie am andern Morgen auf, und die Ungeduld liess sie keine
Minute laenger im Bett. Draussen lag noch graue Daemmerung, als Ilse, nachdem
sie sich angekleidet hatte, die Gardinen zurueckzog und in den beschneiten
Garten hinunterschaute, der sich bis zu dem unmittelbar daran stossenden
Walde hinzog und nur durch eine eiserne Pforte von diesem getrennt war. So
still und friedlich lag die Natur in ihrem Winterschlaf da, so verzaubert
und schweigsam, nichts erinnerte mehr an die Zeit, als sie ueppiges Leben
war, die gruenen Wipfel geheimnisvoll rauschten, Blumen und Blueten ihre
Duefte aushauchten und melodische Vogelstimmen diese Herrlichkeit jubelnd
besangen. Da war es schoen im Walde gewesen, und ein junges, glueckliches
Menschenpaar war oft mit Buechern und Haengematte nach dem verborgensten,
lauschigsten Fleckchen hinausgewandert, wo sich unter ihren Fuessen ein
samtweicher Moosteppich ausbreitete und die leise schaukelnden Zweige der
alten Buchen ihnen Kuehlung zufaechelten. Dort befestigte der junge Mann die
Haengematte, und wenn seine Begleiterin es sich darin bequem gemacht hatte,
dann legte er sich in das schwellende Moos, und den beiden verflogen unter
Plaudern und Lesen die Stunden wie Minuten. Niemand stoerte sie in der
Einsamkeit, die breiten Aeste ueber ihnen spendeten herrlichen Schatten, und
das Auge erlabte sich an dem koestlichen Gruen.

Versunken in diese Erinnerung starrte Ilse hinaus, bis der Anblick des
hohen Schnees, der jetzt auf den Zweigen lastete, sie in die Wirklichkeit
zurueckfuehrte. Es kam ihr vor, als waere es eine andre gewesen, welche dort
mit Leo so gluecklich war, als haette sie selbst dies nie erlebt. Ob solche
Erinnerungen wohl auch an seinem Geist vorueberzogen, oder ob er die
Vergangenheit aus seinem Gedaechtnis verbannt hatte? Jeder Platz, jeder
Baum hier mahnte sie an die frohen Stunden, die sie mit ihm verlebt hatte.
Bei dem Gedanken, dass eine solche Zeit vielleicht niemals wiederkaeme, dass
sie fortan nur von diesen Erinnerungen zehren muesste, fuehlte sie ihr Blut
in den Adern erstarren.

Sie trat vom Fenster zurueck und ging rastlos im Zimmer auf und ab. Diese
Angst, diese Zweifel konnte sie nicht laenger ertragen und sie beschloss
deshalb, heute morgen sofort mit den Eltern zu sprechen. War das nicht
ihre Pflicht und wuerden sie, welche ihr nur Liebe und Guete
entgegenbrachten, ihr nicht ratend und helfend zur Seite stehen?

Klopfenden Herzens verliess sie ihr Zimmer. Als sie an der Kinderstube
vorbeikam, hoerte sie das Bruederchen laut jauchzen. Der Kleine lag noch im
Bettchen, als sie hereinkam, und strampelte mit den dicken Beinchen in der
Luft. Sie kuesste und liebkoste das Kind; wie lange hatte sie mit dem lieben
Schelm nicht mehr gespielt! Jetzt verstand er es schon, wenn sie mit ihm
scherzte, und sein herzliches Lachen versetzte sie in Entzuecken. Als Frau
Anne hereintrat, war sie nicht wenig erstaunt, Ilse schon vollstaendig
angekleidet zu finden.

"Du bist schon auf, Ilse?" fragte sie verwundert, mit einem herzlichen
Kuss. "Eben schlich ich auf den Fussspitzen nach deinem Schlafzimmer, um zu
horchen, und da alles maeuschenstill war, dachte ich, du laegst noch im
tiefsten Schlummer und wollte dich nicht stoeren."

Ilse umarmte sie stuermisch.

"Wie reizend und drollig ist das Kind geworden," rief sie begeistert und
einer ploetzlichen Eingebung folgend fuegte sie hinzu: "Ach, liebste Mama,
wie gluecklich macht es mich, dass ich wieder bei euch bin!"

                              [Illustration]

Frau Anne strich ihr zaertlich ueber das Haar, und in ihren Augen funkelte
es froh und siegesgewiss. Sie zog Ilses Arm durch den ihrigen.

"Nun komm! Papa wird sich freuen, dass du schon auf bist, er wartet mit
grosser Ungeduld auf dich."

Bald sassen die drei am gemuetlichen Kaffeetisch. Herr Macket verwandte kein
Auge von seinem Liebling, der nun wieder leibhaftig vor ihm sass, den er so
sehr entbehrt und oft herbeigesehnt hatte. Ihn erfuellte ganz der eine
Gedanke: sie ist wieder da! Deshalb machte er sich auch keine Sorgen, was
nun weiter werden und wie das Verhaeltnis zu Leo sich gestalten wuerde. In
seiner unbefangenen Freude merkte er denn auch nicht, dass sich in Ilses
ganzem Wesen eine gewisse Aufgeregtheit zeigte, und dass ihre Augen einen
aengstlich fragenden Ausdruck hatten.

Frau Anne aber beobachtete desto schaerfer, ihr entging von alledem nichts,
und sie bemerkte auch, dass ihr Toechterchen jetzt einen harten Kampf in
seinem Innern zu bestehen hatte. Sie war deshalb so zuvorkommend und
liebevoll wie nur moeglich, um ihr den so schweren Anfang zu erleichtern.

Ilse ass und trank mit grosser Hast zur lebhaften Freude des arglosen
Vaters, dem ihr anscheinend so gesunder Appetit sehr gefiel. Eigenhaendig
belegte er die Broetchen, und laechelnd sah ihm Frau Anne zu, - sie wusste
genau, warum das Kind so eifrig dem Essen zusprach.

Schon einige Male hatte Ilse die Lippen zum Reden geoeffnet, und doch
konnte sie sich immer noch nicht dazu entschliessen. Krampfhaft drehte sie
kleine Brotkuegelchen zwischen ihren Fingern, - mein Gott, war es denn so
schwer, das auszusprechen, was ihr doch wie Feuer auf der Seele brannte?
Herr Macket war inzwischen aufgestanden und hatte sich in aller
Gemuetlichkeit eine Zigarre angesteckt, nun trat er zu ihr und legte
zaertlich den Arm um ihren Nacken.

"Kind," sagte er so recht aus tiefstem Herzensgrunde froh, "es ist gut,
dass du wieder da bist." Und als sie aufblickend in die teuren Vateraugen
sah, da sprang sie empor und fiel ihm um den Hals.

"Liebe, einzige Eltern," dabei reichte sie Frau Anne die Hand, "verzeiht
mir, seid nicht mehr boese, ich will ja alles wieder gut machen. Ich habe
kindisch gehandelt, als ich davonlief, ich weiss es wohl, er hatte ja
recht, ich bin im Unrecht, ach wuesste ich doch, ob er mich noch liebt, ob
er mir verzeiht!"

Sie hatte in fliegender Hast gesprochen, nun hielt sie mit einem riefen
Atemzug inne, und es war, als waere eine Zentnerlast von ihrem Herzen
genommen. Herr Macket war bei den Selbstanklagen seines Lieblings ganz
aengstlich geworden; er hatte sie einigemale unterbrechen wollen mit dem
Ausruf: "Aber Kind, liebes Kind, wir sind dir doch nicht boese, sage doch
so etwas nicht." Fast erschrocken blickte er sie an. Frau Anne aber zog
sie geruehrt an ihre Brust und streichelte ihre heissen Wangen. Traenenfeucht
glaenzten ihre Augen, und mit einem triumphierenden Ausdruck sah sie ihren
Mann an, denn dieser hatte es immer bestritten, wenn sie behauptete, dass
Ilse eines Tages zum Bewusstsein kommen und zu ihrem Braeutigam zurueckkehren
wuerde.

"Nein, das wird sie nicht tun, ich kenne das Maedchen," hatte er dann
geantwortet, "sie ist viel zu stolz dazu."

Frau Anne schwieg dann laechelnd, sie wusste ja viel besser, dass die Liebe
ueber den Stolz siegen wuerde. Und sie hatte recht gehabt, sie hatte die
Seele der jungen, trotzigen Braut besser durchschaut, als der in blinder
Liebe befangene Vater. Jetzt, als sie Ilse fest in ihren Armen hielt und
das heftig pochende Herz fuehlte, war sie sicher, dass sie diesmal fuer immer
geheilt und bekehrt zurueckgekommen war, dass der Kampf, den Ilse in den
letzten Monaten ueberstanden, in ihr die ernste Liebe des Weibes gereift
hatte.

Nun war das Eis gebrochen, mit einem Male wurde es Ilse so leicht, von
Leo, von ihrer Flucht zu reden, traf sie doch nicht der geringste Tadel
von seiten der Eltern; im Gegenteil, wenn sie sich ausschalt und Vorwuerfe
machte, dann beruhigte die Mama, troestete mit den zaertlichsten Worten der
Papa. Alles, alles beichtete sie, nur den Streit mit Leo liess sie
unberuehrt und beteuerte nur immer wieder, dass sie im Unrecht sei, und dass
sie ganz wie ein unvernuenftiges Kind gehandelt habe.

Frau Anne hoerte ihr voller Befriedigung zu, und in ihrem Innern dankte sie
Nellie inbruenstig, indem sie deren gutem Einfluss den groessten Teil dieser
Umwandlung zuschrieb. Noch an demselben Tage gab sie diesen Gefuehlen in
einem langen Dankesbriefe an die junge Frau Ausdruck.

Herr Mackets Groll gegen Leo, den er bis jetzt nicht hatte ueberwinden
koennen, schwand immer mehr, und er musste nun doch einsehen, dass nur die
Widerspenstigkeit seines Toechterchens an diesem Zerwuerfnis schuld war.

"Und nun will ich gleich an Leo schreiben," sagte Ilse, sich erhebend,
"und ihn bitten, dass er morgen kommt, dass wir ein vergnuegtes
Weihnachtsfest zusammen feiern koennen."

Aber schon nach kurzer Zeit kehrte sie unverrichteter Sache zurueck.

"Ich kann nicht schreiben, Mama," klagte sie, "es ist mir nicht moeglich.
Was ich ihm zu sagen habe, das muss muendlich geschehen. Was soll ich denn
nur tun, ich weiss es ja nicht; ach Gott, so rate mir doch, liebste Mama."

Frau Anne schwieg und tat, als ueberhoerte sie die Frage; das Kind sollte
von selbst den richtigen Weg einschlagen.

Sinnend und etwas ungeduldig blickte Ilse vor sich hin.

"Mama," begann sie wieder, "wissen denn Leos Eltern, was zwischen uns
vorgefallen ist?" Sie seufzte bei dieser Frage, denn der Gedanke, dass sie
auch ihnen eine Aufklaerung geben muesste, war ihr hoechst peinlich.

"Beruhige dich, Ilse," troestete sie Frau Anne, "Gontraus wissen nichts.
Leo hat ihnen keinesfalls etwas verraten, und ich habe - oft allerdings
durch recht diplomatische Kuenste - mich bemueht, alles zu verheimlichen. Da
sie ganz ahnungslos sind, so werden sie auch nichts bemerkt haben. Wegen
deiner angeblichen Schreibfaulheit musst du dich aber gruendlich bei ihnen
entschuldigen, denn sie klagten oefters darueber, dass sie noch gar keinen
Brief von dir haetten. Ich habe dein Schweigen, so gut es ging,
beschoenigt."

"Du liebe, einzig gute Mama!" unterbrach sie hier Ilse, der bei diesen
Worten ein Stein vom Herzen fiel, indem sie Frau Anne mit beiden Armen
umschlang, "ich verdiene deine Guete ja gar nicht. Warum muss denn auch
gerade ich einen so unglueckseligen Charakter besitzen? Wie schwer habe ich
schon darunter leiden muessen, wie viele bittere Stunden habe ich andern
dadurch bereitet! Siehst du ich bin wuetend auf mich, ich weiss genau, was
fuer ein stoeckisches Wesen ich bin, und darum wird mich Leo auch nicht mehr
lieb haben, ganz gewiss nicht."

Bei diesem leidenschaftlichen Ausbruch stuerzten ihr die hellen Traenen aus
den Augen.

"Ilse," sagte Frau Anne sanft aber bestimmt, "ich dachte, du waerest ein
vernuenftiges Kind geworden, und nun kommt doch wieder das tolle Koepfchen
zum Vorschein."

"Ach, Mama, kein Mensch weiss, welche Vorwuerfe mich gequaelt haben, und wie
ich bereue, was ich getan. Leo glaubt das gewiss nicht, und wenn ich es ihm
auch sage, wird er sich nicht ueberzeugen lassen."

"Ilse, Ilse," erwiderte Frau Anne kopfschuettelnd, "so darfst du nicht
sprechen. Ich weiss, wie tief Leo unter den jetzigen Verhaeltnissen leidet.
Wenn er dich nicht wahrhaft liebte, wuerde er gleichgueltiger sein."

"Hat er mit dir ueber mich gesprochen, hat er dir alles erzaehlt?" fragte
Ilse dringlich. "Hat er sich ueber mich beklagt?"

"Er hat mir nicht mehr gesagt, als unumgaenglich notwendig war, und nicht
das kleinste Wort des Tadels oder der Klage ist ueber seine Lippen
gekommen. Ilse, kennst du ihn denn so wenig, dass du so etwas von ihm zu
glauben vermagst?"

Das junge Maedchen senkte beschaemt das Haupt. Nein, sie hatte eine bessere
Meinung von ihm und wusste selbst nicht, warum sie so sprach.

"Ich habe den guten Gontraus auf ihren letzten Brief noch nicht
geantwortet," fuhr Frau Macket fort, "sie fragten darin an, ob du zu
Weihnachten bestimmt zurueckkaemst, dann wuerden wir doch das Fest natuerlich
zusammen feiern. Ich war etwas in Verlegenheit, was ich darauf erwidern
sollte, und habe deshalb bis jetzt geschwiegen, heute muss ich ihnen aber
schreiben, Ilse, - was soll ich ihnen fuer eine Antwort geben?"

"Mama," sagte Ilse ploetzlich, nachdem sie eine Weile gedankenvoll vor sich
hingeblickt hatte, "ich habe eine Idee; ja, so geht es - so muss es gehen.
Ich schreibe an Leos Eltern, dass ich morgen frueh mit euch kaeme, aber sie
sollten ihm davon nichts sagen, weil ich ihn ueberraschen wollte."

Gott sei Dank, nun war ein Ausweg gefunden! Ihre Augen leuchteten vor
Freude ueber den gluecklichen Einfall, und sie war Feuer und Flamme.

"Herzensmama, so wird es gemacht, nicht wahr?" schmeichelte sie, "und dann
fahren wir morgen gleich nach Tisch alle hierher zurueck, und es wird hier
beschert. Ich will sofort schreiben."

Dem Papa brauchte sie ihren Plan gar nicht erst mitzuteilen, er war doch
mit allem einverstanden, was sein Liebling tat. Der Brief wurde denn auch
sofort geschrieben und unverzueglich nach dem Bahnhof gebracht, damit er
noch heute an seine Adresse gelangte.

Ilse war wie umgewandelt, die Ungeduld jagte sie rastlos von einem Ort zum
andern. Es gab ja auch noch so viel zu tun fuer den folgenden Tag, und mit
einem wahren Feuereifer stuerzte sie sich in die Arbeit.

Im grossen Gartensaale stand die maechtige Tanne, welche sie schmuecken
sollte. Die breiten Aeste waren schon dicht mit Watte belegt, auch Gold-
und Silberfaeden waren darueber gezogen. Herr Macket, der keinen Augenblick
von Ilses Seite wich, war dabei, die Wachslichter zu befestigen. Wie
heller Freudenschein lag es ueber seinem Gesicht, als er sie so froh und
geschaeftig sah, und verstohlen blickte er sie immer an. Das war wieder
seine alte Ilse, sein lieber, ausgelassener Wildfang, welchem Uebermut und
Frohsinn aus den Augen blitzten.

Ilse hatte nicht genug an dem duftenden Gruen des Tannenbaumes, den ganzen
Saal wollte sie mit Tannenzweigen und Blattpflanzen geschmueckt haben; die
letzteren musste ihr der Gaertner aus dem Gewaechshaus bringen. Die Ecken
sollten Lauben bilden, waehrend an den Waenden Guirlanden aus Tannenzweigen
befestigt wurden.

Als sie endlich fertig war, betrachtete sie ihr Werk mit pruefenden Augen
und ordnete noch hier und da etwas an; es war ihr immer noch nicht schoen
genug, schmueckte sie doch den Raum so festlich fuer ihn! Das beseligte sie,
und ihr Herz klopfte stuermisch bei dem Gedanken, dass sie morgen mit ihm an
dieser Stelle stehen wuerde, und dass dann alle Zweifel und Qualen ein Ende
haben sollten. Wie sehnte sie sich nach voller, reiner Harmonie, wie
lange, lange hatte sie diese entbehren muessen!

Der weihnachtliche Schmuck des Saales war vollendet und das ganze Haus
erfuellt von dem feinen, harzigen Geruch der Tannennadeln, hatte doch Herr
Macket in seiner Herzensfreude noch mehrere Baeume bringen und in dem
Treppenhaus aufstellen lassen. "Es soll recht weihnachtlich sein," sagte
er, und war dabei so heiterer Laune, wie ihn seine Frau lange nicht
gesehen hatte.

Ilse schlief diese Nacht wenig, sie war zu aufgeregt dazu. Puenktlich um
acht Uhr stand am andern Morgen der Schlitten vor der Tuere, und ungeduldig
stampften die Braunen den Boden. Frau Anne erklaerte, zu Hause bleiben zu
wollen, da es, wie sie sagte, noch viel zu tun und anzuordnen gab. Ilse
haette freilich sehr gern gehabt, wenn sie mitgefahren waere, denn an dem
ruhigen, sicheren Wesen der Mama wuerde ihr erregtes Herz einen festen
Rueckhalt gehabt haben. Wer sollte ihr Mut machen, wenn sie wieder zaghaft
wuerde! Aber - war denn das noetig, musste sie zu dem Schritt erst ermutigt
werden, den sie doch mit freudigem Herzen tat? Nein, nein!

Energisch draengte sie jeden solchen Gedanken zurueck, und mit klaren,
strahlenden Augen nickte sie Frau Anne zu, welche in der Pforte stehen
geblieben war, um dem Schlitten nachzusehen. Wie lieb und gut hatte sie
Ilse zum Abschied in die Arme geschlossen! Die zaertlichen Worte: "Nun sei
mein verstaendiges Maedchen und zage nicht," welche sie ihr dabei
zufluesterte, klangen ihr noch immer in den Ohren nach. Frisch und rosig
sass sie an der Seite ihres Vaters, der alle Augenblicke fragte, ob sie es
auch nicht froere, und immer wieder die Decke, welche er ueber sie gebreitet
hatte, fester und hoeher hinaufzog.

Sie wehrte ihm lachend. "Aber Papachen, mir ist ja so warm, mich friert
gar nicht; bald kann ich mich nicht mehr ruehren, so fest hast du mich
eingewickelt."

Unter Herrn Mackets sicherer Leitung flog das leichte Gefaehrt mit
Windeseile ueber die glatte Bahn, dass der Schnee links und rechts zur Seite
stob. Dazu klang das lustige Schellengelaeute so hell und silberrein, dass
es sich wie liebliche Musik anhoerte.

Ilse lehnte sich weit zurueck und schloss die Augen. Klingling, klingling,
schallte es immerfort in ihren Ohren, und nun schien der helle
Glockenklang auf einmal eine dunklere Faerbung anzunehmen, langsam und
gemessen in gleichmaessigen Schwingungen zu ertoenen. Was war denn das? Klang
nicht so die Glocke von dem heimatlichen Kirchturm? Sie sah ihn im Geiste
vor sich, das winterliche Kleid war abgestreift und statt dessen umwob ihn
lichtes Fruehlingsgruen. In den Wipfeln der alten Linden, welche vor der
Kirche standen, sangen die Voegel, und Blumenduft stroemte durch die
geoeffneten Fenster hinein. Drinnen toente die Orgel und begleitete die
hellen Stimmen der Dorfkinder. Alles war so feierlich, und da sah sie sich
selbst im langen weissen Gewande an der Seite ihres Leo zur Tuere
hereinkommen. Um den festlich geschmueckten Altar standen die Eltern,
Verwandten und Freunde, und der alte Pfarrer harrte ihrer. -

Erschreckt fuhr sie auf. Welche Bilder malte ihre Phantasie da vor ihren
Augen aus? Und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder zurueck zu dem
rosigen Zukunftsbilde.

"Bist wohl muede, Kind," fragte Herr Macket, weil sie so lang stumm und mit
geschlossenen Augen neben ihm gesessen hatte. "Ja, die Fahrt ist lang und
angreifend, sie wird dir doch nicht zu viel werden, Maedel?"

Sorgsam pruefend schaute er ihr ins Gesicht.

"O nein, Papachen, nicht im geringsten, ich bin gar nicht muede, sondern
ueberlegte mir nur etwas und schloss deshalb die Augen." Sie mochte ihm
nicht eingestehen, dass sie wachend getraeumt hatte.

Nachdem sie in einem Dorfe ausgespannt und eine Weile gerastet hatten,
ging die Fahrt weiter.

"In einer guten Stunde sind wir da, die Pferde sind flott gelaufen," sagte
Herr Macket und blickte mit Stolz auf seine beiden Braunen.

Ilse klopfte das Herz hoerbar, und ihre von der kalten Winterluft geroeteten
Wangen faerbten sich noch tiefer. Und mochte ihr auch vor dem Augenblick
des Wiedersehens bangen, so erfasste sie dennoch eine unsagbare Ungeduld
bei dem Gedanken, dass sie nur noch eine kurze Spanne Zeit, nur noch
Minuten von ihm trennten.

Die weiten Schneeflaechen kamen ihr endlos vor, und sie haette sich Fluegel
wuenschen moegen, um schneller in seine Arme zu eilen. Waehrend sie bis jetzt
ihren Traeumen nachgehangen hatte, wurde sie auf einmal lebhaft und
gespraechig, scherzte und neckte sich mit ihrem Vater, dass oft sein
herzliches Lachen durch die winterliche Ruhe schallte, und seine blauen
Augen unter den buschigen Brauen vor Freude und Lust strahlten.

So verflog ihr die Zeit rascher, und sie konnte die innere Unruhe besser
bemeistern. Endlich sah sie ganz in der Ferne, noch undeutlich und kaum zu
erkennen, die Kirchturmspitze von L. Wie ein freudiger Schreck durchfuhr
es ihre Glieder.

"Papa, sieh nur dort, gleich sind wir da!" rief sie, indem sie ihn am Arm
fasste und mit dem Finger auf den fernen Kirchturm zeigte.

Er kniff die Augen zusammen und blickte nach der angegebenen Richtung,
dann legte er die Hand ueber die Augen und beugte den Kopf nach vorn.

"Ich sehe noch nichts," sagte er schliesslich.

"Aber Papa, dort, siehst du denn nicht?" Sie war aufgestanden und starrte
entzueckt in die Ferne, als haette sich ein Wunder vor ihren Blicken
aufgetan.

Er schuettelte den Kopf.

"Ich sehe nichts, Ilse, du hast eben wahre Falkenaugen. Krischan," wandte
er sich an den hinter ihnen sitzenden Kutscher, "siehst du den Turm von L.
schon?"

"Nee, Herr, ich sehe nischt, das Freilein sieht wohl mit die Ogen der
Liebe."

Ueber diesen Witz grinste er mit dem ganzen breiten Gesicht, waehrend die
beiden im Schlitten in ein helles Gelaechter ausbrachen.

Weiter und weiter sauste der Schlitten, und die eben noch in der Ferne
verschwommenen Gegenstaende tauchten immer klarer auf. Jetzt war auch der
Kirchturm deutlich sichtbar, und die beschneiten Daecher zeichneten sich
scharf vom blauen Himmel ab. Bald darauf fuhren sie in das Dorf ein, aber
bei einem der ersten Haeuser machten sie Halt. Eine dicke goldene Traube,
an einem weit vorragenden eisernen Arm befestigt, bezeichnete dasselbe als
Gasthaus. Ilse hatte den Schleier dicht ueber das Gesicht gezogen, und Herr
Macket musste den breiten Pelzkragen hinaufschlagen, damit sie von den
neugierigen Blicken, welche dem Schlitten folgten, nicht erkannt wuerden.
Hier sollte ausgespannt werden, so war es mit den Schwiegereltern
verabredet worden. Ilse hatte ihnen geschrieben, sie moechten Leo im Hause
festhalten.

Die Aufforderung ihres Vaters, sich erst etwas zu erwaermen und eine
Kleinigkeit zu geniessen, lehnte Ilse entschieden ab, denn so nahe dem
ersehnten Ziel erschien es ihr unmoeglich, noch irgendwelche Verzoegerung zu
ertragen. So machten sich denn die beiden auf den Weg nach dem Gute,
welches abseits vom Dorfe lag und dicht an einen Tannenwald grenzte.

"Wie ein Paar Diebe kommen wir angeschlichen," sagte Herr Macket. "Darf
ich denn den verflixten Kragen noch immer nicht herunterschlagen? Mir wird
naemlich verteufelt heiss in diesem Futteral."

"Ach bitte, bitte, noch nicht," bat Ilse, die unter ihrem Schleier
fortwaehrend aengstliche Blicke nach rechts und links warf, "siehst du,
Herzensvaeterchen, es koennte uns doch jemand begegnen, und wir sind ja
gleich da."

Herr Macket als ein gehorsamer Vater fuegte sich und stoehnte nur einige
Male verstohlen. Sie bogen jetzt in einen kleinen Seitenweg ein, der
zwischen zwei Hecken durchfuehrte und nicht gebahnt war, so dass sie bis
ueber die Knoechel in den weichen Schnee einsanken.

"Hier koennen wir nicht weiter, Ilse, das geht nicht. Du bekommst ja ganz
nasse Fuesse und wirst dich auf den Tod erkaelten. Komm, wir wollen
umkehren." Damit blieb er stehen.

Aber sein geliebter Wildfang schlug ihm ein Schnippchen und huepfte leicht
und flink wie ein Reh davon. Sie sah ja am Ausgang des Heckenweges ein
grosses, herrschaftliches Haus, das Gontrau'sche, und sollte nun wieder
umkehren? Das war zu viel verlangt. Wohl oder uebel musste Herr Macket ihr
folgen, und wenn er auch etwas unwillig in den Bart brummte, so brachte er
es doch nicht ueber sich, auf seinen Liebling zu schelten. Mit seinen
grossen Stiefeln trat er in Ilses zierliche Fussstapfen; diese war ihm
laengst vorausgeeilt und wartete schon auf ihn an der eisernen Tuer, welche
den parkartigen Garten hinter dem Hause abschloss.

"Bist mir doch nicht boese, Papachen?" fragte sie ihn mit schelmischer
Zaertlichkeit, und da konnte er natuerlich nicht widerstehen.

Der fuersorgliche Schwiegervater hatte Bahn fegen lassen, und auf besserem
Wege als vorher schritten sie nun den Garten entlang und schlichen zu
einer Hintertuere in das Haus hinein. Ilse hatte Herrn Macket untergefasst
und eiligst mit fortgezogen. Dabei hatte sie solch fieberhafte Angst
ausgestanden, sie koennte von Leo gesehen werden, dass sie jetzt, nachdem
diese Gefahr vorueber war, erst einen Augenblick stehen bleiben musste, um
Atem zu schoepfen.

Auf dem Hausflur kam ihnen das Gontrau'sche Ehepaar mit offenen Armen
entgegen. Ilse war tief beschaemt ueber all die Liebe und Herzlichkeit, mit
welcher die Schwiegereltern sie empfingen; dieselben waren vollstaendig
unbefangen und schienen nicht im geringsten zu ahnen, welcher Zwiespalt
zwischen dem Brautpaar herrschte. Sie fuehrten ihren Besuch in ein
behaglich erwaermtes Zimmer, und waehrend Herr Gontrau Ilses Vater Pelz und
Hut abnahm, half seine Frau dem Schwiegertoechterchen beim Ablegen und
blickte mit Stolz in das junge frische Gesicht mit den lebhaften braunen
Augen. Zaertlich strich sie ihr die wirren Haare aus der Stirn und
streichelte ihr die Wangen. Auch Herr Gontrau betrachtete sich die Braut
seines Sohnes mit grossem Wohlgefallen.

"Ilse, ich glaube, du bist noch gewachsen," sagte er, indem er sie an sich
zog, "und wie wohl du aussiehst, du bluehst ja wie eine Rose. Na, der Leo
wird sich freuen, er hat keine Ahnung von der Ueberraschung, die ihm
bevorsteht."

"Ach ja," meinte Frau Gontrau, "ich freue mich auch, der arme Junge hat in
der letzten Zeit so viel zu tun gehabt, dass er ganz ernst und blass
geworden ist."

Ilse erroetete und wandte sich ab.

"Wo ist Leo?" fragte sie leise. "Ich moechte ihn doch gern gleich sehen."

"Er ist oben auf seinem Zimmer, liebes Kind," sagte Frau Gontrau. "Nun, du
weisst ja Bescheid; ich war eben noch bei ihm, um zu verhueten, dass er sich
entfernte."

"Ich gehe zu ihm," sagte Ilse und verliess das Zimmer.

Als sie die Treppe hinaufgeeilt war und nun vor seiner Tuere stand, hielt
sie inne und legte die Hand beschwichtigend auf ihr Herz, das ihr zum
Zerspringen klopfte. Nun war der Augenblick gekommen, ihm die Hand zur
Versoehnung zu reichen. Ein Gefuehl der Demuetigung wollte noch einmal in ihr
aufwallen, aber sie unterdrueckte es, denn sie hatte sich vorgenommen, oft
und fest vorgenommen, ihm mit keinem andern Gedanken, als dem der
aufrichtigsten Reue entgegenzutreten.

Und als sie immer noch zoegerte, erschien ihr Lucies Bild vor den Augen und
blickte sie flehend an. Sie legte die Hand auf die Klinke, drueckte sie
sanft nieder und befand sich nun in einem kleinen Vorraum, welcher nur
durch eine Portiere von Leos Zimmer getrennt war. Auf den Fussspitzen
schlich Ilse naeher, schob den Vorhang auseinander und konnte nun das ganze
Zimmer uebersehen.

                              [Illustration]

Dort sass er an seinem Schreibtisch, tief ueber seine Arbeit gebeugt und
eifrig schreibend. Sie blieb unbeweglich stehen, wie um sich zu sammeln,
und sah unverwandt auf die geliebte Gestalt vor ihr. Wenn er wuesste, wer so
dicht hinter ihm stand! Sie meinte, er muesste ihre Naehe fuehlen, aber
ahnungslos schrieb er weiter. Als er jetzt den Kopf zur Seite wandte, um
in einem Buche nachzuschlagen, konnte sie sein Gesicht sehen, und -
taeuschte sie sich, oder war es wirklich so? - er schien ihr um Jahre
gealtert. Seine Wangen waren blass, die Augen hatten tiefe Schatten, und um
seinen Mund lagerte ein mueder, schmerzlicher Zug.

So sah sie nun ihren Leo wieder, den sie nur kraftvoll und frisch gekannt
hatte. Die Traenen schossen ihr in die Augen, und sie musste an sich halten,
um nicht laut aufzuschluchzen. Jetzt lehnte er sich im Stuhl zurueck, und
sie konnte ihr Bild bemerken, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand; ein
gruener Tannenzweig schmueckte dasselbe. Leise, wie magnetisch angezogen,
schlich sie naeher. Jetzt nahm er das Bild in die Hand und betrachtete es
mit liebevollen Blicken. Den kleinen Zweig, der ihr Gesicht etwas
verdeckte, schob er zurueck, damit er ungehindert in das geliebte Antlitz
schauen konnte. Er dachte ihrer also noch mit tiefer, unwandelbarer Liebe.
Ohne dass sie es wollte, toente sein Name halblaut von ihren Lippen. Das
Bild entfiel seiner Hand, mit einem jaehen Ruck stiess er den Stuhl zurueck
und drehte sich um. Als saehe er einen Geist vor sich, so starrten die
dunklen Augen in dem blassen Gesicht auf Ilse. Sie trat naeher und rief
noch einmal: "Leo."

Da loeste sich der Bann, der ihn befangen hatte.

"Ilse, du - du, bist du es wirklich?" stiess er hervor, und als sie die
Arme nach ihm ausbreitete, zog er sie fest an sich und drueckte ihren Kopf
mit beiden Haenden an sein Herz.

"Vergib mir, Leo!" fluesterte sie unter Traenen.

Statt aller Antwort schloss er ihr den Mund mit leidenschaftlichen Kuessen,
gab ihr die zaertlichsten Schmeichelnamen. Und diesem Manne hatte sie
Misstrauen entgegengebracht, an seiner Liebe hatte sie gezweifelt! In
toerichtem Trotz hatte sie das beste, edelste Herz verkannt. Der Gedanke,
dass er sich haette von ihr wenden koennen, erfuellte sie jetzt noch mit
Schrecken.

Fester schmiegte sie sich an den Geliebten. Sie waren beide nicht faehig,
zu sprechen, stumm hielten sie sich umschlungen und besiegelten innerlich
von neuem den geschlossenen Bund. Sie hatten das Gefuehl, dass sie jetzt fuer
immer zusammengehoerten, dass nichts sie je wieder trennen koennte. Es war
Ilse, als traeumte sie, und sie duerfte sich nicht ruehren, um den schoenen
Traum nicht zu verscheuchen.

Und als sie dann endlich Worte fanden und Hand in Hand zusammensassen, da
konnten sie kein Ende finden, bis schliesslich Frau Gontrau kam und
schuechtern fragte, ob das liebe Brautpaar noch nicht bald erscheinen
wolle.

                                  * * *

Der im hellsten Lichte strahlende Tannenbaum beschien am heiligen Abend im
Macketschen Hause lauter frohe, vergnuegte Gesichter. Es ging ein Knistern
durch die Zweige und die Wachskerzen flackerten so lustig, wie wenn der
Baum selbst damit auch seiner Freude Ausdruck geben wollte.

Frau Anne hatte den Kleinen auf dem Arm, welcher jauchzend seine beiden
Haendchen nach dem Lichterbaum ausstreckte. Herr Macket stand daneben und
neckte seinen Jungen, denn er war ganz uebermuetig heute. Das Kind musste
alle seine Kunststueckchen zeigen, so dass Gontraus ganz entzueckt waren von
dem reizenden kleinen Kerl.

"Jetzt muss aber mein Schatz zu Bett gehen," entschied endlich Frau Anne,
welche bemerkte, dass die Lebhaftigkeit des Kindes durch den Beifall der
Umstehenden sich immer mehr steigerte. Der muetterliche Befehl schien aber
dem kleinen Mann durchaus nicht angenehm zu sein, denn er zog ein
Schueppchen und in seinen Mundwinkeln zuckte es verdaechtig. Aber die Mama
machte kurzen Prozess mit ihm.

"Nun gib dein Haendchen und sage gute Nacht," gebot sie energisch.

Er gehorchte und reichte allen die Hand.

"So nun musst du noch Ilse und Onkel Leo gute Nacht sagen." -

Die beiden hatten sich in eine der gruenen Pflanzen-Nischen zurueckgezogen;
aus ihren Augen glaenzte Glueck und Seligkeit. Ilse hatte so viel zu
erzaehlen, wie sie zuerst seiner nur im Groll gedacht, wie sie aber nach
und nach einsehen gelernt hatte, dass wahre, echte Liebe sich auch zu fuegen
weiss. Und wie reizend Frau Nellie sei, ein wie furchtbares Schicksal die
arme Flora betroffen habe, wie klug und interessant Orla waere, der
gegenueber sie sich immer klein und erbaermlich vorgekommen sei, - das
alles, und noch vieles andre, berichtete sie ihm auf das ausfuehrlichste.

"Schatz, es ist, als haetten wir uns erst heute verlobt, als haetten sich
erst jetzt unsre Herzen fuer immer gefunden," sagte er.

"Fuer immer!" wiederholte sie mit Betonung, und ihre Augen sahen mit dem
Ausdruck der innigsten Liebe zu ihm empor. "Nicht wahr, Leo, du hast nun
alles vergessen und liebst mich noch wie frueher?"

"Mehr als je," gab er ihr zaertlich zur Antwort.

Sie lehnte an seiner Brust, und beide schauten in den flimmernden,
duftenden Tannenbaum. Freundliche Bilder der Zukunft stiegen vor ihnen
auf, sie traeumten sich in ihr eigen Heim, und wie sie am naechsten
Weihnachtsabend sich ihren eigenen Baum anzuenden wuerden!

                                  * * *

Mit duftenden Rosen war der Weg zur Kirche bestreut, den Ilse jetzt im
braeutlichen Gewande am Arm ihres Leo dahinschritt. Wolkenlos woelbte sich
der Junihimmel ueber ihnen, und goldner Sonnenglanz lag ueber der
strahlenden Natur ausgebreitet. Das ganze Dorf war zusammengelaufen, um
sein geliebtes Gutskind im Brautschmuck zu sehen; sie standen zu beiden
Seiten des Weges, und als das Brautpaar in der Kirchentuere verschwunden
war, da stroemten sie hinterher, und die kleine Kirche war im Umsehen
gefuellt.

Ilses Traum war zur Wirklichkeit geworden, nun sollte sie binnen wenigen
Minuten am Altar des Herrn dem geliebten Mann fuer ewig Liebe und Treue
schwoeren.

Durch die offenen Fenster lugte neugierig der helle Sonnenschein, das
leise Rauschen der Baeume und der froehliche Vogelgesang drangen herein,
gerade so, wie sie es Weihnachten im Schlitten getraeumt hatte. Und jetzt
erscholl die Orgel, und die Kinderstimmen setzten ein.

Ilse schmiegte sich dichter an Leo, und mit gesenkten Augen schritt sie
neben ihm dem Altar zu, der mit Pflanzen und Blumen festlich geschmueckt
war. Da standen die Eltern, die Freunde und Verwandten. Orlas schoenes
Antlitz lachte ihr entgegen, Andres neigte gruessend das Haupt, und Nellie,
die liebe, einzige, blickte wie verklaert zu ihr herueber. Der Papa streckte
ihr geruehrt seine Hand entgegen, und Frau Anne laechelte ihr unter Traenen
zu. So viel Liebe, so viel Freundschaft sah sie in allen Augen leuchten,
dass sie in ueberwallender Seligkeit zu dem Manne aufsah, welchem sie nun
angehoerte fuer alle Zeit.

Die Orgel und der Gesang verstummten. "Die Liebe hoeret nimmer auf," so
begann der alte wuerdige Pastor seine Rede. Er hatte Ilse getauft und
konfirmiert, nun stand sie als junge Frau vor ihm, und er sollte ihr
seinen Segen geben. Das lebhafteste Interesse, die herrlichste
Freundschaft, gaben ihm warme, tief empfundene Worte ein, seine Rede war
poetisch durchflochten mit den anmutigsten Wendungen.

Herr Macket musste sich einige Male verstohlen ueber die Augen fahren; Frau
Anne hatte ihre Hand in die seine gelegt, auch sie war tief bewegt. Die
Sturm- und Drangperiode des jungen Paares zog noch einmal an ihrem Geiste
vorueber, und erleichtert holte sie Atem, dass sie gluecklich ueberwunden war
und die beiden zusammen dort am Altar standen. Eben fiel ein breiter
Sonnenstrahl schraeg durch das Fenster ueber die einfach weiss getuenchte
Wand, gerade auf das frische Myrtengruen in Ilses lockigem Haar und
beleuchtete den weissen Schleier, der lang bis auf die kostbare
Atlasschleppe herabfiel, dass er wie aus Duft gewoben erschien. Wie
liebreizend sah die junge Braut aus! Voll Stolz und Glueck blickte Frau
Anne auf das schoene Paar, und der Gedanke, dass heute die geliebte Tochter
fuer immer aus dem Elternhaus schied, war der einzige Wermutstropfen in dem
Kelch der Freude. -

In lustigster Stimmung, scherzend und lachend sassen die Hochzeitsgaeste
noch an der geschmueckten Tafel, als Ilse sich bereits fortgeschlichen
hatte, um das Brautgewand mit dem Reisekleid zu vertauschen. Sie stand in
ihrem Maedchenstuebchen am offenen Fenster, und ihre Blicke schweiften ueber
den bluehenden Garten, die gruenen Felder und den noch fruehlingsfrischen
Wald, bis zu den fernen Huegeln, welche die scheidende Sonne vergoldete.
Die abendliche Stille in der Natur nach den vielen Aufregungen des Tages
tat ihr so wohl! Sie lehnte sich weit hinaus und sog in vollen Zuegen die
erquickende Luft ein.

Das unbeschreibliche Gefuehl der Seligkeit, des hoechsten Glueckes, welches
ihr den heutigen Tag zu dem schoensten ihres Lebens machte, musste jetzt vor
dem Gedanken an den Abschied zurueckweichen. Sie wusste ja, wie schwer dem
Papa die Trennung falle, wie sich Frau Anne nach ihr sehnen wuerde.
Mehrmals musste sie das Tuch an die Augen fuehren, um die hervorquellenden
Traenen zu trocknen. Aber Leo sollte sie so nicht sehen, sie war ja
gluecklich und folgte ihm gern. Das ernste, heilige Gefuehl, dass sie nun
sein Weib sei, und, wie der gute alte Pastor gesagt hatte, "nur der Tod
sie schiede", durchschauerte sie, die edelsten, besten Vorsaetze und
Empfindungen gab ihr diese stille Stunde ein.

Zwei Arme umschlangen sie ploetzlich, und sich umwendend sah sie in das
Antlitz ihres Mannes. Er hob ihr Kinn in die Hoehe, und als er Traenen in
ihren Augen schimmern sah, zog er sie fester an sich und strich ihr
liebkosend ueber Haar und Wangen. Er war selbst so bewegt, dass er nicht
sprechen konnte, aber die innige Umarmung, in der er sein junges Weib
festhielt, sagte ihr mehr als Worte es vermocht haetten.

"Wir muessen fort mein Lieb," brach Leo endlich das Schweigen, denn der
Wagen war vorgefahren und die Braunen stampften ungeduldig die Erde. Jetzt
drang auch Glaeserklingen und Stimmengewirr zu ihnen herauf, und die Musik
fiel mit einem lauten Tusch ein. Gewiss feierte man nochmals das junge Paar
und trank auf sein Wohl.

Frau Anne kam leise herein und brachte Ilses Hut und Staubmantel.

"Es ist alles fertig," sagte sie, "ihr muesst fort Kinder. Ich will es dem
Papa sagen, nicht wahr?"

Sie sprach anscheinend ruhig, aber ein leises Zittern in ihrer Stimme
verriet doch ihre innere Erregung. Sie wollte hinausgehen, doch Ilse,
hielt sie zurueck und umschlang ihren Hals.

"Liebe, einzige Mama, habe fuer alles, alles Dank, und wenn ich dich oft
kraenkte, verzeihe mir."

"Aber liebes Kind," fiel Frau Anne ein, "alles ist vergessen, wir haben
dich ja so lieb, du bist unsre gute Tochter. Nun darfst du dich aber nicht
aufregen, du musst verstaendig sein, denn der Papa darf dich nicht so sehen,
nicht wahr, liebes Herz?"

"Komm Schatz, komm," draengte Leo, den ein verstaendnisvoller Blick von Frau
Anne dazu trieb, den Abschied moeglichst zu verkuerzen. Sie liess die beiden
allein und ging in den Saal zurueck, wo sie ihrem Mann verstohlen
zufluesterte, dass der Wagen vor der Tuere stehe. Das heitere Laecheln
verschwand von seinem Gesicht und er stand sofort auf.

Das Koepfchen seiner Ilse mit dem grauen Reisehut nickte ihm schon aus dem
Wagenfenster zu, als er aus der Haustuere trat. Er stieg zu ihr ein und
hielt sein Kind lange in den Armen. Dabei presste er ihren Kopf fest an
sein Herz, denn sie sollte die Traenen nicht sehen, die ihm ueber die Wangen
rollten. Krischan, der in seiner neuen Livree steif und gerade auf dem
Bock sass, sah mit ungeduldigen Blicken bald auf die Uhr, bald von seinem
hohen Sitz herab auf den Wagenschlag, und schliesslich wandte er sich an
Frau Macket mit den Worten:

"Nu is es aber die hoechste Zeit, sonst verfehlt das Freilein und der junge
Herr am Ende den Zug."

Er konnte sich noch nicht entschliessen, von der "Frau Assessor" zu
sprechen, fuer ihn war Ilse noch das "Freilein".

Frau Macket zupfte ihren Mann am Aermel. "Sie muessen fort, lieber Richard,"
sagte sie leise.

Er stieg aus, die Tuere flog zu, die Pferde zogen an, und der Wagen rollte
auf der Dorfstrasse dahin, eine Staubwolke aufwirbelnd. Herr und Frau
Macket waren aus der Pforte getreten und sahen ihm nach. Jetzt flatterte
Ilses Taschentuch als Abschiedsgruss noch einmal aus dem Fenster, dann bog
der Wagen um die Ecke und war den Blicken entschwunden.

"Komm, lieber Mann, wir wollen wieder hineingehen," sagte Frau Anne.

"Nun ist sie fort," sprach er halblaut, wie im Traume.

"Sie ist gluecklich," gab Frau Anne zur Antwort.

"Ja, sie ist gluecklich," wiederholte er leise und ein heller Freudenschein
ueberflog sein von der Trennung schmerzlich bewegtes Antlitz. Arm in Arm
gingen die beiden in das Haus zu ihren Gaesten zurueck.

                              [Illustration]


Die jungen Leserinnen, welche die Personen dieser Erzaehlung liebgewonnen
haben, werden gerne erfahren, dass die Fortsetzung dieses Bandes unter dem
Titel "Aus Trotzkopfs Ehe" in gleichen Verlag erschienen ist.






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***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF'S BRAUTZEIT***



                                 CREDITS


August 28, 2011

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"Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project Gutenberg"
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public domain (does not contain a notice indicating that it is posted with
permission of the copyright holder), the work can be copied and
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phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the work, you
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or obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}
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copyright holder found at the beginning of this work.


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work, or any part of this electronic work, without prominently displaying
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work or group of works on different terms than are set forth in this
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Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael Hart, the owner of the
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                                  1.F.1.


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                                  1.F.4.


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           Information about the Mission of Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}


Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} is synonymous with the free distribution of electronic
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obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the
efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks
of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance
they need, is critical to reaching Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}'s goals and ensuring
that the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} collection will remain freely available for
generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation was created to provide a secure and permanent future for
Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} and future generations. To learn more about the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations
can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at
http://www.pglaf.org.


                                Section 3.


   Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation


The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of
Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service.
The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541.
Its 501(c)(3) letter is posted at
http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf. Contributions to the Project
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extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr.
S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
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business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information
can be found at the Foundation's web site and official page at
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For additional contact information:


    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org


                                Section 4.


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